Lust am Lesen
Lust am Schreiben
2) Außenseiter
Von Igor Zobin
Er schaffte es aufzuwachen, ohne durch unnötige Bewegungen auf sich
aufmerksam zu machen und lag im Bett. Er gönnte sich noch ein paar
Minuten Ruhe und hörte den gelangweilt summenden Fliegen im Zimmer zu.
Die Hitze des Tages war spürbar nah, die Schwelle zwischen dem
erträglichen Morgen und der sengenden Hitze des Tages war fast
überschritten. Heute war Sonntag und er hatte nicht viel zu tun. Ruhe
war etwas was er dringend brauchte... Die Fliegen waren nicht das
einzige Geräusch - Mona machte sich daran Frühstück zu machen. Langsam
aber sicher verbreitete sich das Geräusch von heißer Bratpfanne im Haus
und es roch nach Spiegeleiern. Hunger, weit weg von seiner noch
schläfrigen Wahrnehmung, rührte sich in ihm. Die ganze Zeit über hielt
er die Augen geschlossen und bewahrte sich das unerklärliche Gefühl
vier Augen zu besitzen, was er immer beim Aufwachen hatte. Nachdem der
Geruch von Spiegeleiern ihn aus diesem Halbschlaf brachte, löste sich
die Täuschung auf. Mehr Schlaf würde er heute Morgen nicht bekommen,
nicht nur wegen dem fast fertigen Frühstück. Die Sonne stieg höher und
schien gnadenlos durch das Fenster. Wieder zweifelte er daran, dass das
Fenster nicht wie eine Lupe geformt war und wachte endgültig auf.
Nachdem er soweit war, rief Mona, das Frühstück sei fertig. Auf eine
unheimliche Art schaffte sie es immer abzuschätzen, wann er aufwachte.
Jack stand von dem Sofa auf und bog sich nach hinten durch, bis
etwas in seinem Rücken angenehm knackte. Er gähnte und ging in die
Küche. Das Haus war alt aber ordentlich: zwei Stockwerke und ein
Keller, eine große Küche mit allerlei Zeug drin, das er auf Anweisung
von seiner Frau Mona in der nahe gelegenen Stadt gekauft hat. Im
Erdgeschoss war außer der Küche noch ein riesiges Esszimmer (wofür sie
nie Verwendung gefunden haben) und eine Art Eingangshalle, wo sich die
Treppe ins zweite Stock und abwärts in den Keller befand. Im zweiten
Stock waren zwei unbewohnte Kinderzimmer, zwei Badezimmer und ihr
Schlafzimmer. Mit einem riesengroßen Doppelbett, versteht sich. "Ich
will ein Doppelbett haben", - sagte sie damals, - "aber ein gutes.
Nicht so eins, wie wir früher hatten, das Quietschen ging mir auf die
Nerven. Es soll doch ein paar Jahre halten, du weißt schon was ich
meine". Sie bekam ihren Wunsch erfüllt. Denn Geld hatte er. Damals. Das
waren noch Zeiten, voll von Hektik und Rennerei und ungläubiger
Vorfreude. Es war reines Glück, sowohl mit dem Geld, als auch mit dem
Haus. Er hatte es nicht geglaubt, aber Mona hat sofort gesagt dass es
genau die Chance wäre, die man nur einmal im Leben erhält.
Heute war alles ganz anders. Die Zeit verging langsamer, gemütlicher.
Kein Stress, kein sinnloses Hinundherrennen. Er musste nicht mehr um
sieben aufstehen, um dann den Zug in die Stadt zu nehmen und seinem
rauchspeienden Chef entgegentreten, der mit seiner unveränderlichen,
gigantischen Zigarre in dem Mundwinkel Anweisungen nach links und
rechts verteilte. Mona musste nicht mehr auf die Kinder der Nachbarn
aufpassen und musste sich nicht die Beschwerden von Ms. Doil anhören,
die ständig vorgab, laute Musik aus ihrer kleinen, spartanischen Wohnung
zu hören. Und zwar genau um die Uhrzeit, wo keiner von ihnen zu Hause
war. Ms. Doil war 61, eine alte Jungfer. Jeder im Haus kannte sie. Sie
war es, die die Polizei rief, wenn jemand die Wand mit Graffiti
beschmierte. Sie war es, die den Rasen vor dem Haus pflegte. Sie war
es, die den Plastikmüll in die gelben Mülleimer hineinwarf, welchen sie
vorher aus den normalen Mülleimern herausfischte. Und sie ging davon
aus, dass nur ihr Verhalten richtig war, und dass alle sich danach
richten mussten. Sie ging unter anderem auch davon aus, dass nicht
jeder die Weisheit solchen Vorgehens sofort erkannte und sah sich
verpflichtet, die Menschen auf diesen einzig wahren Pfad zu bringen.
Wenn das beim ersten Mal nicht gelang, gab sie nicht auf und versuchte
es immer wieder. Jack und Mona hatten außergewöhnliches Glück, genau
links von Ms. Doil zu wohnen und genossen ihre besondere
Aufmerksamkeit. Denn Jack achtete nicht besonders auf diese kleinen
Regeln, denen sich die eifrige Ms. voll und ganz verschrieben hat und
musste sich ab und an ihre Bemerkungen über sein Verhalten anhören. Das
war unfair, denn wer passt schon ganz ernsthaft darauf auf, dass der
unbrauchbare, zerquetschte Rest der Zigarette im Mülleimer landet und
nicht auf der Straße? Und wem erscheint die sorgfältige Mülltrennung
nicht als anstrengende und irgendwo auch etwas nutzlose Arbeit? Wer
findet Zeit, den Pflasterweg vor dem Haus zu waschen und wer vertreibt
Kinder, wenn sie auf dem Rasen spielen? Jedenfalls konnte man ohne
lange herumzufackeln sagen, dass Jack mit seinen 29 Jahren auf dem
besten Weg zur Midlife Krisis war.
Bis eines schönen Morgens er in die
Zeitung schaute. Die kostenlose Zeitung, die man so oder so bekam und
die nach Tinte roch und sich auch danach anfühlte. Die Zeitung feuerte
ihre Leser an, Lotto zu spielen und argumentierte mit irgendeinem
komplizierten System. Jack verstand die Einzelheiten nicht, aber so
weit er es behalten hat, ging es darum, dass man gleichzeitig an vielen
Verlosungen und außerdem noch in der Gemeinschaft spielte, was immer es
zu bedeuten hatte. Es wurden Gewinnquoten angeführt, sie alle lagen
knapp unter 100% und die Gewinnquoten für kleinere Preise lagen bei
ganz genau 100%. Es wurde lange darüber geredet, dass diese Lotterie
einmalig war und der Staat nicht noch ein zweites Mal so etwas
Kostspieliges veranstalten würde. Denn die Teilnahme war kostenlos,
angeblich steckte in jeder 100sten Zeitung ein Los von dieser
Wunderlotterie. Jack fand einen und damit fing es an. Er selber war
skeptisch, aber Mona überzeugte ihn, das Los einzuschicken. Sie hatten
schließlich nichts zu verlieren.
Drei lange Wochen folgten. Jack machte den Briefkasten jedes Mal wenn er
daran vorbeiging auf. Wie oft Mona den Briefkasten aufmachte, hat er
sie nicht gefragt, aber er konnte sich denken, dass sie manchmal zur
ihrer Freundin ging, nur um noch zwei Mal an dem Briefkasten vorbei zu
gehen. Ms. Doil nervte noch mehr als früher und einmal hat Jack sie
sogar angeschrien. Rote Ränder bildeten sich um seine Augen und um
die Augen seiner Frau, denn die Nacht reichte nicht mehr aus um zu
schlafen. Jack dachte ernsthaft darüber nach zu kündigen, obwohl er
nicht wusste, was er dann machen sollte. Die Welt schien im Zerbrechen
begriffen, bis eines Tages nicht der alles entscheidende Brief kam.
- Mona, das ist er, der Brief ist da! Der... - Jack stolperte und
fiel hin. Der Brief fiel auf den Boden und glitt, wie durch eine böse
Macht gesteuert, unter das Bett. De nächsten 20 min. verbrachte das
Ehepaar damit, das Bett zur Seite zu schieben. Endlich lag das ersehnte
Stück Papier frei und sie konnten es von Staub befreien.
- Ich nehme ihn, - sagte Mona entschlossen und hob das Kuvert auf, -
du bist zu nervös.
Sie konnte kaum verbergen, dass auch sie nervös war, aber das spielte
keine Rolle. In ein Paar Minuten würden sie es wissen. Das Papier von
dem Kuvert war äußerst hartnäckig und Mona hatte sogar mit ihren langen
Fingernägeln Schwierigkeiten es aufzumachen. Schließlich kam ein großer
Brief auf strahlend weißem Papier ans Licht. Die Zahl 500.000$ war
dort unübersehbar draufgeschrieben. Das Kuvert fiel aus Monas Händen
und ein blauer Scheck flog aus dem Kuvert auf den Boden. Jack schnappte
ihn sich sofort, um zu verhindern, dass er wegflog. Dieser Impuls war
unerklärbar und einen Augenblick lang schämte er sich dafür. Dann
schaute er sich den Scheck an. Sein Name stand in schöner Schrift über
der Zahl 500.000. Im Hintergrund war das "$"-Zeichen zu sehen und unten
rechts war die Zahl wieder aufgedruckt: 500.000$. Fünf lange,
unerträgliche Minuten lang starrten sie die zwei Stücke Papier an. Die
Zeit blieb stehen und kein einziger Gedanke fiel in dieser Zeitspanne.
Jack drehte langsam den Scheck hin und her, entdeckte aber keine Spur
einer Aufschrift die "Kopie", "Muster" oder ähnliches besagte.
- Jack, kommst du? - schrie Mona aus der Küche, - deine Spiegeleier
werden kalt!
- So was lass ich mir nicht zwei Mal sagen, - rief er zurück und
beeilte sich Richtung Küche.
Mona stand mit dem Rücken zu ihm und deckte den Tisch. Der Geruch der
Spiegeleier vermischte sich mit ihrem eigenen und Jack fühlte sich auf
sonderbare Weise glücklich. Nie zuvor konnte er so glücklich sein wie
hier.
***
80 km/h auf einer Landstraße, eng und holprig. Die Straße wurde seit
Jahren nicht mehr gepflegt und war jetzt gerade mal gut genug, dass ein
Auto hier durchkam. 80 km/h waren auf dieser Straße eindeutig zu viel.
Sie waren zu dritt und feuerten den Fahrer an, schneller zu werden.
Jedem von ihnen, dem Fahrer ganz besonders, war klar, dass sie mit
ihrem Leben spielten und niemand dachte auch nur daran, was passieren
könnte, wenn Lois ihre Rufe erhörte und tatsächlich das Gaspedal tiefer
hineindrückte. Sie wurden hin und her geworfen und verschüttelten fast
ihr Bier. Dennoch spürte jeder von ihnen das Gefühl von Abenteuer und
jeder versuchte lauter als der andere zu lachen, zu schreien und zu
prahlen. Denn sie fuhren zu einem Haus von dem die allerschlimmsten
Gerüchte umgingen. Angeblich hätten zwei Verrückte das Haus gekauft
(alleine die Tatsache, dass es in solcher Wildnis noch Immobilien zu
kaufen gab, war fast schon ein schlechter Witz) und lebten jetzt dort.
Viele erzählten, dass es so weit weg von der Stadt nichts zu essen gab
und die Menschen einfach längst verhungert sein mussten. Deshalb
erzählte man sich Geschichten darüber, sie seien zu Untoten geworden,
oder zu Geistern. Viele Geschichtenerzähler stritten sich in diesem
Punkt, aber alle waren sich einig, dass es unmöglich war, draußen ganz
allein zu überleben. Alte Menschen laberten etwas von Anbauen und
davon, dass das Essen nicht immer synthetisiert worden war, aber wer hört
schon auf die alten Knacker. Jedes Kind weiß, dass die Konzentrate in
den Fabriken am Rande der Stadt produziert werden. Wenn sie nicht zu
dem Haus gebracht werden, gibt es keine Möglichkeit zu überleben. Also
fuhren die drei Kerle jetzt zu einem richtigen Geisterhaus, bewohnt von
Zombies oder Untoten oder eben den Geistern. Selbstverständlich hatte
jeder von ihnen ein Gerät der allgemeinen Wissensvermittlung und der
Unterhaltung, die beste Erfindung seit dem Rad, bei sich zu Hause
stehen. Einen Fernseher. Deshalb wussten sie alle, dass es solche
Erscheinungen wie Vampire und Poltergeist, Werwölfe und Untote schon
immer gegeben hat. Für sie war es eine Art Probe, ein Test von ihrem
Mut und keiner wollte schlechter abschneiden, als die anderen zwei. Und
da Lois Pluspunkte bekam, schließlich fuhren sie mit seinem Wagen,
konnten Paul und Clark nicht aufhören zu schreien, zu lachen, zu
prahlen und hastig an den Bierdosen zu nippen, um neuen Mut zu
schöpfen. Das heißt, solange das Haus nicht in Sicht war. Zuerst war
das nur ein Punkt in der Ferne, etwas links von der Straße. Dann wurde
er immer größer und schließlich konnte man erkennen, worum es sich
genau handelte. Lois merkte es als erster.
- Seid ruhig, ihr beiden, - sagte er leise. - Wir sind da.
Nachdem er das gesagt hat, fuhren sie in ein Weizenfeld hinein. Die
Straße wurde noch schlechter, nun gab es keinen Asphalt mehr und Lois
musste heftig abbremsen, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Dabei
wirbelte der alte Wagen eine riesige Staubwolke auf, die man ganz
bestimmt im Haus gesehen haben musste. Alle drei wurden still; Paul und
Clark tranken rasch ihr Bier aus und warfen die Dosen aus dem Fenster.
Um sie herum erstreckte sich ein Feld von bleich gelben Pflanzen, wie
von der Sonne ausgetrocknet. Der lange und trockene Stiel endete mit
vielen kleinen Körnern. So etwas haben sie noch nie gesehen, so was
hässliches eignete sich als Dekoration überhaupt nicht.
- Vielleicht ist es von alleine gewachsen? - meinte Clark schwach.
- Ne, auf gar keinen Fall! Dieses halbtote Grass wächst doch nicht
von alleine. Das ist nur eine Nebenwirkung davon, dass das verdammte
Haus von Scheiß Untoten besetzt ist. - Paul war der Spiritismus-Experte, denn er hat mehr Filme als die anderen gesehen. Clark und Lois
nickten kräftig, um nicht ihr Unwissen zuzugeben. Nachdem das kurze
Gespräch zu Ende war, tauschten sie keine Worte mehr aus und fuhren in
kompletter Stille weiter. Die Weizen bewegten sich am Fenster vorbei.
Sie wurden immer langsamer, ein Weizen, zwei Weizen... Paul starrte das
komische Grass an und wunderte sich, wie es dazu kommen konnte. Er
glaubte zwar an Geister und alles was er im Fernseher sah... Aber hier
war es so still. So friedlich. Gäbe es auch nur eine Regenwolke am
Himmel, könnte er an seine Worte glauben, aber so? Langsam kamen ihm
die Zweifel, dass sich etwas aus dem Jenseits hier aufhalten könnte.
Der Ort war die Ruhe selbst, es regte sich etwas in ihm und für einen
Moment wünschte er sich hier zu bleiben, in das Feld hinein zu gehen
und sich hinzulegen, einfach so auf die Erde. Er stellte sich den
Himmel zwischen den Stielen von diesem gelben Grass vor und ihm gefiel
dieser Ort immer mehr. Nein, es war nicht die Stelle, wo sich böse
Mächte aufhielten. Es war Omas Haus. Nein, natürlich nicht, aber dieser
Ort war wie das Haus, wo seine Oma gelebt hat. Er konnte sich ganz
schlecht an sie erinnern, denn sie starb als er noch 5 Jahre alt war,
aber damals, in einem anderen Leben, hat ihn sein Vater manchmal zu Oma
gefahren und sie verbrachten ein Paar Tage bei ihr. Das Haus der Oma
war viel größer, als ihre Zweizimmerwohnung und hatte irgendwie mehr
Licht. Diese Tage waren immer etwas besonderes für ihn, obwohl er sich
nur selten an sie erinnern konnte.
- Paul? - fragte Clark mit leicht zitternder Stimme.
Paul schreckte
auf.
- Was?!
- Du hast mich nicht gehört, man, diese Scheißpflanzen hypnotisieren
dich! - Clark schrie fast vor schlecht unterdrückter Angst.
- Ach was, - meinte Paul ruhig. - das Schlimme ist, dass wir stehen
geblieben sind. Lois, fahr doch weiter! Lois?
- Na gut, - meinte Lois schließlich verlegen und startete den Motor.
Langsam kamen sie wieder vorwärts.
***
Jack aß seine Spiegeleier zu Ende und gab einen befriedigten Laut von
sich. Mona schien ihn nicht zu bemerken und stand am offenen Fenster.
Der Wind spielte mit ihren langen Haaren und ließ ein paar Mal die
Sonne durch sie hindurchscheinen. Obwohl sie nicht mehr die Jüngste
war, hatte sie noch eine ganz gute Figur und Jack liebte sie. Hier, an
diesem Ort, hätte er sich nicht gewundert, wenn er sie bis zum Schluss
lieben würde, bis zum Tod. Er stand auf und umarmte seine Frau sanft.
Ihr Geruch prickelte ihm in der Nase und er schaute auf die Straße, die
sie so konzentriert betrachtete.
- Was hast du da gesehen? - fragte er schließlich, als sie eine
Minute still blieb.
- Ich glaube, uns kommt jemand besuchen.
- Bist du dir sicher? - er verzog das Gesicht.
- Ja. Ich habe eine Staubwolke gesehen, von ihrem Wagen.
- Mit ihren Abgasen machen sie uns hier die ganze Ernte kaputt.
Mona zuckte nur mit den Achsen und befreite sich von seiner Umarmung.
Sie wusste, dass das nicht stimmte und Jack wusste das auch. Aber sie
wollten hier trotzdem allein bleiben und ihnen beiden gefielen keine
Besucher.
- Mach dich fertig, - sagte sie nur leise und ging raus.
Jetzt konnte Jack die Wolke auch sehen. Der Wagen muss einmal
angehalten haben und dann wieder losgefahren. Die Jungs hatten
offensichtlich Angst und es würde nicht schwer fallen, mit ihnen die
Nummer durchzuziehen. Jack nahm sich den Hut, der an der Tür hing und
ging in den Keller. Dort lag eine uralte Schrotflinte. Eigentlich
gehörte sie ins Museum und als er sie zum ersten Mal gesehen hat,
wollte er sie verkaufen. "Schaff das Ding weg, Jack" - sagte Mona als
er die Schrotflinte nach oben brachte, - "es ist alt, schießt
vielleicht aber noch. Ich will keine Waffen in meinem Haus". Jack
beschloss die Waffe zu behalten, schließlich konnte er hier eh kein
Geld gebrauchen. Es gab einfach niemanden, mit wem er handeln könnte.
Geld war wertlos für ihn geworden, nachdem er den letzten Penny von dem
Hauptgewinn ausgegeben hat. Aber eine Waffe wollte er schon immer haben
und die Schrotflinte schoss wirklich noch. Er hatte etwa dreihundert
Patronen unten im Keller aufgespürt und legte alles in eine Ecke. Das
war die richtige Entscheidung.
Im Dunkeln lud er die Waffe und ging dann langsam die ächzenden Stufen
hoch; in Gedanken plante er bereits alles. Mona zog sich ins Haus
zurück und Jack ging auf die Veranda wo er sich in sein Schaukelstuhl
setzte. Ein altes, massives Ding, was schon einige Generationen
überdauerte und Jack selber überdauern würde. Eine mindestens genauso
alte Decke bedeckte den Stuhl und irgendwie gefiel es Jack. Er könnte
sich vorstellen, dass, wenn er ganz alt wurde, er noch oft die Abende
hier, auf der Veranda verbringen würde. Aber jetzt war noch nicht die
Zeit dafür gekommen, denn er war noch weit davon entfernt den ganzen
Tag im Schaukelstuhl zu sitzen. Außerdem hatte er was vor. Jack stemmte
seine Schrotflinte gegen das Bein und richtete den Lauf schräg nach
oben, so dass er in Richtung Straße zeigte.
Er wartete.
Das Warten war immer am schwierigsten, aber sogar daran konnte man sich
gewöhnen und so fiel es Jack nicht sonderlich schwer darauf zu warten,
bis die Jungs in ihrem alten Wagen auftauchten. Der Fahrer verlor ganz
zum Schluss die Kontrolle und raste fast in das Haus rein. Als das Auto
endlich zum Stillstand kam, haben die Jungs noch ein Paar Sekunden
gebraucht, bis sie ausgestiegen waren. Das erlahmende Geräusch eines
ausgeschalteten Elektromotors erfüllte die Morgenluft. Es waren diesmal
drei. Die kleinste Gruppe, die Jack erlebt hat. Sie hatten alle Angst,
alle. Die einen weniger als die anderen, einige kamen mit fünf oder
sechs Freunden, und wenn 17-19 jährige sich in einer so großen Gruppe
versammeln, ist es schwer ihnen etwas vorzumachen. Ein selbstgemachtes
Grab hinter dem Haus bestätigte es. Doch diesmal würde es leicht
werden, denn sie waren nur zu dritt. Einer war lang und dünn wie ein
Spargel, mit großen Augen die ständig nach einer Gefahr Ausschau
hielten. Der andere war viel kleiner und gehörte offensichtlich zu der
Sorte Verlierer, die sich in keiner Gruppe zurechtfinden und sich
schließlich meistens zu Hause niederlassen, um vor dem Fernseher zu
sitzen und Fast Food en masse zu verschlingen. Der Klügste von allen,
aber heruntergekommen wie die anderen. Nur einer von ihnen war
einigermaßen normal gebaut und hatte diesen gläsernen Blick nicht, den
die Teenager in letzter Zeit fast alle hatten. Er unterschied sich von
seinen Freunden und bemerkte als erster Jack, der im Schatten auf der
Veranda saß. Er schüttelte seine Freunde durch und zeigte energisch mit
dem Finger Richtung Jack. Einen Moment lang überlegte sich Jack, ob er
die Waffe etwas mehr auf sie richten sollte, aber dann blieb er einfach
sitzen. Er wollte nicht zeigen, dass ihm die drei Milchbubis Sorgen
bereiteten. Inzwischen berieten sich die drei ganz heftig, die Köpfe
zusammengedrückt. Manchmal schaute einer von ihnen zu Jack rüber,
merkte, dass er auch beobachtet wurde und steckte seinen Kopf wieder
verängstigt zu seinen Freunden. Einmal schaute ihn der normale Junge
an. Er war tatsächlich anders, als alle die hierher kamen, in dieser
ganzen Zeit. Er war noch nicht vergiftet worden von der
fortschreitenden Zeit, von der Stadt und ihren Abgasen. Sein Blick war
klar, seine Bewegungen fanden nicht in dieser unheimlichen Zeitlupe
statt und er war besser gebaut als die anderen. Vielleicht fand er
sogar Zeit um Sport zu treiben, obwohl Jack bezweifelte, dass
irgendjemand die Sporthallen nutzte, die es in ihrer Stadt gab.
Trotzdem gefiel ihm der Junge sehr. "Wieso?" - dachte er, - "wieso bist
du bei ihnen und nicht hier? Du bist doch nicht wie sie. Du bist genau
wie ich... Was hat dich nur auf die andere Seite gebracht?" Solche
Gedanken waren sinnlos, Jack wusste ganz genau was los war. Die Stadt
starb; der Urbanismus trieb die Menschheit in ihr Verderben und er hat
es durch schieres Glück geschafft, sich aus diesem immer enger werdenden
Todeskreis herauszubringen. Der Junge hatte weniger Glück, oder fand
seins noch nicht. Er erinnerte ihn schmerzlich an sich selber, als er
genauso alt war wie dieser Kerl. Jedenfalls war es reiner Zufall, dass
er überhaupt hier an dieser Stelle sitzen konnte.
Es war Zeit zu handeln.
Jack stand von seinem Schaukelstuhl auf und machte einen Schritt zu der
Gruppe. Sofort hörte die Beratung auf und sie starrten ihn alle
verängstigt an. Nur einer nicht... Jack schien sogar, für einen
Augenblick Verständnis in den Augen des Jungen zu sehen.
- Hallo erst mal, - sagte er kalt und legte die Schrotflinte auf die
Brüstung, auf sie gerichtet, - wer seid ihr. - er sagte es als
Feststellung, nicht als Frage. Er hat bemerkt, dass es nett war, zu
fragen. Es klang viel netter, als wenn man den Menschen die Wörter
einfach entgegen schleuderte, ohne sich Mühe zu geben ihre Bedeutung
irgendwie zu unterstreichen. Die Antwort kam von Paul, genau wie Jack
es erwartete.
- Wir... - er stockte, - wir kommen von der Stadt dort hinten...
Jack nickte kaum merkbar, nahm die Schrotflinte aber nicht weg. Nach
ein paar Augenblicken startete Paul wieder den verzweifelten Versuch
ein Gespräch anzufangen.
- Wir haben gehört... Sachen gehört, über das Haus, - er schluckte, -
über Sie... Dann wollten wir kommen, um zu sehen ob das stimmt. Das...
was wir gehört haben.
Jack nickte wieder leicht und wartete den richtigen Augenblick ab.
Genau in dem Moment, wo Paul Luft holen wollte, sagte er so laut und
ruhig er konnte. - Stimmt es.
Die Jungs wichen einen Schritt zurück. Sie waren am Rande des
Zusammenbruchs und der dünne Lange schaute nervös zum Wagen rüber.
Keiner von ihnen bewegte sich und nach fast einer Minute haben sie die
Bedeutung seiner Worte verstanden. Lois stieß Paul mit dem Ellbogen, er
solle reden.
- Nein. Nein, Sir.
Bei dem Wort "Sir" hat Jack fast die Selbstbeherrschung verloren. Seit
mehr als 10 Jahren hat er das Wort nicht mehr gehört.
- Es gibt hier für euch nichts zu sehen. Fahrt weg.
Sie drehten sich um und liefen kopfüber zu dem Wagen, der Lois als
erster, Clark gleich hinter ihm und Paul rannte als letzter.
- Du kannst bleiben! - warf Jack zum Schluss und nahm die
Schrotflinte von der Brüstung. Bevor er sich umdrehte und ins Haus
ging, konnte er den überraschten und ungläubigen Blick von Paul sehen,
wie er für ein Augenblick sich umgedreht hat und ihn anschaute. Jack
lächelte ihn an und verschwand hinter der Tür.
- Schnell, Paul! Beeil dich Mann, oder wir fahren ohne dich!! - schrie Clark sich die Seele aus dem Leib. Paul drehte sich um und
sprang in den Wagen rein. Lois startete den Motor und das Auto wirbelte
abermals eine Staubwolke auf, drehte sich in einem halsbrecherischen
Manöver um und flog davon.
Die Stadt lebte weiter und verarbeite alles und mahl die Seelen und das
Fleisch und schrie mit Tausenden von Lichtern.
Nachts konnte man das unheimliche Leuchten von der Veranda aus sehen.