Enkembe – Der Junge aus
dem Bairro
© Hansi Hilbrich
Angola 1988. Die Luft war mild und es wehte ein
leichter Wind. Ein kurzer, heftiger Schauer hatte das dürstende
Land erquickt, doch inzwischen beherrschte die unbarmherzige Sonne den
azurblauen Himmel, hier im dunkelsten Winkel der Dritten Welt. Zehn Uhr stand die Sonne nordöstlich
über dem Kopf der schneeweißen Statue von Christo Rei
und ließ die Blüten der violetten Bougainvillea
aufleuchten. In solchen Momenten konnte man die Widrigkeit der staubigen Wege
vergessen. Die Menschen krochen aus ihren armseligen Behausungen,
deren notdürftigen Dächer sich tausendfach auf und nieder wölbten und wie die
Brandung eines Ozeans die Tafelberge umspülten.
Wir
liefen auf halber Distanz zwischen Tafelberg und Stadtzentrum durch ein
unendlich großes, unendlich verwirrendes bairro. Offiziell nannte man diese Ansammlungen der Flüchtlingshütten Bairro, Stadtviertel. Dies hier waren in Wahrheit Slums, wo die Straßen ihre Namen verloren, sich in
Trampelpfade verengten um ganz zu versanden. Hier atmete die Wirklichkeit unter
der Weite des afrikanischen Himmels unheimliche Bedrückung, hier hausten die Ärmsten
der Armen, Menschen ohne Arbeit und ohne Besitz. Ihr fremdes Zuhause war nichts
als vier nackte Lehmwände unter einem Wellblechdach. Sie haben sich aus dem
Staube gemacht, aus Furcht vor Überfällen und vor Zwangsrekrutierungen ihrer
Söhne in die Armee des „schwarzen Hahnes“ Jonas Savimbi. Hier im Staub der
Stadt fühlten sie sich sicherer, versorgt und behütet waren sie nicht. Lubango war für zwanzig-, vielleicht auch dreißigtausend
Menschen ausgerichtet. Jetzt warteten hier Hunderttausend auf das Ende des
längsten und mörderischsten Krieges auf diesem Kontinent. Es war später
Vormittag. Durch diese Gebiete zu gehen war uns verboten, es sei zu gefährlich,
zu unübersichtlich. Das konnte jeder, der sich einmal da drinnen verirrt hatte,
guten Gewissens bestätigen. Wir liefen auf einem Damm entlang, von dem man über
die Umfriedungen in die Hütten der Hoffnungslosen blicken konnte. Die Mauern
aus Lehm und Gras, das notdürftige Dach aus Wellblech. Aus allen Höfen dröhnte
das dumpfe Schlagen der Stampfstöcke in den Getreidemörsern. Über den Feuerstellen
aus aufgeschichteten Steinen lagen die verkohlten Enden ungeschnittenen
Brennholzes. Äxte oder Sägen besaß hier keiner.
Die
Höfe waren sauber gefegt, die Berge von Müll und stinkendem Unrat türmten sich
einpaar Schritte entfernt an den Wegen. Magere, von nächtlichen Kämpfen zerschundene Hunde, Hühner und sogar Ziegen liefen frei
herum und wühlten im Abfall nach Brauchbarem. Je näher man der Stadt kam, sah
man kleine Gartenflecken zwischen den der Hütten. Hier wie dort war die Zeit zu
leben kurz bemessen worden, das erhoffte Ende schon lange verstrichen. Eine
kleine Menschenansammlung zwang uns, einen Bogen zu schlagen. Da wo der Weg in
einen kleinen Platz auslief, saßen einpaar Männer in ein Steinchenspiel
vertieft. Schaulustige in ärmlichen Kleidern und splitternackte Kinder standen
dabei. Ein verkrüppelter Junge mit dem Körper eines ausgehungerten Gerippes
schaukelte, auf seine übergroßen Hände gestützt, über den festgestampften,
rostroten Boden. Die nackten Beine zum ewigen Schneidersitz verschränkt
schimmerten wie Elfenbein, hell und knöchern.
Das
Muster der hingeworfenen Steine hatte einen der mürrischen Alten in Trance
versetzt. Seinem Mund entwichen unheimliche Worte, von der Welt entrückt
deutete er auf den Krüppel. Wir liefen eiligst in angemessener Entfernung
vorbei, in der Hoffnung, nicht unfreiwillige Zeugen ritueller Gewalt zu werden.
Es kam schon vor, dass diese selbsternannten Weisen in den vom Schicksal
geplagten Wesen die Ursache irgendeines Unheils erkannten und sie dafür
kollektiv bestraften.
Vor
einer Hütte, die über zwei Türen verfügte und einen Stall für das Vieh, saßen
einpaar Halbwüchsige über Schnitzarbeiten gebeugt. Einer sprang auf und winkte
uns heran in der Hoffnung, etwas verkaufen zu können. Ein anderer Junge
schnitzte ein Krokodil. Den Boss der Schnitzer in seinem Nacken wissend, redete
mein Mann Arne trotzdem mit dem Jungen und der schien deswegen sehr stolz zu
sein. Seine Augen blitzten noch weiß, wo das Weiß hingehörte, weil das giftige
Gebräu des gujome seine Leber noch nicht zerfressen hatte.
Er
habe noch nie ein Krokodil gesehen, lächelte sein kindlich samtener Mund. Er
arbeite nach, was sein Boss gearbeitet habe, als der noch ein zé-ninguém war.
Der
Junge sprach auch mit seinen Händen, die flink und geschickt zu hantieren
gewohnt waren. Seinem Mund entschlüpften viele Laute, die fremd klangen. Wir
verstanden ihn dennoch. Krokodile, so meinte er, lebten im Wasser. Hier aber
gäbe es kaum Wasser. Ich zeigte auf ein Nashorn, das mit schwarzer Wichse poliert auf einem Holzklotz stand.
„Nao
conheces tamben?“, fragte ich im
portugiesischen Kauderwelsch. Doch das störte diese Menschen nicht.
Portugiesisch war ja auch nicht ihre Sprache. Eindringlinge hatten sie ihren
Vätern, Großvätern und Urgroßvätern auferlegt. Unter sich sprachen sie die
Sprache ihrer Väter. Keiner von uns kannte sich aus mit den Volksstämmen und
deren Sprachen, aber mehr als irgendwo sonst auf der Welt spürten wir hier das
großherzige Bemühen zu akzeptieren, wie ein jeder in der Lage war, sich verständlich
zu machen.
Der
Kopf des Jungen huschte hastig hin und her. Nein, er habe auch noch nie ein
Nashorn gesehen. Sein Boss saß unbeweglich auf einem Holzklotz im Schatten und
rauchte, die Beine weit auseinandergestellt, die Ellebogen auf die Schenkel
gestützt, seinen Oberkörper nach vorne gebeugt. Arne ging zu ihm, kaufte das
Nashorn und versprach, später auch das Krokodil zu holen, wenn es fertig sei.
Dem Jungen steckte er heimlich einpaar Bonbons zu, in der Hoffnung, sie würden
ihm bleiben. Ein einziges Bonbon hatte den gleichen Schwarzmarkt-Preis wie ein
Stangenbrot aus dem staatlichen Handel. Die Augen des Jungen begannen zu
glühen, unruhig scharrten seine Füße im Staub, doch er beugte sich tief über
das Krokodil aus hellem Holz und schnitzte weiter.
„Ob der Junge sie behalten darf“, bangte ich,
als hätte ich je im Leben gewusst, wohin unsere Gelder flossen. Immer hatten
wir gehofft, sie mögen die Bedürftigen erreichen. Ohne diese Hoffnung, ohne das
Vertrauen in die Instanzen funktioniert keine Solidarität.
Schon
bald hörten wir ein Schnaufen dicht hinter uns.
„Amigo,
obrigado! Amigo!“ Der Junge war uns gefolgt, in
seiner Hand glitzerte es bunt. Er lachte breit und deutete auf eine armselige
Hütte kurz am Ende des holprigen Weges.
„A
minha casa.“
Er
lehnte seinen Körper gegen den Stacheldraht-Pfosten und schob ihn einen Spalt
breit zurück. Geschmeidig wie eine Katze wand er sich hindurch und lief zu den
Frauen, die vor der Hütte mit wuchtigen Schlägen Maismehl oder Hirse stampften.
Die jüngere, hochschwangere Frau im zerfetzten Kittel trug ein Kleinkind auf
den Rücken gebunden, dem das ständige Auf und Ab das Wiegenlied ersetzte. Die
Frauen blickten ernst, das Gesicht der alten Frau sah runzelig und matt aus.
Wortlos nahm sie entgegen, was der Junge ihr reichte und trug es in die Hütte.
Einen Vater sahen wir nicht. Es dauerte nicht lange, bis der Junge sich wieder
durch den Drahtzaun zwängte und seine dunkle, von Schwielen durchfurchte Hand
auf den Arm meines Mannes legte. Ich konnte meinen Blick nicht lösen von dem
Anblick der Kinderhand, die sich so deutlich von der Haut des weißen Mannes
abhob, der in den Augen des Jungen ein reicher Mann zu sein schien.
„Eu
Enkembe“, sagte er mit strahlenden Augen, die scheu
zu den Frauen hinüberblitzten, deren dumpfes Schlagen mit den Stöcken erneut
den erbarmungslosen Takt ihres Lebens bestimmte. Der Junge blieb bei uns
stehen. Er schien ruhig, nur die nackten Füße, die bis zu den Knien mit hellem
Staub bedeckt waren, scharrten unruhig im Staub. Arne strich dem Kind über das
krause Haar, das hart und knotig aussah, aber nicht schmutzig und nicht
verfilzt.
„Eu
Arne, deste Maxi, a minha esposa“, sagte er, um irgendetwas zu erwidern, doch
dann fragte er, ob ihm die Bonbons nicht schmecken würden. Enkembe
zog die Schultern bis zu den Ohren und er erklärte, er habe nicht das Recht,
darüber zu entscheiden. Er wies mit dem Kopf in die Richtung, wo sich die
Männer dem Stumpfsinn hingaben, während den Frauen die Last der harten Arbeit
blieb. Dieses weibliche Fügen in die Tradition machte mich ebenso betroffen wie
das ganze Elend ringsum. Zuerst hatte ich gedacht, dass diese unerträgliche
Wirklichkeit ein Traum sein müsse, man wische sich die Augen und sehe wieder
klar. Wenn ich nachts darüber nachgedacht hatte, war mir unsere Anwesenheit in
diesem Land so sinnlos erschienen. Wenn ich aber bei Tage meine Augen mit dem
Elend quälte, dann schien alles wieder so wichtig und so zwingend. Das Elend zu
sehen und sich einzubilden, nicht helfen zu können, war Selbstbetrug.
Einpaar Tage später
zog es mich wieder dorthin. Mir fiel nichts Besseres ein, als vorzugeben, nach
den Schnitzarbeiten im bairro sehen zu wollen.
Nachdem ich im
Durcheinander von Trampelpfaden und Hütten beinahe die Orientierung verloren
hätte, quälte der trocken-muffige Geruch eines Abfallberges meine Nase. Hier
war die Stelle, an der ich in Richtung Damm abzubiegen hatte, um jene Hütte zu
finden, nach der ich suchte. Hinter dem Müllberg saßen Kinder, wühlten im Unrat
nach Essbarem und starrten mich mit
großen Augen an. Sie reckten mir ihre flachen Hände entgegen und ich war
sicher, bis zu meinem Ziel eine kleine Eskorte hinter mir her zu ziehen. Ich
war diesen Weg noch nicht oft gegangen, um so viele Kinder zu bemerken. Der
Schlafende weiß von nichts. Nur wer sich auf den Tag einlässt, dem öffnen sich die Augen.
Es gab hier kaum
zwanzig Meter Weg, auf dem kein Unrat lag, kaum ein Gebüsch, aus dem nicht die
Exkremente gen Himmel stanken. Nur um die Opuntien
schwirrten die Schmeißfliegen nicht in Scharen herum, obwohl gerade diese
bombastischen Gebüsche den Bairro-Bewohnern als
Latrine dienten. Die Natur weiß sich offenbar besser zu helfen, als der Mensch
dem Menschen.
Je näher ich der
Hütte in der dritten Reihe kam, desto sicherer war ich, dass meine Knie
zitterten. Ich vermisste den Widerhall der Mörser. Mein Herz raste in dem Maße,
wie der löchrige Zaun mehr und mehr ein neues Elend preisgab.
Diesmal waren
auch zwei Männer auf dem staubigen Hof anwesend. Sie knieten auf der blanken
Erde vor der Hütte und zimmerten notdürftig einen kleine Kiste zusammen, keine
sechzig Zentimeter lang. In der Tür lehnte abgemagert und mit fadem Gesicht
jene Frau, die vor einigen Tagen mit schwangerem Leib Hirse gestampft hatte.
Mein Schmerz bekam einen Sinn. Diese Kiste, für die der Vater sich heute einmal
Zeit nahm, sollte das tote Baby aufnehmen, das keine Chance hatte, in dieser
Welt zu überleben.
„Es war der Hunger“, murmelte ich fest davon
überzeugt, er sei auch in diesem Land die Todesursache Nummer eins. Ich hielt
beide Hände vor den erschrockenen Mund und schalt mich, nicht an Essbares
gedacht zu haben. Ob es der Krieg war, der den Hunger brachte, bezweifelte ich.
Für Politiker war der Krieg der Vater aller Rechtfertigungen.
Im hinteren
Winkel des Hofes, wo die Sonne ein helles Dreieck in den Sand malte, sah ich
die Kinder der Familie. Sie hockten beieinander mit großen, ängstlichen Augen
und sprachen kein Wort. Auf den ersten Blick waren es ganz normale Kinder,
zerzauste Wuschelköpfe, verschmierte Münder, gelb-verkrustete
Nasen und ebensolche Krümel in den Augenwinkeln. Man konnte sicher sein, sie
waren nicht an diesem Morgen so schmutzig geworden. Vom einzigen Bach, der
durch diese Stadt floss, war ich soeben gekommen, zwei, drei Kilometer
westlich. Neben der Hauptstraße floss er durch alle bairros
dieser Stadt. Wie sollte er da sauber bleiben. Das Auffälligste an den Kindern
aber waren ihre runden Bäuche, die sie wohlgenährt erscheinen ließen, wüsste
man nicht um die Folgen der Unterernährung. Nur Enkembe
hatte keinen so aufgedunsenen Bauch. Er hatte mich bemerkt, rührte sich jedoch
nicht vom Fleck. Einwenig beklommen winkte ich ihn zu
mir, nur mit den Augen und einem leichten Lächeln. Schon kam er angeflitzt. In
meiner Tasche zusammengeknüllt steckte ein Ringelpullover, den ich eigens für
den Jungen mitgenommen hatte und der mir den ganzen Weg über eigenartig auf der
Seele brannte. Ich zog ihn erst aus der Tasche, als Enkembe
vor mir stand. So wie ich ihn an den Körper des Jungen hielt, ging der
ängstlich einen Schritt zur Seite. Es schien, als erinnere er sich in diesem
Moment an Arnes Worte über das Krokodil und gab mir zu verstehen, dass er nicht
zu tauschen berechtigt sei.
„Eu nào queria trocar“,
sagte ich wahrheitsgemäß. Die traurige Szenerie hatte mich zögern lassen, mein
Vorhaben auszuführen. Zwar schien der Junge sich zu wundern, sein Blick aber
senkte sich traurig. Sanft, beinahe ehrfürchtig berührten seine zerschundenen Hände das weiche Material, das ich ihm mit
Nachdruck über die Schultern legte.
„Para ti.“
„Para mi?“ flüsterte er fragend.
Dabei kullerten Tränen über die dunklen Wangen, die lange in ihm gebrannt
hatten. In meinen Augen waren es Freudentränen gewesen. Die Trauer seiner
Familie war ja hinter dem Zaun. Ich lächelte und schluckte schwer an dem Kloß,
der meine Kehle blockierte. Ich drängte, er solle ihn überstreifen. Enkembe zögerte und warf seine Blicke um sich, doch niemand
befahl ihm, es nicht zu tun. Noch härter ballte sich der Kloß in meinem Hals
zusammen. Ich würgte schwer.
„So para ti“, beschwor ich ihn. Es
sei ein Geschenk nur für ihn und das könne ihm keiner nehmen. Der Junge blickte
auf, blinzelte mit einem lachenden Auge zu mir auf und schlüpfte hastig, mit
viel zu steifen Gliedern, durch die Ärmel.
Ich merkte
schnell, dass sich hinter Enkembes wachem Blick etwas
ganz Besonderes verbarg, etwas, das in diesem Umfeld nicht ans Tageslicht
drängen durfte, wohl aber im Verborgenen loderte, genau so, wie es in meiner
eigenen, überaus armen Kindheit gewesen war. Dieser Junge würde wie ich, sich
von seinem widrigen Leben nicht unterkriegen lassen.
Seit jenem Tage,
als ich den Glanz in Enkembes Augen gesehen hatte,
wuchs ein Gefühl in mir, das ich nicht beschreiben konnte. Ich hatte dem Elend
in seine Seele gesehen, und wusste, ich gehörte nicht zu denen, deren Tat im
Heldentaumel ertrinkt. Jetzt überwog dieses Gefühl. Ich beherrschte es nicht
mehr.
Von jetzt an
lief ich regelmäßig in das verbotene Gebiet. Ich wollte nicht akzeptieren,
unsere Arbeit nur dort zu leisten, wo sie öffentlich zur Kenntnis genommen
wurde. Ich betrog mich selbst: Es könne nicht sein, dass niemand von uns es
wagte, ins bairro zu gehen. Sie würden es alle
tun, heimlich und stolz, bloß dass keiner dem anderen etwas verrate. Ein bairro sei kein praca.
Was sollte einem schon passieren. Freilich, der Besuch eines praca war gefährlich. Wenn es ums nackte Überleben
geht, wird gefeilscht und geneppt, und hier im Hinterhof der Welt ging es dabei
hitzig zu.
Jenseits der
Steinhäuser musste ich einen tiefen, zum Glück trockenen Graben durchschreiten,
von dem nicht klar war, ob er zufällig oder absichtlich hier verlief.
Wenn Menschen
keine Lösung für ihre Probleme finden, ziehen sie eine Grenze. Wer kannte das
besser als wir Deutschen. Eigentlich ging es mir gut. Ausgezeichnet ging es
mir. Die Luft roch nach dem Regen erquicklich. Von den großen Tulpenbäumen am
Straßenrand triefte das letzte Nass. Zu Hause würde es vielleicht gerade
schneien.
Der Weg schien
steiler zu werden, die Erde staubiger, mein Bündel schwerer und unbequem. Je
stärker mein Herz vor Aufregung schlug, je härter es gegen die Innenwand
prallte, desto schneller wurden meine Schritte.
An der Hütte
angekommen, spähte ich durch den mit feuchten Kleidungsstücken behängten Zaun.
Also hatte man Wasser geholt, dachte ich, oder man sei an einem Waschplatz
gewesen. An einem solchen Platz hatte ich einmal gesehen, wie noch ziemlich kleine Mädchen mit schweren
Kiepen voller nasser Wäsche auf ihren Köpfen kerzengerade den Weg nach Hause
schritten. Manchmal trugen sie ein Geschwisterkind auf dem Rücken, während die
kräftigen Jungen nur herumtollten und sich nicht um die geringste Pflicht
scherten. Enkembe sei einer, der sich um die Pflicht
schere, er arbeite für die Familie, dachte ich. Stolz, auf einen Jungen nach meinen
Vorstellungen getroffen zu sein, hofften meine Augen, den bunten Ringelpullover
zu entdecken. Doch Enkembe war nicht da.
Die beiden
Frauen saßen da, ihre staubigen Füße weit ausgestreckt. Sie waren damit
beschäftigt, Mais zu puhlen. Die Kleinen saßen
daneben auf einer Matte und knabberten an den rohen, entkernten Kolben herum.
Es sei gut so, wenigstens Mais sei da und er sei nahrhaft, beruhigte ich mich.
Der kleine Leichnam ihres Bruders würde bereits auf dem Friedhof liegen, die
Tradition verlangte es so. Nur eine Nacht besingt man den Abschied in einer komba, dann müssen die sterblichen Überreste der
Erde übergeben sein. Physisch beim Geburtsvorgang gestorben, so haben ihn
dennoch jene auf dem Gewissen, die diese Lage herbeigeführt hatten. Das Bündel
hatte sich gelockert und war unhandlich geworden. Ich hob es über den Zaun und
winkte den Frauen zu. Ihre Gesichter verfolgten mich und ignorierten mich
zugleich.
„Onde e Enkembe?“ rief ich zu
ihnen hinüber, doch man antwortete mir nicht.
„Tenho uma prenda,
senhora“, versuchte ich es noch einmal. Wieder
nichts. Es war nicht auszumachen, ob sie mich verstanden.
Mein
Portugiesisch ist miserabel, ärgerte ich mich. Vielleicht aber würden sie nicht
einmal gutes Portugiesisch verstehen. Ich versuchte es noch einmal, aber die
Frauen reagierten nicht. Ich ließ nicht locker, versuchte sogar mit einem
Bonbon eines der Kinder an den Zaun zu locken, bis ich mutig die Barriere
zwischen ihnen und mir überschritt. Das Stacheldraht-Tor war nicht arretiert.
Abrupt ließen die Frauen von ihrer Arbeit. Die Alte lehnte ihren taumelnden
Körper zurück, als müsse sie die Situation kontrollieren, bis sie an das
abgestellte Türblech stieß. Ein dumpfer Schlag zerschellte am Wellblech und
schickte sein Zittern bis in die Herzkammer einer widerspenstigen Weißen, die
gegen die Regeln der Sicherheit verstieß. Ich legte das Bündel in den Staub und
wartete. Die junge Frau, Enkembes Mutter wie ich
glaubte, sah wieder einwenig kräftiger aus. Die alte stand auf mit müdem
Gesicht und krummem Rücken, als hätte
sie kein Fünkchen Energie in ihren ledernen Armen. Nach einem kurzen Gewisper
zwischen den beiden packte sie mit erstaunlicher Kraft nach meinem Bündel und
riss es auf. Aus ihren Augen, fad und gelb wie die Wände der Hütte, kam ein
warmer Glanz. Sie zürnten mir nicht, weil ich eingedrungen war in ihr Hoheitsgebiet. Ungebeten. Sie dankte
auch nicht, noch nicht. Jetzt wäre die Zeit gewesen, wieder zu gehen. Ich blieb
noch. Ich hatte den halben Tag lang auf diese Minute gewartet. Der Zwang des
Augenblickes und die Hoffnung, Enkembe zu sehen, ließ
mich verharren. Um meine Lippen zuckte ein enttäuschtes Lächeln: Nun
überschlagt euch nicht gleich vor lauter Freude. Zu viele Worte des Dankes
machen die Zunge wund!
Meine eigene,
ärmliche Kindheit schlich sich für einen Moment bei mir ein. Almosen, die
jemand erübrigt hatte, oder Spenden, die von der Kirche verteilt worden waren,
quittierten wir damals mit eben dieser Beschämtheit, wie ich sie in diesem
Moment nicht verstehen wollte.
„Obrigad“, sagte die Alte ganz unvermittelt. Ihre Stimmte
schleifte, trocken, abgehackt. Aus ihren schnalzenden Tönen hörte ich „camiso …“ und „Enkembe“
heraus und reimte mir zusammen, sie bedanke sich auch für Enkembes
Pullover. Ihr Nuscheln war schwer zu verstehen, die Freude über die kleine
Geste indes erleichterte.
„De nada“, sagte ich, und gab ihr zu verstehen, dass ich es
gerne für ihren fleißigen Enkel getan habe. Ihre trüben Augen blitzten
bedenklich.
„Enkembe? O meu filho.“
Ich erschrak und
sie musste es bemerkt haben. So hastig, wie sie sich mir zugewandt hatte,
kehrte sie mir nun den Rücken und ging ohne mich noch eines Blickes zu würdigen
an ihre Arbeit zurück. Sie war also seine Mutter, und jene Frau, die ich als
seine Mutter betrachtet hatte, war seine große Schwester.
Enkembe sah ich an
diesem Tage nicht und auch später nur selten. Die Armut konnte ich mit meinen
heimlichen, zu kleinen Ritualen erhobenen Gängen ins bairro nicht bekämpfen. Aber die Erwartung, die
sich langsam in den Augen der Frauen zeigte und die Freude der Kinder, wenn ich
am Zaun erschien, waren Motivation genug. Alles, was sie bis dahin einer weißen
Frau entgegenbringen konnten, war Skepsis, war Angst. Die Scham, die hinter
ihren Gebaren steckte, missdeutete ich in meiner selbstgefälligen Erwartung von
Dankbarkeit als Ablehnung. Enkembes Mutter hatte
zuerst sehr böse Blicke versprüht, wenn
ich am Zaun erschien. Dann aber war sie die Erste gewesen, die ihre Lippen
öffnete und ihren Namen nannte. Ihr Herz verriet mir mehr als ihre Lippen
unsägliche Dankbarkeit. Sie heiße Ntumba und sei vom
Lande, noch nicht alt aber sehr … sie sagte ein Wort, dass ich nur mit „müde“
übersetzen konnte. Die Zeit sei nicht mehr dieselbe, der Krieg habe ihnen alles
genommen. Was er ihnen gebe sei nichts als Hunger und Mattigkeit. Die Leute
haben nichts mehr. Nichts. Dann war sie mit viel Feuchte in ihren gelblichen
Augen zum Haus gelaufen, stolpernd, hastiger als sie ihre müden Beine heben
konnte. Zurück blieb nur der verzerrte Schrei, die schnalzende Erinnerung für
mich: „Ntumba“
Im gleichen Maße, wie ich meine Samariterrolle ob
ihrer Heimlichkeit hasste, war ich von Gewissensnot geplagt. Nicht sosehr, weil
man nicht über die Mittel verfügte, die nötig wären, sondern weil man nicht
wusste, was wirklich sinnvoll war. Inzwischen mutiger geworden lief ich nun
keine Umwege mehr, sondern auf direktem Weg ins bairro. Unweit der Hütte, die ich im Stillen noch immer Enkembes
Hütte nannte, stoppte ein Tumult meinen raschen Schritt. Die Schreie, die nicht
von reiner Freude kündeten, kamen von eben dort. Ich predigte in mein
erstarrtes Inneres: Dieser Moment ist nicht der richtige. Kehre um! Wann aber
war der richtige Moment? Nur noch einpaar Schritte bis ich durch den löchrigen
Zaun in den kleinen staubigen Hof blicken konnte, den das Getöse von zitterndem
Wellblech und keifenden Schreien erschütterte. Ich sah, wie Mbele,
der jüngere der Männer, mit aller Kraft den Stampfstock schwang. Er schlug
damit hinter Esmeralda her, die kreischend den schützenden Stamm des Baumes
erreicht hatte, der die Mitte des Platzes in friedlichen Schatten tauchte, der
einzige Reichtum, den dieser Ort vorzuweisen hatte. Ein gezielter Hieb traf den
Baum und ließ das kostbare Stampfholz splittern und die Baumrinde bersten.
Schon der nächste Hieb traf die Frau am Arm, ein dritter und vierter streckte
sie zu Boden. Die Kinder schrieen, doch es klang gedämpft, irgendwie weit weg.
An der Hütte in der Morgensonne lehnte der Alte, an seiner Seite Enkembe. Ungerührt schauten die Beiden dem wütenden Treiben
zu. Kaum, dass Esmeralda am Boden lag, kam Ntumba mit
erhobenen Armen aus der Hütte gestürzt. Ohne ihre eigenen Schrammen und Kratzer
zu beachten, die man ihr zugefügt hatte, lief sie wankenden Schrittes zu ihrer
Tochter. Ein heftiger Tritt hielt Ntumba von ihrem
Vorhaben ab, ließ sie taumeln. Es war Enkembe
gewesen. Die Augen seines Vaters hatten
befohlen, Ntumba daran zu hindern, Mbele Einhalt zu gebieten.
Esmeralda war nicht wirklich bewusstlos gewesen,
die Wucht des Schlages hatte sie nieder gestreckt. Den wütenden Mann hinter
sich wissend, kämpfte sie sich mühsam empor, schwierig, das Gleichgewicht zu
finden. Ihr linkes Auge war blutverklebt. Sie tastete nach der Platzwunde auf
der Stirn und drückte den schmutzverkrusteten Handballen fest auf die Stelle,
von der das Blut dunkel über die Schläfe rann. Mühsam stemmte sie den
Oberkörper aufrecht und schob sich auf Knien näher zum Baum. Mit verkniffenen
Lippen arbeitete sie sich weiter den Baumstamm empor, fand etwas Halt und zog
sich in die Höhe, immer auf der Hut vor neuen Schlägen. Sie taumelte, klammerte
sich wieder fest. Jetzt erst fand sie die Kraft, erneut zu schreien. Ntumba hatte inzwischen einen Schlegel zur Hand.
Vergeblich. Ihr Mann Oscare war schneller gewesen. Der Wüterich Mbele ließ sich auf einem Holzpflock nieder und stützte
seinen Kopf in beide Hände, wie ein friedlicher Krauskopf. Jeder Mensch hat
seine gute und seine schlechte Seite, dachte ich. Wähnt man nicht sein Antlitz
als die gute Seite, die Rückenpartie als die weniger gute? Bei Mbele musste es umgekehrt sein.
Der Schrecken hatte mir den Atem genommen. Ich
räusperte mich, lauter und öfter als man sich gewöhnlich räuspert, wenn man
bemerkt werden möchte. Enkembe warf seinen Kopf
herum. Als er mich sah, kam er gelangweilt aber mit einem Grinsen über den
breiten Lippen auf den Zaun zu. Sein Körper demonstrierte männliche
Gelassenheit, nur seine Augen blitzten wild umher, von mir zu den Männern und
wieder zu mir. So verunsichert wie er schien, so sicher war ich, er schäme sich
für seinen Ausrutscher. Doch was ich dann bemerkte, war alles andere als das.
„Bom dia,
Amiga“, sagte er. Seine Stimme klang so sonderbar und in seinem Gesicht war
plötzlich etwas Fremdes, Schlimmes, so dass ich beinahe vor ihm zurückgewichen
wäre. Im ersten Moment löste dieser fremde Anblick eine winzige Verwirrung in
mir aus, doch bald begriff ich etwas. Ich war in den normalen Lauf des Lebens
im bairro geraten. Enkembe konnte
lächeln, so wie er jeden Tag lächelte. Es war kein besonderer Tag.
„Fui náo
bon“, rügte ich ihn in meinem portugiesischen
Kauderwelsch. Sprachlich dem Jungen unterlegen bemühte ich mich trotzdem, den
strengen Blick zu behalten. Ich bat ihn, in die Hütte zu gehen und Ntumba zu holen, ich hätte ihr etwas zu sagen. Enkembe zögerte, immer wieder einen schrägen Blick auf mein
Bündel werfend, das ich ganz fest hielt und nicht gewillt war, es einem zu
geben, der sich über seine Mutter erhob.
Ntumba
kam nicht sofort. Das war nicht außergewöhnlich, ihr Stolz gebot es ihr so.
Lange Zeit hatte ich versucht, ihre Zurückhaltung den Umständen zuzuschreiben,
unter denen wir uns begegnet waren; Durch Enkembe,
der unsere Aufmerksamkeit erregt hatte, unser Mitgefühl, unsere Scham für unser
gutes Leben. Doch das war einfach nicht mehr das Wesentliche, das schienen die
Frauen zu spüren. Inzwischen vertrauten sie mir, einer Weißen und wie sie
glaubten Wohlhabenden. Enkembe war als Bindeglied
nicht nur unbedeutend geworden, ich begann ihn zu hassen. Jetzt hatte ich etwas
in seinen Augen gesehen, in seinem Wesen, das mich erschreckte. Ich rang um
eine Erklärung. Dieser Tritt eines von der Welt vergessenen Kindes - er war ja
der Kindheit noch nicht entwachsen, einer Kindheit, die diesen Namen nicht
verdiente – galt der ganzen Welt, dem Leben an sich, dem bairro, dem Hunger und dem Unrat, den sie sich und
anderen leichtfertig zumuteten. Vielleicht galt seine Wut der Armut, die sie
schlecht ernährte, die sie ihrer elementaren Rechte beraubte, die ihnen
Entbehrungen und Gefahren brachte. Wieso konnte ich annehmen, ihre Seele
verarme nicht? Der Hass in seinen Augen wäre auch nicht zu besänftigen gewesen,
hätte ich die Kraft zur Güte überhaupt gefunden. Trotz innerer Zurechtweisung
fand ich sie nicht. Mir war vielmehr, als müsse auch ich meine Hand erheben, auch
wenn seine Zähne freundlich geblitzt hatten, als er mich stehen sah mit meinem
Bündel, das ich fest vor meine erregte Brust drückte, obwohl ich es lieber über
den Zaun geworfen hätte um wegzulaufen, wegzubleiben, heute, später, für immer.
Es ging nicht. Ntumba und ihre Tochter Esmeralda
brauchten Hilfe.
Ich wartete. Langsam schob sich der staubige, von
unzähligen Rissen zerfurchte Fuß über den Balken am Eingang, dann der zweite. Ntumba kam angeschlurft, schwerfällig, nach vorn gebeugt.
Sie umfasste meine Hand mit ihren beiden rauen, rissigen Händen, die so viele
Wasserkannen geschleppt, so viele mühselige Feuer entfacht hatten. Die
unendlich viele Stunden den Stampfstock geschlagen hatten. Diese Hände hielten
mich fest, zwei, drei vier Sekunden lang. Lange genug für ein Zeichen des
Dankes und der schüchtern erwachten Verbundenheit. Auf einmal war mir ihr Dank
nicht mehr wichtig. Unwichtiger als meine eigene Gewissheit, das Richtige zu
tun. Mein spartanisches Leben in diesem Land schien plötzlich unvergleichbar
leichter als das Leben dieser von Mühsal gezeichneten Frau. Ich schämte mich
und Ntumba konnte es aus meinen Augen lesen. Noch ehe
ich eine Erklärung aus meiner verklemmten Brust quetschen konnte, redete sie,
unaufgefordert, ununterbrochen, monoton, im Mix zwischen der Sprache ihres
Volkes und einem leicht gefärbten Portugiesisch.
„Es gibt nicht
mehr genug Bäume, um Holz für das Feuer zu haben. Man muss einen halben Tag
laufen, bevor man auf welche trifft. Die Männer machen sich keine Sorgen. Die
kommen und gehen, wann sie wollen. Früher, da waren wir nicht arm, wir hatten
einpaar Ziegen, Enten und Hühner und zwei Rinder. Es waren meine Rinder.
Meine.“
Sie tippte mit
dem Finger auf die knochige Brust, immer bemüht, die zerschundenen
Glieder geschickt zu verbergen. „Wir haben alles verkauft, unser Geschirr,
unsere Decken und Matten, einpaar Möbel. Alles, was wir hatten, haben wir für
Reis und Hirse weggegeben. Wir arbeiten hart, meine Tochter und ich. Die
Kleinen können noch kein Wasser schleppen, keinen Mais stampfen.“
„Enkembe kann helfen“, unterbrach ich sie, ohne mein
Bedauern für das Erlebte, mein Unverständnis für die Herren der Schöpfung
auszusprechen. Verbergen konnte ich es wohl nicht. Das merkte ich, als mir zum
ersten Mal Ntumbas Unverständnis entgegen prallte.
Enkembe sei bald ein
Mann. Ein Mann folge dem Vorbild eines Mannes, nicht dem einer Frau. Seit er
sechs Jahre alt war, sei er von den Männern erzogen worden um ein Mann zu
werden, er dürfe kein Wasser tragen.
„Es ist Krieg.
Das ist nicht das normale Leben. Jeder muss dazu beitragen, die schwere Zeit zu
überstehen.“
„Der Krieg hebt nicht die Regeln auf. Wir
haben alle darunter gelitten, Männer wie Frauen, Nachbarn wie Fremde, Freunde
und Feinde. Zum Glück leben wir noch.“
Und dann krümmte
sie ihren verknöcherten Rücken beinahe bis zur Erde und schob einpaar Worte
über die schrundigen Lippen, die wie ein Gebet klangen, leise, eintönig und
immer wieder dieselben: „Gott hat uns Donna Maxi geschickt.“
Das war kein
theatralisches Getue, keine Dankeshymne, keine Freude aber auch kein Sarkasmus.
Nichts, als die blanke Erschöpfung. Ich begann um mich selbst zu kreisen, den
faden Widerschein einer selbstgefälligen Gönnerin zu verfluchen, den Weg der letzten
Monate zu verteufeln, bis ich das kurze Flackern spürte, das Zucken vor der
endlichen Erleuchtung. Das Wort, das Ntumba
gesprochen hatte, war nicht Gott gewesen, nicht deus.
Es klang wie kalunga und ich dachte bei mir,
sie huldigen ihren Naturgöttern, die ich nicht kannte. Alles, was ich gesehen
hatte, passte aber nicht zu einer Naturreligion. Die Natur müsse doch wissen,
dass ohne die Mutter kein einziger Patriarch existieren würde. Nein. Es wies
eher darauf hin, dass jener Glaube, den sie verhaftet waren, die Gewalt gegen
Frauen legitimiere, wenn sie „ungehorsam“ seien. Auf diesem Weg war nun auch Enkembe. Hätte ich es nur nicht erlebt, ich wäre
glücklicher. Die Prügel selber spürend, die Demütigung der Frauen wie eine
eigene, schwere Last nach mir her ziehend, schlich ich zurück. Mein Kopf
brauchte eine Aus-Zeit. Aus-Zeit hört sich positiv an, bejahend, schöpferisch
für das Wachsen neuer Ideen, für das Erstarken neuer Kräfte. Wer denkt bei
Aus-Zeit schon an Flucht. Ich aber war froh, für einige Zeit das Elend
vergessen zu können, das von den Hütten ausging und kein Ende kannte.
Eine Zeit lang
belog ich mich, unsere Vorräte seien zu stark dezimiert, als dass sich der Weg
ins bairro
lohnen würde. Das Lohnende war längst nicht mehr das Kriterium. Schon
ein einziges Stangenbrot hätte diesen Menschen geholfen. Hatte ich das schon
wieder vergessen? Hatte ich vergessen, wie mein eigenes Glücksgefühl wuchs, mit
jedem Tag, an dem es mir gelang, ein bisschen mehr Gelassenheit, einwenig
Freude sogar in den Gesichtern der Frauen zu erkennen? Wenn
Arne mich gefragt hätte, ob ich noch einmal ins bairro gehen
würde, ich hätte unschlüssig mit den Achseln gezuckt. Ich bin kein Lügner, aber
zuweilen hilft es, Unschlüssigkeit zu verschweigen. Wenn ich darüber
nachgedacht hatte, da war mir alles so sinnlos erschienen, so aussichtslos
gering. Immer, wenn alles wieder nah, wieder greifbar vor Augen lag, hatte ich
keine Wahl mehr. Umzukehren würde mir nicht gelingen, also weitermachen wie
bisher.
Die mühseligen, mit einfachen Hausarbeiten
angefüllten Tage hatten die schreckliche Erinnerung an den letzten Besuch bei Ntumba genährt, meine Unruhe geschürt. Was würde aus den
Kindern werden, bliebe ich einfach fern? Eine unbestimmte Angst erfasste mich,
die selbst das Weiterdenken zur Qual werden ließ. Man kann wohl seinen Worten,
nicht aber den Gedanken befehlen zu schweigen. Eine unerklärliche Kraft zog
mich wieder dorthin. Ich holte alles, was ich für diesen Zweck gesammelt hatte
aus dem Schrank und begann mein Bündel zu schnüren. Reis, Brot und Salz aus der
loga, für die Kinder eine Büchse Milchpulver und weiche
Nickis, die eine Portion Staub vertrugen und denen die Kernseife im Wasser des
Baches nicht schaden würde. Streichhölzer aus meinem schwindenden Vorrat, eine
Bundjacke für Enkembe. Zuoberst legte ich den bunten
Stoff, der für zwei Frauengewänder reichen würde, von denen ich noch immer
nicht wusste, wie man sie hier nannte. Man hätte länger zusammen sein müssen, die
Sprache besser lernen sollen, um sich wirklich zu verstehen. Toleranz alleine,
deren ich mich heimlich rühmte, reichte nicht aus. Toleranz verträgt keine
Fragen, Verstehen setzt Fragen voraus.
Was war nun meine Toleranz?
Das moderne Wort war von Unseresgleichen längst
missbraucht worden, ebenso das schöne Wort Gerechtigkeit. Gerecht ist, was
einem zusteht. Das ungerechte an der Gerechtigkeit ist die Festlegung, was
einem zusteht. Gelebte Toleranz aber rutschte längst vom Wesen der
verständnisvollen Duldung in die Egal-Haltung
ab. Wie klein kann der Schritt von der
Toleranz zur Ignoranz sein?
Über den halben
Weg bis ins bairro dachte ich an nichts
anderes, als an das Leid der Frauen in der patriarchalischen Welt. Kein Mann
könne ermessen, welch tiefe Kränkung die beiden Frauen erfahren hatten. Ntumba war der erste und vielleicht einzige Mensch in
meinem Leben, mit dem mich etwas verband, das kaum dazu taugte, Freundschaft
genannt zu werden. Sowenig es mir darum ging, den großherzigen Gönner zu
spielen und dafür geliebt zu werden, so wenig hätte ich es vertragen, Ntumbas unterwürfige Dankbarkeit zu erfahren. Zum ersten
Mal dachte ich an jenem Tag an die beiden Männer und daran, wie sehr wohl ich
deren unterwürfige Dankbarkeit genossen hätte. Mit ruhiger Erwartung, dass eine
der Frauen gleich aus der Hütte treten und mit freudig erhobenen Armen zu mir
an den Zaun kommen würde, blieb ich mit meinem Bündel unter dem Arm stehen.
Nach geraumer Zeit gab ich einem der Kinder einen Wink und zeigte ein bunt eingewickeltes
Bonbon. Die Kleinen hatten sich bei jedem Besuch von mir an diese kleine süße
Freude gewöhnt. Weder die Kleine kam an
den Zaun, noch ließ sich Ntumba blicken, nur zwei
schmale Schultern an den Baum gelehnt verrieten, jemand kehrte mir den Rücken
zu. Ich weiß nicht mehr, warum ich ihn nicht wirklich wahrnahm, vielleicht,
weil ich die Männer des Hauses mit Verachtung strafte, vielleicht, weil mein
schweres Bündel zu stören begann, die Hitze unerträglich wurde.
Ntumbas Erscheinen
brachte ein Strahlen in mein Gesicht, für einen Moment, dann schwand es wieder
und gab dem Schrecken Platz. In ihrem runzeligen, faden Gesicht war nichts
Besonderes zu entdecken, so lange, bis ihre gelben Augen zu sprechen begannen.
Sie glänzten, doch es war keine Freude. Ein Gemisch aus Trauer, Wut und Sorge
schlug mir entgegen. Als sie nach meinem Arm griff und ihren Kopf zurück zur
Hütte drehte, erschienen die beiden Männer am Tor. Sie liefen nicht wortlos wie
sonst an mir vorbei, sondern einen Gruß murmelnd und wenn mich meine
Wahrnehmung nicht täuschte, lächelte sogar einer, bevor sie den staubigen Weg
entlang liefen, dem Platz entgegen, wo sie die anderen Müßiggänger treffen
würden, die ihnen den erbärmlichen Tag verkürzen halfen. Allein diese
Vorstellung ließ mich den Gruß und das Lächeln vergessen.
„Vem ca“, sagte Ntumba und zog mich
zum ersten Mal seit ich an diesem Zaun erschien, zur Hütte hin. „Enkembe“, zischte sie mit stillem, traurigem Blick.
Es war der
Junge, der da im Schatten saß, mit dem Rücken an den Baumstamm gelehnt. Er
rührte sich nicht, ganz im Gegenteil zu mir, die ich vor Entsetzen beinahe laut
zu schreien begonnen hätte. Mein ganzer Körper bekam einen Schmerz zu spüren
und ich hatte nur Mühe, meine Hände in Schach zu halten. In Enkembes
Gesicht, dem die Natur einst ein bisschen mehr Farbe, ein bisschen mehr Höhen
und Tiefen gegeben hatte, sah jetzt bleich und erbärmlich aus. Schon nach dem
ersten Blick, der mich traf, zuckte der wulstige Mund, blähten sich die
Nasenflügel und die Augen weiteten sich starr, bis das Weiß des Augapfels
herauszuquellen drohte. Auf seiner Stirn perlten dicke Schweißtropfen. Als er
mich sah lächelte er gequält und deutete auf den dicken Stumpen, der mit
dunklen Fetzen umbunden einmal sein linkes Bein gewesen war. Sein rechtes Bein
baumelte herab, die dicke, verkrustete Hornschicht am Fuß mit tiefen,
klaffenden Schrunden schien für ihn noch wie ein Segen zu sein, weil der
Allmächtige es ihm gelassen hatte. Bei der bloßen Vorstellung, wie viel
Verzweiflung, wie viel Lebenssehnsucht aus seinen feuchten Augen sprach,
brannte mein Schmerz umso heftiger. Wie mochte er innerlich gezittert haben,
welche Schmerzen hatte er hinter dem Lächeln versteckt? So tapfer dieses
Lächeln war, so unerträglich mein Gefühl der Ohnmacht und Scham. Am liebsten
hätte ich mich davonstehlen wollen, aus diesem bairro,
aus diesem Land, von diesem Kontinent, heim in unsere heile Welt. Man will
nichts sehen, will blind und taub und stumm zugleich sein und fühlt doch die
dünne Haut um sich herum. Ich spürte, wie die Kraft mich verließ als fiele ich
in ein tiefes Loch und ich sah den Jungen, der vor einiger Zeit ein Mann zu
werden sich ausprobierte und nun als
Krüppel auf der Matte vor seinem Haus verkümmerte. Alle Kraft hatte ihn
verlassen und sein flehender Blick wünschte nichts, als der Himmel möge über
ihm zusammenstürzen und ihn unter sich begraben, so wie seine Illusionen
begraben waren, die wenigen, die ein Kind von dieser Welt noch haben konnte.
Jetzt saß er hier, verstümmelt unter Vielen, die sein Schicksal teilten, und
weinte ohne eine einzige Träne zu vergießen.
„Dieses Teufelszeug trägt viele Namen“,
sagte Ntumba. „Eines hieß Enkembe.
Es lag unter der Erde und wartete geduldig, bis er nah genug war. Geh nie vom
Wege ab und sei auf der Hut. Eines könnte deinen Namen haben.“
Sie spuckte dreimal in die flache,
zitternde Hand und strich mir beschwörend über den Scheitel, ehe ihr
schleppender, nach vorn gebeugter Gang sie mitsamt dem Bündel zurück zur Hütte
trug. Über den tausendfachen Tod zu reden, der so namenlos blieb, wie ein
weißes Blatt Papier, hatten wir gelernt. Den kombas
zu lauschen, war etwas ganz Normales geworden. Aber das Entsetzen so nah, so
direkt zu sehen und nichts ungeschehen machen zu können, das war etwas, das
tausend Höllenfeuer entfachte. Für Sekunden wünschte ich mir jenes Leben, wie
es hätte in diesem Moment sein können – wohl behütet, ohne Angst, ohne den
Blick auf Hunger und Tod, genauen Regeln folgend und angepasst, um nicht den
größten Schaden zu nehmen, den man in der Heimat hätte nehmen können. So zu
denken war töricht. Es half nicht. Nicht jetzt und nicht hier. Der Schock war
mir in die Glieder gefahren und wich nun langsam flammender Wut. Ich schloss
die Augen und stellte mir noch einmal das Bild des feinfühligen Jungen im Ringelpullover
vor, der meine Aufmerksamkeit erregt hatte, weil sein heller Blick das Elend
überstrahlte. Er war für mich die pure Zuversicht gewesen. Jetzt wich der
Frieden aus seinem Herzen, das keine Schuld erkennen konnte, als die Schuld der
Mächtigen dieser Welt, die Unmenschliches zuließen.
Bisweilen
auf meinem Weg zurück vom bairro fühlte ich mich frei, als habe ich soeben
eine Schuld beglichen. Dieses Mal nicht. Ich fühlte mich schuldig, von dieser
Gefahr nichts gewusst zu haben. Was könnte man tun? Was kann die Welt tun?
Welche Welt? Die einen verdienen am Krieg, die anderen auch. Dieser Krieg, der
nicht enden wollte, der noch lange sein Tribut forderte, als die Kriegstreiber
längst die Waffen streckten, ließ sein Teufelszeug im Schoß der Erde ruhen,
noch jahrelang unzählige Unschuldige treffend. Für alle, die den Tod mehrerer
Hunderttausend von Menschen noch nicht für eine Katastrophe hielten, für die
waren auch fünf Millionen Minen in angolanischer Erde nicht erwähnenswert. Ntumba war eine einfache Frau vom kargen Land, ohne
besondere Bildung. Doch wie Recht sie einst hatte, begriff ich wohl deshalb
nicht, weil mich ihre Worte zutiefst verletzt hatten. Einfache Worte, die ihre
anfängliche Skepsis erklärten: Die Absicht der Fremden ist wie das Feuer. Du
kannst deine Hirse damit kochen oder dein Haus anbrennen.
Kein noch so
gerader Weg hätte mich schnurstracks nach Hause geführt. Um zur Besinnung zu
kommen, brauchte ich Zeit und Ruhe. Reden ist nicht immer das Klügste, auch
dann nicht, wenn der Verstand gegen Verstandesfeindlichkeit rebelliert.
Also lief ich
schweigend jenen holprigen Weg entlang in jene Richtung, aus der ich vor langer Zeit mit Arne gekommen war,
bevor uns Enkembe begegnete. Entlang der Gleise
öffnete sich der Blick auf den luftigen Glockenstuhl einer weißblauen Kirche,
der die Rückankunft in der Zivilisation bedeutete. Der Anblick dieser
Erhabenheit unter dem tiefblauen Mittagshimmel brachte nicht nur Farbe in meine
trüben Gedanken, er weckte Kindheitsgefühle, die von jeher in mir schlummerten,
die aber hier zu einer Art Erbauung erwachten. Eine unwiderstehliche,
leidenschaftliche Kraft trieb mich in diese Richtung, die so gar nichts mit
meinem Heimweg zu tun hatte. Die Tür stand offen, nur ein Gitter schützte die
Betenden auf ihren harten Bänken vor Ungebetenen. Und dann – mir war es, als
sei ich versteinert, vor Freude und gleichermaßen vor Schmerz - die Gemeinde
erhob sich und sang, so unvergleichlich schön, so bedrückend schwer und so
kunstvoll wie ein vielerprobter Gospelchor es nicht
besser könnte. Diese hohe Kunst des singbaren Gottlobs war mir nirgendwo so
schön, weil so innig und frei und ohne die Last einer Pflicht, vorgekommen.
Jetzt wusste ich, warum ich den langen Weg in dieses bairro
nicht längst verfluchte. Alles, was man aus tiefstem Herzen tut, kann keine
Last sein.
Erklärung gekennzeichneter Wörter:
Amigo – Freund
a minha esposa
/ casa – meine Frau / Zuhause
bairro –
Armenviertel
bom dia – guten Tag (Morgen)
camiso – Hemd /
Pullover
deus – Gott
eu nao queria trocar
– ich will nicht tauschen
fui nao bon – das war nicht gut
gujome – Gebräu / Alkohol
kalunga - Naturgott
komba – Totenfeier
loga – Laden
nao conheces tamben – das kennst du
auch nicht?
onde – wo
obrigad – danke
o meu filho –
mein Sohn
praca – Schwarzmarkt
so para ti – Nur für dich
tenho uma prenda – ich habe ein
Geschenk
vem ca – komm
ze-ninguem - Nichtsnutz