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Enkembe – Der Junge aus dem Bairro

© Hansi Hilbrich

 

Angola 1988. Die Luft war mild und es wehte ein leichter Wind. Ein kurzer, heftiger Schauer hatte das dürstende Land erquickt, doch inzwischen beherrschte die unbarmherzige Sonne den azurblauen Himmel, hier im dunkelsten Winkel der Dritten Welt. Zehn Uhr stand die Sonne nordöstlich über dem Kopf der schneeweißen Statue von Christo Rei und ließ die Blüten der violetten Bougainvillea aufleuchten. In solchen Momenten konnte man die Widrigkeit der staubigen Wege vergessen. Die Menschen krochen aus ihren armseligen Behausungen, deren notdürftigen Dächer sich tausendfach auf und nieder wölbten und wie die Brandung eines Ozeans die Tafelberge umspülten.

Wir liefen auf halber Distanz zwischen Tafelberg und Stadtzentrum durch ein unendlich großes, unendlich verwirrendes bairro. Offiziell nannte man diese Ansammlungen der Flüchtlingshütten Bairro, Stadtviertel. Dies hier waren in Wahrheit Slums, wo die Straßen ihre Namen verloren, sich in Trampelpfade verengten um ganz zu versanden. Hier atmete die Wirklichkeit unter der Weite des afrikanischen Himmels unheimliche Bedrückung, hier hausten die Ärmsten der Armen, Menschen ohne Arbeit und ohne Besitz. Ihr fremdes Zuhause war nichts als vier nackte Lehmwände unter einem Wellblechdach. Sie haben sich aus dem Staube gemacht, aus Furcht vor Überfällen und vor Zwangsrekrutierungen ihrer Söhne in die Armee des „schwarzen Hahnes“ Jonas Savimbi. Hier im Staub der Stadt fühlten sie sich sicherer, versorgt und behütet waren sie nicht. Lubango war für zwanzig-, vielleicht auch dreißigtausend Menschen ausgerichtet. Jetzt warteten hier Hunderttausend auf das Ende des längsten und mörderischsten Krieges auf diesem Kontinent. Es war später Vormittag. Durch diese Gebiete zu gehen war uns verboten, es sei zu gefährlich, zu unübersichtlich. Das konnte jeder, der sich einmal da drinnen verirrt hatte, guten Gewissens bestätigen. Wir liefen auf einem Damm entlang, von dem man über die Umfriedungen in die Hütten der Hoffnungslosen blicken konnte. Die Mauern aus Lehm und Gras, das notdürftige Dach aus Wellblech. Aus allen Höfen dröhnte das dumpfe Schlagen der Stampfstöcke in den Getreidemörsern. Über den Feuerstellen aus aufgeschichteten Steinen lagen die verkohlten Enden ungeschnittenen Brennholzes. Äxte oder Sägen besaß hier keiner.

Die Höfe waren sauber gefegt, die Berge von Müll und stinkendem Unrat türmten sich einpaar Schritte entfernt an den Wegen. Magere, von nächtlichen Kämpfen zerschundene Hunde, Hühner und sogar Ziegen liefen frei herum und wühlten im Abfall nach Brauchbarem. Je näher man der Stadt kam, sah man kleine Gartenflecken zwischen den der Hütten. Hier wie dort war die Zeit zu leben kurz bemessen worden, das erhoffte Ende schon lange verstrichen. Eine kleine Menschenansammlung zwang uns, einen Bogen zu schlagen. Da wo der Weg in einen kleinen Platz auslief, saßen einpaar Männer in ein Steinchenspiel vertieft. Schaulustige in ärmlichen Kleidern und splitternackte Kinder standen dabei. Ein verkrüppelter Junge mit dem Körper eines ausgehungerten Gerippes schaukelte, auf seine übergroßen Hände gestützt, über den festgestampften, rostroten Boden. Die nackten Beine zum ewigen Schneidersitz verschränkt schimmerten wie Elfenbein, hell und knöchern.

Das Muster der hingeworfenen Steine hatte einen der mürrischen Alten in Trance versetzt. Seinem Mund entwichen unheimliche Worte, von der Welt entrückt deutete er auf den Krüppel. Wir liefen eiligst in angemessener Entfernung vorbei, in der Hoffnung, nicht unfreiwillige Zeugen ritueller Gewalt zu werden. Es kam schon vor, dass diese selbsternannten Weisen in den vom Schicksal geplagten Wesen die Ursache irgendeines Unheils erkannten und sie dafür kollektiv bestraften.

Vor einer Hütte, die über zwei Türen verfügte und einen Stall für das Vieh, saßen einpaar Halbwüchsige über Schnitzarbeiten gebeugt. Einer sprang auf und winkte uns heran in der Hoffnung, etwas verkaufen zu können. Ein anderer Junge schnitzte ein Krokodil. Den Boss der Schnitzer in seinem Nacken wissend, redete mein Mann Arne trotzdem mit dem Jungen und der schien deswegen sehr stolz zu sein. Seine Augen blitzten noch weiß, wo das Weiß hingehörte, weil das giftige Gebräu des gujome  seine Leber noch nicht zerfressen hatte.

Er habe noch nie ein Krokodil gesehen, lächelte sein kindlich samtener Mund. Er arbeite nach, was sein Boss gearbeitet habe, als der noch ein zé-ninguém war.

Der Junge sprach auch mit seinen Händen, die flink und geschickt zu hantieren gewohnt waren. Seinem Mund entschlüpften viele Laute, die fremd klangen. Wir verstanden ihn dennoch. Krokodile, so meinte er, lebten im Wasser. Hier aber gäbe es kaum Wasser. Ich zeigte auf ein Nashorn, das mit schwarzer  Wichse poliert auf einem Holzklotz stand.

Nao conheces tamben?“, fragte ich im portugiesischen Kauderwelsch. Doch das störte diese Menschen nicht. Portugiesisch war ja auch nicht ihre Sprache. Eindringlinge hatten sie ihren Vätern, Großvätern und Urgroßvätern auferlegt. Unter sich sprachen sie die Sprache ihrer Väter. Keiner von uns kannte sich aus mit den Volksstämmen und deren Sprachen, aber mehr als irgendwo sonst auf der Welt spürten wir hier das großherzige Bemühen zu akzeptieren, wie ein jeder in der Lage war, sich verständlich zu machen. 

Der Kopf des Jungen huschte hastig hin und her. Nein, er habe auch noch nie ein Nashorn gesehen. Sein Boss saß unbeweglich auf einem Holzklotz im Schatten und rauchte, die Beine weit auseinandergestellt, die Ellebogen auf die Schenkel gestützt, seinen Oberkörper nach vorne gebeugt. Arne ging zu ihm, kaufte das Nashorn und versprach, später auch das Krokodil zu holen, wenn es fertig sei. Dem Jungen steckte er heimlich einpaar Bonbons zu, in der Hoffnung, sie würden ihm bleiben. Ein einziges Bonbon hatte den gleichen Schwarzmarkt-Preis wie ein Stangenbrot aus dem staatlichen Handel. Die Augen des Jungen begannen zu glühen, unruhig scharrten seine Füße im Staub, doch er beugte sich tief über das Krokodil aus hellem Holz und schnitzte weiter.

 „Ob der Junge sie behalten darf“, bangte ich, als hätte ich je im Leben gewusst, wohin unsere Gelder flossen. Immer hatten wir gehofft, sie mögen die Bedürftigen erreichen. Ohne diese Hoffnung, ohne das Vertrauen in die Instanzen funktioniert keine Solidarität.

Schon bald hörten wir ein Schnaufen dicht hinter uns.

„Amigo, obrigado! Amigo!“ Der Junge war uns gefolgt, in seiner Hand glitzerte es bunt. Er lachte breit und deutete auf eine armselige Hütte kurz am Ende des holprigen Weges.

„A minha casa.“

Er lehnte seinen Körper gegen den Stacheldraht-Pfosten und schob ihn einen Spalt breit zurück. Geschmeidig wie eine Katze wand er sich hindurch und lief zu den Frauen, die vor der Hütte mit wuchtigen Schlägen Maismehl oder Hirse stampften. Die jüngere, hochschwangere Frau im zerfetzten Kittel trug ein Kleinkind auf den Rücken gebunden, dem das ständige Auf und Ab das Wiegenlied ersetzte. Die Frauen blickten ernst, das Gesicht der alten Frau sah runzelig und matt aus. Wortlos nahm sie entgegen, was der Junge ihr reichte und trug es in die Hütte. Einen Vater sahen wir nicht. Es dauerte nicht lange, bis der Junge sich wieder durch den Drahtzaun zwängte und seine dunkle, von Schwielen durchfurchte Hand auf den Arm meines Mannes legte. Ich konnte meinen Blick nicht lösen von dem Anblick der Kinderhand, die sich so deutlich von der Haut des weißen Mannes abhob, der in den Augen des Jungen ein reicher Mann zu sein schien.

„Eu Enkembe“, sagte er mit strahlenden Augen, die scheu zu den Frauen hinüberblitzten, deren dumpfes Schlagen mit den Stöcken erneut den erbarmungslosen Takt ihres Lebens bestimmte. Der Junge blieb bei uns stehen. Er schien ruhig, nur die nackten Füße, die bis zu den Knien mit hellem Staub bedeckt waren, scharrten unruhig im Staub. Arne strich dem Kind über das krause Haar, das hart und knotig aussah, aber nicht schmutzig und nicht verfilzt.

Eu Arne, deste Maxi, a minha esposa“, sagte er, um irgendetwas zu erwidern, doch dann fragte er, ob ihm die Bonbons nicht schmecken würden. Enkembe zog die Schultern bis zu den Ohren und er erklärte, er habe nicht das Recht, darüber zu entscheiden. Er wies mit dem Kopf in die Richtung, wo sich die Männer dem Stumpfsinn hingaben, während den Frauen die Last der harten Arbeit blieb. Dieses weibliche Fügen in die Tradition machte mich ebenso betroffen wie das ganze Elend ringsum. Zuerst hatte ich gedacht, dass diese unerträgliche Wirklichkeit ein Traum sein müsse, man wische sich die Augen und sehe wieder klar. Wenn ich nachts darüber nachgedacht hatte, war mir unsere Anwesenheit in diesem Land so sinnlos erschienen. Wenn ich aber bei Tage meine Augen mit dem Elend quälte, dann schien alles wieder so wichtig und so zwingend. Das Elend zu sehen und sich einzubilden, nicht helfen zu können, war Selbstbetrug.

 

Einpaar Tage später zog es mich wieder dorthin. Mir fiel nichts Besseres ein, als vorzugeben, nach den Schnitzarbeiten im bairro sehen zu wollen.

Nachdem ich im Durcheinander von Trampelpfaden und Hütten beinahe die Orientierung verloren hätte, quälte der trocken-muffige Geruch eines Abfallberges meine Nase. Hier war die Stelle, an der ich in Richtung Damm abzubiegen hatte, um jene Hütte zu finden, nach der ich suchte. Hinter dem Müllberg saßen Kinder, wühlten im Unrat nach Essbarem  und starrten mich mit großen Augen an. Sie reckten mir ihre flachen Hände entgegen und ich war sicher, bis zu meinem Ziel eine kleine Eskorte hinter mir her zu ziehen. Ich war diesen Weg noch nicht oft gegangen, um so viele Kinder zu bemerken. Der Schlafende weiß von nichts. Nur wer sich auf den Tag einlässt,  dem öffnen sich die Augen. 

Es gab hier kaum zwanzig Meter Weg, auf dem kein Unrat lag, kaum ein Gebüsch, aus dem nicht die Exkremente gen Himmel stanken. Nur um die Opuntien schwirrten die Schmeißfliegen nicht in Scharen herum, obwohl gerade diese bombastischen Gebüsche den Bairro-Bewohnern als Latrine dienten. Die Natur weiß sich offenbar besser zu helfen, als der Mensch dem Menschen. 

Je näher ich der Hütte in der dritten Reihe kam, desto sicherer war ich, dass meine Knie zitterten. Ich vermisste den Widerhall der Mörser. Mein Herz raste in dem Maße, wie der löchrige Zaun mehr und mehr ein neues Elend preisgab.

Diesmal waren auch zwei Männer auf dem staubigen Hof anwesend. Sie knieten auf der blanken Erde vor der Hütte und zimmerten notdürftig einen kleine Kiste zusammen, keine sechzig Zentimeter lang. In der Tür lehnte abgemagert und mit fadem Gesicht jene Frau, die vor einigen Tagen mit schwangerem Leib Hirse gestampft hatte. Mein Schmerz bekam einen Sinn. Diese Kiste, für die der Vater sich heute einmal Zeit nahm, sollte das tote Baby aufnehmen, das keine Chance hatte, in dieser Welt zu überleben.

 „Es war der Hunger“, murmelte ich fest davon überzeugt, er sei auch in diesem Land die Todesursache Nummer eins. Ich hielt beide Hände vor den erschrockenen Mund und schalt mich, nicht an Essbares gedacht zu haben. Ob es der Krieg war, der den Hunger brachte, bezweifelte ich. Für Politiker war der Krieg der Vater aller Rechtfertigungen.

Im hinteren Winkel des Hofes, wo die Sonne ein helles Dreieck in den Sand malte, sah ich die Kinder der Familie. Sie hockten beieinander mit großen, ängstlichen Augen und sprachen kein Wort. Auf den ersten Blick waren es ganz normale Kinder, zerzauste Wuschelköpfe, verschmierte Münder, gelb-verkrustete Nasen und ebensolche Krümel in den Augenwinkeln. Man konnte sicher sein, sie waren nicht an diesem Morgen so schmutzig geworden. Vom einzigen Bach, der durch diese Stadt floss, war ich soeben gekommen, zwei, drei Kilometer westlich. Neben der Hauptstraße floss er durch alle bairros dieser Stadt. Wie sollte er da sauber bleiben. Das Auffälligste an den Kindern aber waren ihre runden Bäuche, die sie wohlgenährt erscheinen ließen, wüsste man nicht um die Folgen der Unterernährung. Nur Enkembe hatte keinen so aufgedunsenen Bauch. Er hatte mich bemerkt, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Einwenig beklommen winkte ich ihn zu mir, nur mit den Augen und einem leichten Lächeln. Schon kam er angeflitzt. In meiner Tasche zusammengeknüllt steckte ein Ringelpullover, den ich eigens für den Jungen mitgenommen hatte und der mir den ganzen Weg über eigenartig auf der Seele brannte. Ich zog ihn erst aus der Tasche, als Enkembe vor mir stand. So wie ich ihn an den Körper des Jungen hielt, ging der ängstlich einen Schritt zur Seite. Es schien, als erinnere er sich in diesem Moment an Arnes Worte über das Krokodil und gab mir zu verstehen, dass er nicht zu tauschen berechtigt sei.

„Eu nào queria trocar“, sagte ich wahrheitsgemäß. Die traurige Szenerie hatte mich zögern lassen, mein Vorhaben auszuführen. Zwar schien der Junge sich zu wundern, sein Blick aber senkte sich traurig. Sanft, beinahe ehrfürchtig berührten seine zerschundenen Hände das weiche Material, das ich ihm mit Nachdruck über die Schultern legte.

Para ti.“

Para mi?“ flüsterte er fragend. Dabei kullerten Tränen über die dunklen Wangen, die lange in ihm gebrannt hatten. In meinen Augen waren es Freudentränen gewesen. Die Trauer seiner Familie war ja hinter dem Zaun. Ich lächelte und schluckte schwer an dem Kloß, der meine Kehle blockierte. Ich drängte, er solle ihn überstreifen. Enkembe zögerte und warf seine Blicke um sich, doch niemand befahl ihm, es nicht zu tun. Noch härter ballte sich der Kloß in meinem Hals zusammen. Ich würgte schwer.

„So para ti“, beschwor ich ihn. Es sei ein Geschenk nur für ihn und das könne ihm keiner nehmen. Der Junge blickte auf, blinzelte mit einem lachenden Auge zu mir auf und schlüpfte hastig, mit viel zu steifen Gliedern, durch die Ärmel.

Ich merkte schnell, dass sich hinter Enkembes wachem Blick etwas ganz Besonderes verbarg, etwas, das in diesem Umfeld nicht ans Tageslicht drängen durfte, wohl aber im Verborgenen loderte, genau so, wie es in meiner eigenen, überaus armen Kindheit gewesen war. Dieser Junge würde wie ich, sich von seinem widrigen Leben nicht unterkriegen lassen. 

 

Seit jenem Tage, als ich den Glanz in Enkembes Augen gesehen hatte, wuchs ein Gefühl in mir, das ich nicht beschreiben konnte. Ich hatte dem Elend in seine Seele gesehen, und wusste, ich gehörte nicht zu denen, deren Tat im Heldentaumel ertrinkt. Jetzt überwog dieses Gefühl. Ich beherrschte es nicht mehr.

Von jetzt an lief ich regelmäßig in das verbotene Gebiet. Ich wollte nicht akzeptieren, unsere Arbeit nur dort zu leisten, wo sie öffentlich zur Kenntnis genommen wurde. Ich betrog mich selbst: Es könne nicht sein, dass niemand von uns es wagte, ins bairro zu gehen. Sie würden es alle tun, heimlich und stolz, bloß dass keiner dem anderen etwas verrate. Ein bairro sei kein praca. Was sollte einem schon passieren. Freilich, der Besuch eines praca  war gefährlich. Wenn es ums nackte Überleben geht, wird gefeilscht und geneppt, und hier im Hinterhof der Welt ging es dabei hitzig zu.

Jenseits der Steinhäuser musste ich einen tiefen, zum Glück trockenen Graben durchschreiten, von dem nicht klar war, ob er zufällig oder absichtlich hier verlief.

Wenn Menschen keine Lösung für ihre Probleme finden, ziehen sie eine Grenze. Wer kannte das besser als wir Deutschen. Eigentlich ging es mir gut. Ausgezeichnet ging es mir. Die Luft roch nach dem Regen erquicklich. Von den großen Tulpenbäumen am Straßenrand triefte das letzte Nass. Zu Hause würde es vielleicht gerade schneien.

Der Weg schien steiler zu werden, die Erde staubiger, mein Bündel schwerer und unbequem. Je stärker mein Herz vor Aufregung schlug, je härter es gegen die Innenwand prallte, desto schneller wurden meine Schritte.

An der Hütte angekommen, spähte ich durch den mit feuchten Kleidungsstücken behängten Zaun. Also hatte man Wasser geholt, dachte ich, oder man sei an einem Waschplatz gewesen. An einem solchen Platz hatte ich einmal gesehen,  wie noch ziemlich kleine Mädchen mit schweren Kiepen voller nasser Wäsche auf ihren Köpfen kerzengerade den Weg nach Hause schritten. Manchmal trugen sie ein Geschwisterkind auf dem Rücken, während die kräftigen Jungen nur herumtollten und sich nicht um die geringste Pflicht scherten. Enkembe sei einer, der sich um die Pflicht schere, er arbeite für die Familie, dachte ich. Stolz, auf einen Jungen nach meinen Vorstellungen getroffen zu sein, hofften meine Augen, den bunten Ringelpullover zu entdecken. Doch Enkembe war nicht da.

Die beiden Frauen saßen da, ihre staubigen Füße weit ausgestreckt. Sie waren damit beschäftigt, Mais zu puhlen. Die Kleinen saßen daneben auf einer Matte und knabberten an den rohen, entkernten Kolben herum. Es sei gut so, wenigstens Mais sei da und er sei nahrhaft, beruhigte ich mich. Der kleine Leichnam ihres Bruders würde bereits auf dem Friedhof liegen, die Tradition verlangte es so. Nur eine Nacht besingt man den Abschied in einer komba, dann müssen die sterblichen Überreste der Erde übergeben sein. Physisch beim Geburtsvorgang gestorben, so haben ihn dennoch jene auf dem Gewissen, die diese Lage herbeigeführt hatten. Das Bündel hatte sich gelockert und war unhandlich geworden. Ich hob es über den Zaun und winkte den Frauen zu. Ihre Gesichter verfolgten mich und ignorierten mich zugleich.

Onde e Enkembe?“ rief ich zu ihnen hinüber, doch man antwortete mir nicht.

Tenho uma prenda, senhora“, versuchte ich es noch einmal. Wieder nichts. Es war nicht auszumachen, ob sie mich verstanden.

Mein Portugiesisch ist miserabel, ärgerte ich mich. Vielleicht aber würden sie nicht einmal gutes Portugiesisch verstehen. Ich versuchte es noch einmal, aber die Frauen reagierten nicht. Ich ließ nicht locker, versuchte sogar mit einem Bonbon eines der Kinder an den Zaun zu locken, bis ich mutig die Barriere zwischen ihnen und mir überschritt. Das Stacheldraht-Tor war nicht arretiert. Abrupt ließen die Frauen von ihrer Arbeit. Die Alte lehnte ihren taumelnden Körper zurück, als müsse sie die Situation kontrollieren, bis sie an das abgestellte Türblech stieß. Ein dumpfer Schlag zerschellte am Wellblech und schickte sein Zittern bis in die Herzkammer einer widerspenstigen Weißen, die gegen die Regeln der Sicherheit verstieß. Ich legte das Bündel in den Staub und wartete. Die junge Frau, Enkembes Mutter wie ich glaubte, sah wieder einwenig kräftiger aus. Die alte stand auf mit müdem Gesicht und krummem  Rücken, als hätte sie kein Fünkchen Energie in ihren ledernen Armen. Nach einem kurzen Gewisper zwischen den beiden packte sie mit erstaunlicher Kraft nach meinem Bündel und riss es auf. Aus ihren Augen, fad und gelb wie die Wände der Hütte, kam ein warmer Glanz. Sie zürnten mir nicht, weil ich eingedrungen war in ihr oheitsgebiet. Hoheitsgebiet. Ungebeten. Sie dankte auch nicht, noch nicht. Jetzt wäre die Zeit gewesen, wieder zu gehen. Ich blieb noch. Ich hatte den halben Tag lang auf diese Minute gewartet. Der Zwang des Augenblickes und die Hoffnung, Enkembe zu sehen, ließ mich verharren. Um meine Lippen zuckte ein enttäuschtes Lächeln: Nun überschlagt euch nicht gleich vor lauter Freude. Zu viele Worte des Dankes machen die Zunge wund!

Meine eigene, ärmliche Kindheit schlich sich für einen Moment bei mir ein. Almosen, die jemand erübrigt hatte, oder Spenden, die von der Kirche verteilt worden waren, quittierten wir damals mit eben dieser Beschämtheit, wie ich sie in diesem Moment nicht verstehen wollte.

Obrigad“, sagte die Alte ganz unvermittelt. Ihre Stimmte schleifte, trocken, abgehackt. Aus ihren schnalzenden Tönen hörte ich „camiso …“ und „Enkembe“ heraus  und reimte mir zusammen, sie  bedanke sich auch für Enkembes Pullover. Ihr Nuscheln war schwer zu verstehen, die Freude über die kleine Geste indes erleichterte.

„De nada“, sagte ich, und gab ihr zu verstehen, dass ich es gerne für ihren fleißigen Enkel getan habe. Ihre trüben Augen blitzten bedenklich.

Enkembe? O meu filho.“

Ich erschrak und sie musste es bemerkt haben. So hastig, wie sie sich mir zugewandt hatte, kehrte sie mir nun den Rücken und ging ohne mich noch eines Blickes zu würdigen an ihre Arbeit zurück. Sie war also seine Mutter, und jene Frau, die ich als seine Mutter betrachtet hatte, war seine große Schwester.

 

Enkembe sah ich an diesem Tage nicht und auch später nur selten. Die Armut konnte ich mit meinen heimlichen, zu kleinen Ritualen erhobenen Gängen ins bairro  nicht bekämpfen. Aber die Erwartung, die sich langsam in den Augen der Frauen zeigte und die Freude der Kinder, wenn ich am Zaun erschien, waren Motivation genug. Alles, was sie bis dahin einer weißen Frau entgegenbringen konnten, war Skepsis, war Angst. Die Scham, die hinter ihren Gebaren steckte, missdeutete ich in meiner selbstgefälligen Erwartung von Dankbarkeit als Ablehnung. Enkembes Mutter hatte zuerst sehr böse Blicke versprüht,  wenn ich am Zaun erschien. Dann aber war sie die Erste gewesen, die ihre Lippen öffnete und ihren Namen nannte. Ihr Herz verriet mir mehr als ihre Lippen unsägliche Dankbarkeit. Sie heiße Ntumba und sei vom Lande, noch nicht alt aber sehr … sie sagte ein Wort, dass ich nur mit „müde“ übersetzen konnte. Die Zeit sei nicht mehr dieselbe, der Krieg habe ihnen alles genommen. Was er ihnen gebe sei nichts als Hunger und Mattigkeit. Die Leute haben nichts mehr. Nichts. Dann war sie mit viel Feuchte in ihren gelblichen Augen zum Haus gelaufen, stolpernd, hastiger als sie ihre müden Beine heben konnte. Zurück blieb nur der verzerrte Schrei, die schnalzende Erinnerung für mich: „Ntumba

 

Im gleichen Maße, wie ich meine Samariterrolle ob ihrer Heimlichkeit hasste, war ich von Gewissensnot geplagt. Nicht sosehr, weil man nicht über die Mittel verfügte, die nötig wären, sondern weil man nicht wusste, was wirklich sinnvoll war. Inzwischen mutiger geworden lief ich nun keine Umwege mehr, sondern auf direktem Weg ins bairro. Unweit der Hütte, die ich im Stillen noch immer Enkembes Hütte nannte, stoppte ein Tumult meinen raschen Schritt. Die Schreie, die nicht von reiner Freude kündeten, kamen von eben dort. Ich predigte in mein erstarrtes Inneres: Dieser Moment ist nicht der richtige. Kehre um! Wann aber war der richtige Moment? Nur noch einpaar Schritte bis ich durch den löchrigen Zaun in den kleinen staubigen Hof blicken konnte, den das Getöse von zitterndem Wellblech und keifenden Schreien erschütterte. Ich sah, wie Mbele, der jüngere der Männer, mit aller Kraft den Stampfstock schwang. Er schlug damit hinter Esmeralda her, die kreischend den schützenden Stamm des Baumes erreicht hatte, der die Mitte des Platzes in friedlichen Schatten tauchte, der einzige Reichtum, den dieser Ort vorzuweisen hatte. Ein gezielter Hieb traf den Baum und ließ das kostbare Stampfholz splittern und die Baumrinde bersten. Schon der nächste Hieb traf die Frau am Arm, ein dritter und vierter streckte sie zu Boden. Die Kinder schrieen, doch es klang gedämpft, irgendwie weit weg. An der Hütte in der Morgensonne lehnte der Alte, an seiner Seite Enkembe. Ungerührt schauten die Beiden dem wütenden Treiben zu. Kaum, dass Esmeralda am Boden lag, kam Ntumba mit erhobenen Armen aus der Hütte gestürzt. Ohne ihre eigenen Schrammen und Kratzer zu beachten, die man ihr zugefügt hatte, lief sie wankenden Schrittes zu ihrer Tochter. Ein heftiger Tritt hielt Ntumba von ihrem Vorhaben ab, ließ sie taumeln. Es war Enkembe gewesen. Die Augen seines  Vaters hatten befohlen, Ntumba daran zu hindern, Mbele Einhalt zu gebieten.

Esmeralda war nicht wirklich bewusstlos gewesen, die Wucht des Schlages hatte sie nieder gestreckt. Den wütenden Mann hinter sich wissend, kämpfte sie sich mühsam empor, schwierig, das Gleichgewicht zu finden. Ihr linkes Auge war blutverklebt. Sie tastete nach der Platzwunde auf der Stirn und drückte den schmutzverkrusteten Handballen fest auf die Stelle, von der das Blut dunkel über die Schläfe rann. Mühsam stemmte sie den Oberkörper aufrecht und schob sich auf Knien näher zum Baum. Mit verkniffenen Lippen arbeitete sie sich weiter den Baumstamm empor, fand etwas Halt und zog sich in die Höhe, immer auf der Hut vor neuen Schlägen. Sie taumelte, klammerte sich wieder fest. Jetzt erst fand sie die Kraft, erneut zu schreien. Ntumba hatte inzwischen einen Schlegel zur Hand. Vergeblich. Ihr Mann Oscare war schneller gewesen. Der Wüterich Mbele ließ sich auf einem Holzpflock nieder und stützte seinen Kopf in beide Hände, wie ein friedlicher Krauskopf. Jeder Mensch hat seine gute und seine schlechte Seite, dachte ich. Wähnt man nicht sein Antlitz als die gute Seite, die Rückenpartie als die weniger gute? Bei Mbele musste es umgekehrt sein.

Der Schrecken hatte mir den Atem genommen. Ich räusperte mich, lauter und öfter als man sich gewöhnlich räuspert, wenn man bemerkt werden möchte. Enkembe warf seinen Kopf herum. Als er mich sah, kam er gelangweilt aber mit einem Grinsen über den breiten Lippen auf den Zaun zu. Sein Körper demonstrierte männliche Gelassenheit, nur seine Augen blitzten wild umher, von mir zu den Männern und wieder zu mir. So verunsichert wie er schien, so sicher war ich, er schäme sich für seinen Ausrutscher. Doch was ich dann bemerkte, war alles andere als das.

Bom dia, Amiga“, sagte er. Seine Stimme klang so sonderbar und in seinem Gesicht war plötzlich etwas Fremdes, Schlimmes, so dass ich beinahe vor ihm zurückgewichen wäre. Im ersten Moment löste dieser fremde Anblick eine winzige Verwirrung in mir aus, doch bald begriff ich etwas. Ich war in den normalen Lauf des Lebens im bairro geraten. Enkembe konnte lächeln, so wie er jeden Tag lächelte. Es war kein besonderer Tag.

Fui náo bon“, rügte ich ihn in meinem portugiesischen Kauderwelsch. Sprachlich dem Jungen unterlegen bemühte ich mich trotzdem, den strengen Blick zu behalten. Ich bat ihn, in die Hütte zu gehen und Ntumba zu holen, ich hätte ihr etwas zu sagen. Enkembe zögerte, immer wieder einen schrägen Blick auf mein Bündel werfend, das ich ganz fest hielt und nicht gewillt war, es einem zu geben, der sich über seine Mutter erhob.

Ntumba kam nicht sofort. Das war nicht außergewöhnlich, ihr Stolz gebot es ihr so. Lange Zeit hatte ich versucht, ihre Zurückhaltung den Umständen zuzuschreiben, unter denen wir uns begegnet waren; Durch Enkembe, der unsere Aufmerksamkeit erregt hatte, unser Mitgefühl, unsere Scham für unser gutes Leben. Doch das war einfach nicht mehr das Wesentliche, das schienen die Frauen zu spüren. Inzwischen vertrauten sie mir, einer Weißen und wie sie glaubten Wohlhabenden. Enkembe war als Bindeglied nicht nur unbedeutend geworden, ich begann ihn zu hassen. Jetzt hatte ich etwas in seinen Augen gesehen, in seinem Wesen, das mich erschreckte. Ich rang um eine Erklärung. Dieser Tritt eines von der Welt vergessenen Kindes - er war ja der Kindheit noch nicht entwachsen, einer Kindheit, die diesen Namen nicht verdiente – galt der ganzen Welt, dem Leben an sich, dem bairro, dem Hunger und dem Unrat, den sie sich und anderen leichtfertig zumuteten. Vielleicht galt seine Wut der Armut, die sie schlecht ernährte, die sie ihrer elementaren Rechte beraubte, die ihnen Entbehrungen und Gefahren brachte. Wieso konnte ich annehmen, ihre Seele verarme nicht? Der Hass in seinen Augen wäre auch nicht zu besänftigen gewesen, hätte ich die Kraft zur Güte überhaupt gefunden. Trotz innerer Zurechtweisung fand ich sie nicht. Mir war vielmehr, als müsse auch ich meine Hand erheben, auch wenn seine Zähne freundlich geblitzt hatten, als er mich stehen sah mit meinem Bündel, das ich fest vor meine erregte Brust drückte, obwohl ich es lieber über den Zaun geworfen hätte um wegzulaufen, wegzubleiben, heute, später, für immer. Es ging nicht. Ntumba und ihre Tochter Esmeralda brauchten Hilfe.

Ich wartete. Langsam schob sich der staubige, von unzähligen Rissen zerfurchte Fuß über den Balken am Eingang, dann der zweite. Ntumba kam angeschlurft, schwerfällig, nach vorn gebeugt. Sie umfasste meine Hand mit ihren beiden rauen, rissigen Händen, die so viele Wasserkannen geschleppt, so viele mühselige Feuer entfacht hatten. Die unendlich viele Stunden den Stampfstock geschlagen hatten. Diese Hände hielten mich fest, zwei, drei vier Sekunden lang. Lange genug für ein Zeichen des Dankes und der schüchtern erwachten Verbundenheit. Auf einmal war mir ihr Dank nicht mehr wichtig. Unwichtiger als meine eigene Gewissheit, das Richtige zu tun. Mein spartanisches Leben in diesem Land schien plötzlich unvergleichbar leichter als das Leben dieser von Mühsal gezeichneten Frau. Ich schämte mich und Ntumba konnte es aus meinen Augen lesen. Noch ehe ich eine Erklärung aus meiner verklemmten Brust quetschen konnte, redete sie, unaufgefordert, ununterbrochen, monoton, im Mix zwischen der Sprache ihres Volkes und einem leicht gefärbten Portugiesisch.

„Es gibt nicht mehr genug Bäume, um Holz für das Feuer zu haben. Man muss einen halben Tag laufen, bevor man auf welche trifft. Die Männer machen sich keine Sorgen. Die kommen und gehen, wann sie wollen. Früher, da waren wir nicht arm, wir hatten einpaar Ziegen, Enten und Hühner und zwei Rinder. Es waren meine Rinder. Meine.“

Sie tippte mit dem Finger auf die knochige Brust, immer bemüht, die zerschundenen Glieder geschickt zu verbergen. „Wir haben alles verkauft, unser Geschirr, unsere Decken und Matten, einpaar Möbel. Alles, was wir hatten, haben wir für Reis und Hirse weggegeben. Wir arbeiten hart, meine Tochter und ich. Die Kleinen können noch kein Wasser schleppen, keinen Mais stampfen.“

Enkembe kann helfen“, unterbrach ich sie, ohne mein Bedauern für das Erlebte, mein Unverständnis für die Herren der Schöpfung auszusprechen. Verbergen konnte ich es wohl nicht. Das merkte ich, als mir zum ersten Mal Ntumbas Unverständnis entgegen prallte.

Enkembe sei bald ein Mann. Ein Mann folge dem Vorbild eines Mannes, nicht dem einer Frau. Seit er sechs Jahre alt war, sei er von den Männern erzogen worden um ein Mann zu werden, er dürfe kein Wasser tragen.

„Es ist Krieg. Das ist nicht das normale Leben. Jeder muss dazu beitragen, die schwere Zeit zu überstehen.“

 „Der Krieg hebt nicht die Regeln auf. Wir haben alle darunter gelitten, Männer wie Frauen, Nachbarn wie Fremde, Freunde und Feinde. Zum Glück leben wir noch.“

Und dann krümmte sie ihren verknöcherten Rücken beinahe bis zur Erde und schob einpaar Worte über die schrundigen Lippen, die wie ein Gebet klangen, leise, eintönig und immer wieder dieselben: „Gott hat uns Donna Maxi geschickt.“

Das war kein theatralisches Getue, keine Dankeshymne, keine Freude aber auch kein Sarkasmus. Nichts, als die blanke Erschöpfung. Ich begann um mich selbst zu kreisen, den faden Widerschein einer selbstgefälligen Gönnerin zu verfluchen, den Weg der letzten Monate zu verteufeln, bis ich das kurze Flackern spürte, das Zucken vor der endlichen Erleuchtung. Das Wort, das Ntumba gesprochen hatte, war nicht Gott gewesen, nicht deus. Es klang wie kalunga und ich dachte bei mir, sie huldigen ihren Naturgöttern, die ich nicht kannte. Alles, was ich gesehen hatte, passte aber nicht zu einer Naturreligion. Die Natur müsse doch wissen, dass ohne die Mutter kein einziger Patriarch existieren würde. Nein. Es wies eher darauf hin, dass jener Glaube, den sie verhaftet waren, die Gewalt gegen Frauen legitimiere, wenn sie „ungehorsam“ seien. Auf diesem Weg war nun auch Enkembe. Hätte ich es nur nicht erlebt, ich wäre glücklicher. Die Prügel selber spürend, die Demütigung der Frauen wie eine eigene, schwere Last nach mir her ziehend, schlich ich zurück. Mein Kopf brauchte eine Aus-Zeit. Aus-Zeit hört sich positiv an, bejahend, schöpferisch für das Wachsen neuer Ideen, für das Erstarken neuer Kräfte. Wer denkt bei Aus-Zeit schon an Flucht. Ich aber war froh, für einige Zeit das Elend vergessen zu können, das von den Hütten ausging und kein Ende kannte.

 

Eine Zeit lang belog ich mich, unsere Vorräte seien zu stark dezimiert, als dass sich der Weg ins bairro  lohnen würde. Das Lohnende war längst nicht mehr das Kriterium. Schon ein einziges Stangenbrot hätte diesen Menschen geholfen. Hatte ich das schon wieder vergessen? Hatte ich vergessen, wie mein eigenes Glücksgefühl wuchs, mit jedem Tag, an dem es mir gelang, ein bisschen mehr Gelassenheit, einwenig Freude sogar in den Gesichtern der Frauen zu erkennen?  Wenn Arne mich gefragt hätte, ob ich noch einmal ins bairro  gehen würde, ich hätte unschlüssig mit den Achseln gezuckt. Ich bin kein Lügner, aber zuweilen hilft es, Unschlüssigkeit zu verschweigen. Wenn ich darüber nachgedacht hatte, da war mir alles so sinnlos erschienen, so aussichtslos gering. Immer, wenn alles wieder nah, wieder greifbar vor Augen lag, hatte ich keine Wahl mehr. Umzukehren würde mir nicht gelingen, also weitermachen wie bisher. 

 

Die mühseligen, mit einfachen Hausarbeiten angefüllten Tage hatten die schreckliche Erinnerung an den letzten Besuch bei Ntumba genährt, meine Unruhe geschürt. Was würde aus den Kindern werden, bliebe ich einfach fern? Eine unbestimmte Angst erfasste mich, die selbst das Weiterdenken zur Qual werden ließ. Man kann wohl seinen Worten, nicht aber den Gedanken befehlen zu schweigen. Eine unerklärliche Kraft zog mich wieder dorthin. Ich holte alles, was ich für diesen Zweck gesammelt hatte aus dem Schrank und begann mein Bündel zu schnüren. Reis, Brot und Salz aus der loga, für die Kinder eine Büchse Milchpulver und weiche Nickis, die eine Portion Staub vertrugen und denen die Kernseife im Wasser des Baches nicht schaden würde. Streichhölzer aus meinem schwindenden Vorrat, eine Bundjacke für Enkembe. Zuoberst legte ich den bunten Stoff, der für zwei Frauengewänder reichen würde, von denen ich noch immer nicht wusste, wie man sie hier nannte. Man hätte länger zusammen sein müssen, die Sprache besser lernen sollen, um sich wirklich zu verstehen. Toleranz alleine, deren ich mich heimlich rühmte, reichte nicht aus. Toleranz verträgt keine Fragen, Verstehen setzt Fragen voraus.  Was war nun meine Toleranz? 

Das moderne Wort war von Unseresgleichen längst missbraucht worden, ebenso das schöne Wort Gerechtigkeit. Gerecht ist, was einem zusteht. Das ungerechte an der Gerechtigkeit ist die Festlegung, was einem zusteht. Gelebte Toleranz aber rutschte längst vom Wesen der verständnisvollen Duldung in die Egal-Haltung ab.  Wie klein kann der Schritt von der Toleranz zur Ignoranz sein?

 

Über den halben Weg bis ins bairro dachte ich an nichts anderes, als an das Leid der Frauen in der patriarchalischen Welt. Kein Mann könne ermessen, welch tiefe Kränkung die beiden Frauen erfahren hatten. Ntumba war der erste und vielleicht einzige Mensch in meinem Leben, mit dem mich etwas verband, das kaum dazu taugte, Freundschaft genannt zu werden. Sowenig es mir darum ging, den großherzigen Gönner zu spielen und dafür geliebt zu werden, so wenig hätte ich es vertragen, Ntumbas unterwürfige Dankbarkeit zu erfahren. Zum ersten Mal dachte ich an jenem Tag an die beiden Männer und daran, wie sehr wohl ich deren unterwürfige Dankbarkeit genossen hätte. Mit ruhiger Erwartung, dass eine der Frauen gleich aus der Hütte treten und mit freudig erhobenen Armen zu mir an den Zaun kommen würde, blieb ich mit meinem Bündel unter dem Arm stehen. Nach geraumer Zeit gab ich einem der Kinder einen Wink und zeigte ein bunt eingewickeltes Bonbon. Die Kleinen hatten sich bei jedem Besuch von mir an diese kleine süße Freude gewöhnt.  Weder die Kleine kam an den Zaun, noch ließ sich Ntumba blicken, nur zwei schmale Schultern an den Baum gelehnt verrieten, jemand kehrte mir den Rücken zu. Ich weiß nicht mehr, warum ich ihn nicht wirklich wahrnahm, vielleicht, weil ich die Männer des Hauses mit Verachtung strafte, vielleicht, weil mein schweres Bündel zu stören begann, die Hitze unerträglich wurde.

Ntumbas Erscheinen brachte ein Strahlen in mein Gesicht, für einen Moment, dann schwand es wieder und gab dem Schrecken Platz. In ihrem runzeligen, faden Gesicht war nichts Besonderes zu entdecken, so lange, bis ihre gelben Augen zu sprechen begannen. Sie glänzten, doch es war keine Freude. Ein Gemisch aus Trauer, Wut und Sorge schlug mir entgegen. Als sie nach meinem Arm griff und ihren Kopf zurück zur Hütte drehte, erschienen die beiden Männer am Tor. Sie liefen nicht wortlos wie sonst an mir vorbei, sondern einen Gruß murmelnd und wenn mich meine Wahrnehmung nicht täuschte, lächelte sogar einer, bevor sie den staubigen Weg entlang liefen, dem Platz entgegen, wo sie die anderen Müßiggänger treffen würden, die ihnen den erbärmlichen Tag verkürzen halfen. Allein diese Vorstellung ließ mich den Gruß und das Lächeln vergessen.

 Vem ca“, sagte Ntumba und zog mich zum ersten Mal seit ich an diesem Zaun erschien, zur Hütte hin. „Enkembe“, zischte sie mit stillem, traurigem Blick.

Es war der Junge, der da im Schatten saß, mit dem Rücken an den Baumstamm gelehnt. Er rührte sich nicht, ganz im Gegenteil zu mir, die ich vor Entsetzen beinahe laut zu schreien begonnen hätte. Mein ganzer Körper bekam einen Schmerz zu spüren und ich hatte nur Mühe, meine Hände in Schach zu halten. In Enkembes Gesicht, dem die Natur einst ein bisschen mehr Farbe, ein bisschen mehr Höhen und Tiefen gegeben hatte, sah jetzt bleich und erbärmlich aus. Schon nach dem ersten Blick, der mich traf, zuckte der wulstige Mund, blähten sich die Nasenflügel und die Augen weiteten sich starr, bis das Weiß des Augapfels herauszuquellen drohte. Auf seiner Stirn perlten dicke Schweißtropfen. Als er mich sah lächelte er gequält und deutete auf den dicken Stumpen, der mit dunklen Fetzen umbunden einmal sein linkes Bein gewesen war. Sein rechtes Bein baumelte herab, die dicke, verkrustete Hornschicht am Fuß mit tiefen, klaffenden Schrunden schien für ihn noch wie ein Segen zu sein, weil der Allmächtige es ihm gelassen hatte. Bei der bloßen Vorstellung, wie viel Verzweiflung, wie viel Lebenssehnsucht aus seinen feuchten Augen sprach, brannte mein Schmerz umso heftiger. Wie mochte er innerlich gezittert haben, welche Schmerzen hatte er hinter dem Lächeln versteckt? So tapfer dieses Lächeln war, so unerträglich mein Gefühl der Ohnmacht und Scham. Am liebsten hätte ich mich davonstehlen wollen, aus diesem bairro, aus diesem Land, von diesem Kontinent, heim in unsere heile Welt. Man will nichts sehen, will blind und taub und stumm zugleich sein und fühlt doch die dünne Haut um sich herum. Ich spürte, wie die Kraft mich verließ als fiele ich in ein tiefes Loch und ich sah den Jungen, der vor einiger Zeit ein Mann zu werden sich ausprobierte und nun  als Krüppel auf der Matte vor seinem Haus verkümmerte. Alle Kraft hatte ihn verlassen und sein flehender Blick wünschte nichts, als der Himmel möge über ihm zusammenstürzen und ihn unter sich begraben, so wie seine Illusionen begraben waren, die wenigen, die ein Kind von dieser Welt noch haben konnte. Jetzt saß er hier, verstümmelt unter Vielen, die sein Schicksal teilten, und weinte ohne eine einzige Träne zu vergießen.

„Dieses Teufelszeug trägt viele Namen“, sagte Ntumba. „Eines hieß Enkembe. Es lag unter der Erde und wartete geduldig, bis er nah genug war. Geh nie vom Wege ab und sei auf der Hut. Eines könnte deinen Namen haben.“

Sie spuckte dreimal in die flache, zitternde Hand und strich mir beschwörend über den Scheitel, ehe ihr schleppender, nach vorn gebeugter Gang sie mitsamt dem Bündel zurück zur Hütte trug. Über den tausendfachen Tod zu reden, der so namenlos blieb, wie ein weißes Blatt Papier, hatten wir gelernt. Den kombas zu lauschen, war etwas ganz Normales geworden. Aber das Entsetzen so nah, so direkt zu sehen und nichts ungeschehen machen zu können, das war etwas, das tausend Höllenfeuer entfachte. Für Sekunden wünschte ich mir jenes Leben, wie es hätte in diesem Moment sein können – wohl behütet, ohne Angst, ohne den Blick auf Hunger und Tod, genauen Regeln folgend und angepasst, um nicht den größten Schaden zu nehmen, den man in der Heimat hätte nehmen können. So zu denken war töricht. Es half nicht. Nicht jetzt und nicht hier. Der Schock war mir in die Glieder gefahren und wich nun langsam flammender Wut. Ich schloss die Augen und stellte mir noch einmal das Bild des feinfühligen Jungen im Ringelpullover vor, der meine Aufmerksamkeit erregt hatte, weil sein heller Blick das Elend überstrahlte. Er war für mich die pure Zuversicht gewesen. Jetzt wich der Frieden aus seinem Herzen, das keine Schuld erkennen konnte, als die Schuld der Mächtigen dieser Welt, die Unmenschliches zuließen.

 

Bisweilen auf  meinem Weg zurück vom bairro fühlte ich mich frei, als habe ich soeben eine Schuld beglichen. Dieses Mal nicht. Ich fühlte mich schuldig, von dieser Gefahr nichts gewusst zu haben. Was könnte man tun? Was kann die Welt tun? Welche Welt? Die einen verdienen am Krieg, die anderen auch. Dieser Krieg, der nicht enden wollte, der noch lange sein Tribut forderte, als die Kriegstreiber längst die Waffen streckten, ließ sein Teufelszeug im Schoß der Erde ruhen, noch jahrelang unzählige Unschuldige treffend. Für alle, die den Tod mehrerer Hunderttausend von Menschen noch nicht für eine Katastrophe hielten, für die waren auch fünf Millionen Minen in angolanischer Erde nicht erwähnenswert. Ntumba war eine einfache Frau vom kargen Land, ohne besondere Bildung. Doch wie Recht sie einst hatte, begriff ich wohl deshalb nicht, weil mich ihre Worte zutiefst verletzt hatten. Einfache Worte, die ihre anfängliche Skepsis erklärten: Die Absicht der Fremden ist wie das Feuer. Du kannst deine Hirse damit kochen oder dein Haus anbrennen.

 

Kein noch so gerader Weg hätte mich schnurstracks nach Hause geführt. Um zur Besinnung zu kommen, brauchte ich Zeit und Ruhe. Reden ist nicht immer das Klügste, auch dann nicht, wenn der Verstand gegen Verstandesfeindlichkeit rebelliert.

Also lief ich schweigend jenen holprigen Weg entlang in jene Richtung, aus der  ich vor langer Zeit mit Arne gekommen war, bevor uns Enkembe begegnete. Entlang der Gleise öffnete sich der Blick auf den luftigen Glockenstuhl einer weißblauen Kirche, der die Rückankunft in der Zivilisation bedeutete. Der Anblick dieser Erhabenheit unter dem tiefblauen Mittagshimmel brachte nicht nur Farbe in meine trüben Gedanken, er weckte Kindheitsgefühle, die von jeher in mir schlummerten, die aber hier zu einer Art Erbauung erwachten. Eine unwiderstehliche, leidenschaftliche Kraft trieb mich in diese Richtung, die so gar nichts mit meinem Heimweg zu tun hatte. Die Tür stand offen, nur ein Gitter schützte die Betenden auf ihren harten Bänken vor Ungebetenen. Und dann – mir war es, als sei ich versteinert, vor Freude und gleichermaßen vor Schmerz - die Gemeinde erhob sich und sang, so unvergleichlich schön, so bedrückend schwer und so kunstvoll wie ein vielerprobter Gospelchor es nicht besser könnte. Diese hohe Kunst des singbaren Gottlobs war mir nirgendwo so schön, weil so innig und frei und ohne die Last einer Pflicht, vorgekommen. Jetzt wusste ich, warum ich den langen Weg in dieses bairro nicht längst verfluchte. Alles, was man aus tiefstem Herzen tut, kann keine Last sein.

 

 

Erklärung gekennzeichneter Wörter:

 

Amigo – Freund         

a minha esposa / casa – meine Frau / Zuhause

bairro – Armenviertel  

bom dia – guten Tag (Morgen)

camiso – Hemd / Pullover     

deus – Gott

eu nao queria trocar – ich will nicht tauschen

fui nao bon – das war nicht gut

gujome – Gebräu / Alkohol

kalunga - Naturgott

komba – Totenfeier

loga – Laden

nao conheces tamben – das kennst du auch nicht?

onde – wo

obrigad – danke

o meu filho – mein Sohn

praca – Schwarzmarkt

so para ti – Nur für dich

tenho uma prenda – ich habe ein Geschenk

vem ca – komm

ze-ninguem - Nichtsnutz




Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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