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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Hannibal im Garten

© Gertraud Klemm


Ich erwachte spät morgens schwitzend auf der Couch, die wachsende Hitze des Samstagvormittags schwer auf der Brust. Samstag. Familientag.
Heute war so ein eigentlich Tag. Eigentlich hätte ich arbeiten gehen können und sollen. Eigentlich ging es mir zu Hause nicht besser. Eigentlich könnte ich diesen gestohlenen Urlaubstag genießen. Stattdessen lag ich auf der Couch, bewegungsunfähig und depressiv, ein fleischgewordener volkswirtschaftlicher Schaden. Über mir hing eine schwere Wolke der Konjunktive und Attribute. Ich könnte doch. Es würde schon. Man sollte zumindest. Das Sommerwetter draußen war von kühner Schönheit. Die Redakteurin würde bald anrufen und mich in meiner ruhmlosen Scheinkrankheit stören. Ich schloss die Augen und dachte an ihre Strumpfhosen, die ihre dicken, säulenartigen und dennoch muskulösen Beine umspannten. Sie trug immer Strümpfe, egal wie heiß es draußen war. In meiner Fantasie stöckelten diese Beine körperlos, Hauptsache bestrumpft, an mir vorbei, in diesem ewig von Kaffeegeruch verseuchten Büro, hin zu dem Sumpf meiner kraftlosen erotischen Flaute, worin sie versanken. Innehalten. Der Gedanke an Kaffee wurde zu jener Versuchung, die meine matte, halbherzige Geilheit neutralisierte, bis die Koffeinwirkung verheißungsvoll genug schien, um mich kurz aus der Lethargie zu entlassen. Ich erhob mich, immer noch in Boxershorts, unrasiert und muffig, männlich, riechend und ging in die Küche, um mir einen Espresso zu machen. Während die Maschine ihre unangenehmen asthmatischen Geräusche von sich gab, öffnete ich das Fenster zum Garten.
Mein Nachbar kniete soeben vor seiner Ligusterhecke und vollzog einen offenbar schwierigen gärtnerischen Akt an den Wurzeln seiner Pflanzen. Heute trug er, wie sonst auch an heißen Tagen, knapp abgeschnittene Shorts und sein haariger Hintern stand grotesk erhöht vor dem Panorama der dichten Chlorophyllwand. Ich musste an Yvonne denken, die mich immer kreischend vor Begeisterung und Abscheu zum Fenster gezerrt hatte, wenn Walter Dvorak das tat, was sie "seine Pflanzen sexuell belästigen" nannte. "Sieh Dir das an! Man sieht einfach alles! Was glaubst Du, warum er keine Unterhose trägt? Meint er, das ist Verschwendung??"
Ich goss mir einen Kaffee ein, überlegte kurz, verlängerte ihn mit einem guten Schuss Grappa, zündete mir eine Zigarette an und begab mich zurück an die Fensterbank. Der heiße, veredelte Kaffee züngelte sich seinen Weg durch die Speiseröhre, umschmeichelte sie und kleidete auch meinen Magen wohlig aus.
Yvonne war eine Frau gewesen, die frei von Eigentlich war.
Jede Beziehung trägt ein Geheimnis unter dem Herzen. Ein kleiner Satz, ein Wort, ein Postskriptum, ein Fluch, der jeder unserer gemeinsamen Handlungen innewohnt. Bei uns allen stellen sich irgendwann unaufgefordert kleine, unscheinbare Kommentare ein, die Antworten auf Fragen tragischen Ausmaßes in sich bergen. Bei einigen meiner vorangegangenen Affären lautete der Kernsatz immer öfter: "warum eigentlich". Ein Attribut ungeschminkter, kausaler Endgültigkeit.
Ich hatte auch Liebschaften, die durch das PS "warum eigentlich nicht" gekennzeichnet waren. Warum gehen wir eigentlich nicht ins Kino. Warum schlafen wir eigentlich nicht mehr miteinander. Warum eigentlich keine Kinder. Ja, warum eigentlich nicht. Das waren vielleicht die schlimmsten Fälle. Reinfälle.
Eigentlich ist nie gut. Das Wort breitet sich über unser Leben, wie ein Pelz auf der Zunge. Das Wort ist eine Pest.
Der Nachruf auf Yvonne und meiner Beziehung war eine lange, fette Salami aus Selbstvorwürfen, von der ich mir immer noch fast täglich ein dickes Stück abschneide. Gelänge es, diesen Sermon in kurze prägnante Worte zu fassen, würden sie lauten: ich Idiot.
Ich sog an meiner Zigarette und sah aus dem Fenster. Die Bemühungen meines Nachbarn schienen heute über rein gärtnerische Belange hinauszugehen. Seine Bewegungen waren rastlos, sein Hinterteil wogte unruhig wie eine Boje im Sturm und erweckte den Verdacht, dass er etwas suchte.
Walter Dvorak war ein neurotischer, frühpensionierter Spiegeltrinker, der sich aber alle Mühe gab, offen zu seinem Spießbürgertum zu stehen. Seine Frau arbeitete wie ein Tier, um sich und ihrem Mann dieses gutbürgerliche Leben am Stadtrand ermöglichen zu können. In den Sommermonaten schien sie - zumindest in ihrer Freizeit - ausschließlich in ausgeleierten Bikinis herumzulaufen, wobei sie sich nicht davor scheute, ebenso spärlich bekleidet bei mir anzuläuten, mir belanglose verirrte Post zu überbringen und mir dabei einen Blick auf ihre zentimeterlangen Haare auf den Beinen zu gönnen. Die Ausblühungen der Gutbürgerlichkeit des Ehepaares Dvorak waren jährlich wiederkehrende Sommerfeste, bei denen Walter seine schmerbäuchigen Bekannten und deren kastenförmige Frauen euphorisch begrillte, wobei er dazwischen im Rausch der fast schon ekstatischen Fleischzubereitung dem Drang erlag, verstohlen in den Komposthaufen neben dem gemauerten Grillturm zu urinieren. Yvonne war an diesen Tagen nicht mehr zu halten. Mit fester Hand umklammerte sie mein Handgelenk und erwartete gepeinigt vor Vorfreude den Moment, in welchem Walter Dvorak verlässlich seinen primären Bedürfnissen freien Lauf ließ und sein bestes Stück auspackte. "Jetzt!!", rief sie, "Jetzt pinkelt er in den Kompost! Und warte, er wird sich auch heuer nicht die Hände waschen, bevor er wieder seine Würstel weitergrillt! Da.. da.... Siehst Du? Er macht das absichtlich. Es ist etwas Sexuelles."
Ihre Begeisterung in solchen Situation erfüllte mich mit Leben und ich trat dann hinter sie, umarmte sie liebestoll und partizipierte an diesen verschwenderischen Gefühlsausbrüchen wie ein stiller, dankbarer Parasit.
Yvonne war Vergangenheit. Sie war eine geistig gesunde, liebenswerte aber verrückte Handarbeitslehrerin, die ein Spielball ihrer Phantasien und Emotionen war. Eine bunte Überraschung in meinem trendigen, fahl gewordenen Journalistenleben, ein Geschenk, aber auch eine unmögliche Groteske, die ich mir längerfristig nicht zu leisten erlaubte. Stattdessen leistete ich mir eine magere Schönheit aus dem Anzeigenverkauf, an deren Namen ich mich nicht erinnern will.
Meine Hand griff zum Grappa als die Türglocke schrillte. Ich erschrak und zuckte zurück. Der Gedanke an Frau Dvorak in ihrer unvermeidlichen freudlosen Fast-Nacktheit ließ mich zögern. Sollte ich schnell etwas überziehen oder ihr den Anblick meines lächerlich gewordenen, gealterten Junggesellenkörpers zumuten, mit allem Drum und Dran, vom Schlaf verlegten Brusthaaren, traurigen, unnutzen Brustwarzen, Bäuchlein, dürren, krummen Storchenbeinen? Warum eigentlich nicht; verdient hätte sie es sich ja redlich. Ich ging in den Vorraum und entriegelte die Türe.
Im ersten Moment sah ich niemanden, also blickte ich hinab. Vor mir stand die Enkelin der Dvoraks, Leonie, ein Mädchen unschätzbaren Alters, 4, 5, 6 Jahre alt, wer weiß das schon; jedenfalls in kommunikationsfähigem Entwicklungsstatus. Ihr Gesicht war verzerrt vor Weinen, eine kubistisch anmutende Komposition aus verzweifelten Mimikfragmenten, Rötungsnuancen, umgeben von einer Korona wirren flachsblonden Haars. Aus unerklärlichen Gründen hatte dieses Kind einen Narren an mir gefressen, lief mir in der Einfahrt entgegen, zeigte mir ihr neues Spielzeug, legte mir abgerissene Löwenzahnblütenköpfe und krakelige Zeichnungen vor die Türe, kokettierte mit meiner beschämenden Unbeholfenheit. Auch wenn ich mich eigentlich in Ihrer Gegenwart unsicher und wie ein Trottel fühlte - Ich mochte sie irgendwie, vielleicht aus einem atavistischen Vaterinstinkt heraus, oder weil das kosmische Gleichgewicht mir abverlangte, dieser unverdienten Zuneigung eine Erwiderung angedeihen zu lassen.
Ich betrachtete das Häufchen Elend mit wachsender Panik. Irgendetwas war hier faul und ich hing mit drin, weil Erwartungen in mich gesetzt wurden, die die verdiente, träge Nutzlosigkeit meines Samstagvormittags gefährdeten. In meiner Hilflosigkeit hockte ich mich auf meine kratzige Fußmatte und legte meinen Arm vorsichtig auf ihre Schulter. "Pssst.", versuchte ich es. "Jetzt mal ganz langsam. Was ist denn passiert?"
Einem Stakkato von Schluchzen und Sprechen entnahm ich schließlich, dass die Schildkröte Hannibal seit den frühen Morgenstunden abgängig war. Daher also die auffälligen Aberrationen im Verhalten von Walter Dvorak.
Ich hatte die Schildkröte Hannibal schon ein paar mal am Rande wahrgenommen, wenn ich durch den Vorgarten musste, um in meine Wohnung zu gelangen, Eile vortäuschend, immer auf der Hut, um nur ja nicht mit dem unbehaglichen Dunstkreis der nachbarlichen Spießbürgerlichkeit in Kontakt zu kommen, fast so, als wäre ich auf der Flucht vor einer ansteckenden Krankheit.
Eine Schildkröte also, mein Gott. Ein schmutzigbrauner, mit Ausnahme des Raschelns von Laub geräuschloser Schatten, der sich unendlich langsam durch jene Zone meines Habitats, die ich wie die Pest mied, bewegte. Ein einziges Mal hatte ich das Tier aus der Nähe gesehen; als es neu und aufregend war, hatte Leonie mir das nutzlose Reptil unter die Nase gehalten, mit dem befremdlich ledrigen Bauch nach oben, die krummen, bekrallten Stummelbeine in gemächlichem Protest rudernd, der warzige Kopf tief in den Panzer zurückgezogen wie ein nie gebrauchtes, schlecht funktionierendes Geschlechtsorgan. Damals hat die Schildkröte mir sogar Leid getan, aber im Moment hatte ich mehr Angst vor den Konsequenzen, die sich aus dem Verlust des Reptils für mich ergaben. Ich versuchte es mit berechnendem Schweigen, vielleicht konnte ich diesem Kind wortlos zu verstehen geben, dass ich mich heute, und genau genommen eigentlich nie in der Lage sah, Probleme dieser Belanglosigkeit zu lösen auch nur zu wollen.
Ich blickte auf den geknickten blonden Schopf und wähnte mich schon in Sicherheit, als sich der Kopf hob und ich in ein Paar verweinter, blauer Kinderaugen sah, deren Ausdruck meine Berechnung fürchten lehrte. "Hilfst Du uns suchen?"
Wenige Minuten später trat ich in den Garten, mit T-Shirt, Unterhose und Badeschlapfen hinter einer siegessicheren Leonie herwatschelnd und als mich der dankbar nickende Blick Walter Dvoraks traf, fühlte ich mit Grauen eine Art Verbundenheit. Wenige Momente zuvor noch quasi ein Unberührbarer, war er jetzt mein Komplize in einem Unterfangen, das uns beiden offensichtlich gleichwenig Freude bereitete. Wenigstens war mein Nachbar nicht in Redelaune, ich hatte Glück.
Leonie plapperte unentwegt, schilderte, wo sie schon gesucht hatte und was Hannibal am liebsten fraß und welche Farbe seine Scheiße hatte. Ich hörte lieblos zu und suchte widerwillig die Ligusterhecken nach der gepanzerten Kreatur ab, die mir diesen meinerseits gestohlenen Samstag praktisch aus zweiter Hand stahl. Es war absurd. Erst jetzt, drei Jahre nach meinem Einzug in dieses Haus, nahm ich den Garten zum ersten Mal im Detail wahr. Die Liguster standen dicht wie Gitterstäbe um den gepflegten Rasen, am südlichen Ende sprossen verheißungsvolle Triebe aus einem scharf abgezäunten Beet; lediglich die Rosen ließen Vernachlässigung erkennen, um ihre Knospen und jungen Triebe ein lückenloser Kettenpanzer fetter schwarzer Läuse. Leonies Plappern war nicht mehr zu hören, sie befand sich am anderen Ende des Gartens. Ich fürchtete ihre baldige, kontrollierende Rückkehr, fiel, Mühe vorschützend, auf die Knie und betrachtete die Aussicht der vom Gießen erdbespritzten Stämme, die meinem Nachbarn zuteil wurde, wenn er jene Arbeiten verrichtete, die Yvonne die zweifelhafte Freude bereiteten, seinen Arsch in die Höhe gereckt betrachten zu dürfen. Ich beschloss, die Chance wahrzunehmen, den berüchtigten Komposthaufen einmal aus nächster Nähe zu inspizieren und schlenderte um ihn herum. Der übliche muffige, vegetarische, süßliche, aber nicht unangenehme Verwesungsgeruch stieg mir in die Nase, Ahnungen von Kohlenstoffkreisläufen und verschüttete Fragmente aus dem Biologieunterricht aufwühlend. Die Erinnerung an unseren absurden, buckligen, spindeldürren Biologielehrer aus der Mittelschule stieg in mir auf. "Der Stoffkreislauf des Stickstoffs", pflegte er wiederholt zu sagen, "ist ein sehr heterogener." Wir haben uns damals über den Satz halb tot gelacht.
Wie Walter Dvorak stellte ich mich vor den Grillturm und stellte mir den Garten voller Gäste vor. So blöd war der Platz nicht: man konnte doch tatsächlich unbemerkt grillen und gleichzeitig in den Kompost urinieren, der Grillturm und eine diskret platzierte Thujie schirmten das Sichtfeld ab, wiegten einen in scheinbarer Sicherheit, von meinem gut platzierten Küchenfenster mal abgesehen. Ich erwog, es auszuprobieren, hatte aber keinen Urin vorrätig. Fast ärgerte ich mich darüber.
Wieder auf den Komposthaufen blickend fiel mir der bewegungslose, braune Umriss auf, der unter dem Kompost hervorlugte. Es war zweifellos Hannibals Hintern, der hier meine Aufmerksamkeit erregte. Dieses perverse Reptil hatte sich den ekligsten Platz im Garten ausgesucht, um uns, mit dem Kopf in der dampfenden Verderbnis aus Gras, Hausabfällen und Pisse steckend, zum Narren zu halten. Ich widerstand dem euphorischen Bedürfnis, meinen Triumph laut hinauszuschreien; irgendwie fürchtete ich um das Leben der Schildkröte. So fiel ich auf die Knie, griff mir das ledrige Tier an seinen Panzerrändern und hielt es vor mein Gesicht. Der müde Blick und die kreisenden ruckartigen Bewegungen seiner Extremitäten verrieten mir, dass es lebte. Befremdliche Wärme schlich sich in meine Brust, ich konnte kaum glauben dass mich tatsächlich Dankbarkeit und Freude erfüllten. Egal, ich sprang auf, hielt Hannibal mit beiden Händen in die Höhe und schrie: "Ich hab ihn, ich hab ihn!!"
Die Wiedersehensfreude verwandelte Leonie in ein still sitzendes, überglückliches gurrendes Mädchen, das in Minutenabständen den Panzer der Schildkröte zärtlich an die Wange drückte. Wir saßen auf den Eingangsstufen im Schatten, Walter Dvorak bedachte mich periodisch mit feuchten, dankbaren Blicken, und nickte mir lächelnd zu, bevor er mit dem eiskalten Bier, welches er uns "zur Feier des Tages" aus der Küche geholt hatte, zuprostete.
"Weißt Du, Leonie, wir sollten Hannibal einen Laufstall bauen, damit er nicht wieder weglaufen kann.", begann er.
"Ja, aber kann er da noch richtig schön spazieren gehen?", entgegnete Leonie, sich kurz aus der innigen Liebkosung mit dem Reptil lösend. Ich stöhnte auf, genervt von dem unendlichen Quell kindlicher Forderungen. "Man könnte auch ein Loch in den Panzer bohren und ihn anketten. Oder einen Luftballon durchfädeln. Dann sieht man immer, wo er ist, weil dort der Ballon dick und fett in der Luft schwebt.", sagte ich, ohne es im Geringsten ernst zu meinen. Entgegen meiner Erwartungen erhellte sich Leonies Gesicht und sie strahlte mich an. "Kannst Du das machen?"
Einige Stunden später schlenderte ich verlegen durch die Menschenmenge, die sich mittlerweile im Garten der Dvoraks eingefunden hatte. Walter hatte darauf bestanden, mich zum heurigen Sommerfest einzuladen, jetzt, wo wir per Du waren und ich mich bei der ganzen Familie unwiderruflich beliebt gemacht hatte. Ab sofort würde meine wie ein Schatz gehütete Abgeschiedenheit nicht mehr möglich sein, ein Verlust, der unangenehme Konsequenzen wie peinliche Konversationen, die Forderung unliebsamer Gefälligkeiten oder eben auch Einladungen wie diese zu Folge haben würde. Ich klammerte mich an meine Bierflasche und kämpfte mich durch zum Grill. Die üblichen Bekannten der Posischils waren auch heuer alle da, in all ihrer Prallheit und Gewöhnlichkeit und ich in ihrer Mitte. Ich tat mein bestes, heute nicht noch einen Kapitalfehler zu begehen und beschwor mich selbst, für die kurze Zeit, die ich noch höflichkeitshalber zu bleiben gedachte, den Mund zu halten. Im Gegenlicht der goldenen Spätnachmittagssonne und benebelt von Bier und dem Duft der ersten Würstchen auf dem Grill sah ich nur die Umrisse der Leute: fast schöne Anblicke, leuchtende Haarkränze, darüber ein insektenreicher, königsblauer Abendhimmel.
Am rechten Gartenrand schwebte ein rosa Luftballon auf Augenhöhe, mit einer dünnen Perlonschnur und einem dicken Tropfen Pattex auf Hannibals Panzer geklebt. Niemand hatte sich getraut, das Loch zu bohren, wer kann schon wissen wie so ein Schildkrötenpanzer funktioniert, was weh tut, was nicht und wo das Fleisch wieder beginnt, und das letzte was ich heute noch brauchte, war eine verletzte jammernde Schildkröte.
Endlich war ich bei Walter angelangt, der soeben ein Gespräch mit einem seinem kugelbäuchigen Freunde beendete. Der kam auf mich zu, klopfte mir väterlich auf die Schulter, brummte "Gut gemacht." und ließ uns allein. Walter war mittlerweile so betrunken wie ich und der Gesprächstoff war uns schon am ersten Tag unseres kennen Lernens ausgegangen. Wir starrten auf die brutzelnden Würstchen, auf das Entstehen und Platzen der Brandblasen auf deren Häuten. Mein Gesicht glühte wohlig, während ich mich in den Flammen verlor und wieder an Yvonne denken musste, bis mich ein üppiger Harndrang aus der Vertiefung riss. "Ich muss mal.", verkündete ich, immer noch ins Leere starrend. "Ich auch.", brummte Walter. Ich wollte schon in Richtung Haus gehen, als Walter mich am Ellenbogen zurückhielt und den Kopf schüttelte. Ich grinste breit. Ob er ahnte, dass Yvonne ihn immer beobachtet hatte? Breitbeinig stellte ich mich neben ihn vor den Haufen und ließ all das Bier aus mir herausplätschern, unsere Urinstrahle zwei parallele goldene Parabeln, die mit einem dumpfen Prasseln dampfend im Kompost verschwanden. Dann hob ich meinen Blick und sah verschwommen auf mein halboffenes Küchenfenster. Mit ein wenig Phantasie konnte ich mir Yvonne hinter der Scheibe versteckt vorstellen, wie sie uns dabei zusah. Ich lächelte und schloss die Augen, um das Bild für immer in meine Netzhaut einzubrennen.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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