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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Wunsch

© Manuela Ahrens


Autobahnkreuz Frankfurt. Maja seufzte. Sie hatte schon ein ganzes Stück der Wegstrecke zurückgelegt. Frankfurt war für sie immer die Grenze zwischen Norden und Süden, und der Süden war es auch, dem sie jetzt entgegenfuhr.
Allmählich hob sich ihre Laune, und sie begann, mehr an das Bevorstehende zu denken als an das, was hinter ihr lag. Den ganzen ersten Teil ihrer Fahrt war die sie Ereignisse der letzten Tage und Wochen noch einmal durchgegangen, wie als ob sie sie dadurch besser verstehen konnte. Glücklich oder zumindest zufrieden war sie schon lange nicht mehr. Ihr Job in der Bibliothek, der sich auf stupide Registriertätigkeiten beschränkte, war nur als Übergangslösung gedacht gewesen, und dauerte für Majas Geschmack mittlerweile schon viel zu lange und erstickte sie durch Langeweile. Privat sah es auch nicht rosiger aus. Der Mann, den sie über alles liebte, hatte sich leider nicht in sie verliebt. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, hatte er zudem aus für Maja unverständlichen Gründen die Freundschaft abgebrochen. Das war nun zwar schon einige Wochen her, aber sie litt noch immer darunter.
Leider waren in den letzten Tagen noch unerwartete Schwierigkeiten dazu gekommen. Majas Chefin war noch nie freundlich zu ihr gewesen und hatte einige Zwischenfälle wegen Kleinigkeiten provoziert, doch was vor ein paar Tagen passiert war, übertraf alles Bisherige. Wegen eines Zahlendrehers bei der Dateneingabe für die Buchregistrierung hatte ihre Vorgesetzte sie nicht nur kritisiert, sondern ihr auch eine schlechte Arbeitsmoral vorgeworfen und war schließlich sogar zum Personalchef gegangen, um dort ihre Entlassung zu fordern. Maja hatte daraufhin unangenehme Befragungen hinter sich bringen müssen und, obwohl die Anschuldigungen ihrer Vorgesetzten nicht bewiesen werden konnten, war es jetzt mehr als unsicher, ob ihr in Kürze auslaufender Vertrag noch verlängert werden würde. Die Unsicherheit quälte Maja dabei sogar mehr als der Gedanke an die Tatsache, dass sie wohl bald einen neuen Job brauchen würde. Doch das war längst noch nicht alles. In der letzten Woche hatte sich auch das Verhältnis zu ihrem bisher sehr netten und hilfsbereiten Kollegen Wolfgang in eine völlig unerwartete Richtung entwickelt. Er fühlte sich auf einmal dazu motiviert, Maja unzweideutige Anträge zu machen, und als diese entschieden ablehnte, versuchte er, seine Wünsche mit Gewalt durchzusetzen. Maja konnte nur die Flucht ergreifen. Als sie sich wieder gefasst hatte, reichte sie kurzentschlossen Urlaub ein. Ihr war das alles viel zu viel. Sie konnte den Gedanken nicht mehr ertragen, in die Bibliothek zu gehen, und sich diesen beiden Menschen auszusetzen. Zu Hause bleiben wollte sie aber auch nicht. Während sie überlegte, was sie jetzt machen sollte, erinnerte sie sich an ihren Onkel Peter aus der Schweiz, der sie ein paar Tage zuvor angerufen und zu sich eingeladen hatte.
Das Gespräch mit ihm war zwar nur kurz gewesen, hatte aber trotzdem viele Emotionen in Maja ausgelöst. Sie mochte ihren Onkel sehr gern. Er hatte keine eigenen Kinder und sah deshalb die Tochter seines Bruders gar zu gern als Tochterersatz. Maja fand das keinesfalls unangenehm, denn ihr Onkel war ein sympathischer Mensch mit guten Manieren und zudem ein Mann von Welt. Er war nicht ganz unvermögend, und Maja staunte regelmäßig über seinen Lebensstil und über alles, was er aufbot, um ihr eine Freude zu bereiten.
Die Besuche bei ihm erschienen ihr immer als kurze Ausflüge ins Paradies.
Nur einen kleinen Wehmutstropfen gab es dabei: Ihre heißgeliebte Freiheit und Spontaneität musste sie meist ziemlich einschränken, um ihren Onkel und die übrigen Verwandten in all ihren Bemühungen um sie nicht zu enttäuschen.
Und so viel Familienleben war sie einfach nicht gewöhnt. Unwillkürlich tauchten dann Bilder aus der Schweiz vor ihrem geistigen Auge auf, die sich ihr im letzten Sommerurlaub dort tief in die Seele gegraben hatten. Ihre Verwandten wohnten größtenteils im Berner Oberland - wo die Schweiz am schönsten war, wie Maja fand. Es gab dort Seen von einem Grünblau wie aus dem Bilderbuch, und majestätisch thronten die hohen Berge über ihnen.
Erinnerungen an Almhütten, Kühe, Blumenwiesen, Paraglider am Himmel und an eine glücklichere Zeit kamen hoch. In Gedanken war sie wieder an den eleganten Uferpromenaden der vielen Seen, spazierte durch die sich anschließenden malerischen und stilvollen Orte und fühlte sich wie in einer anderen Welt. Die Nähe des Südens war überall spürbar. Dann tauchten Bilder ihrer Verwandten vor ihr auf, und sie erinnerte sich an ein besonders denkwürdiges Picknick auf dem Sankt Gotthard. Sie wusste noch ganz genau, wie sie dort oben auf der Passhöhe gestanden und sehnsüchtig nach Süden geblickt hatte. In den windigen Höhen sah man nur Geröll und Felsen, selbst im Sommer noch Schneefelder und dazwischen Gras, eisige Bäche und kleine Bergseen. Es war eine ganz und gar unwirkliche Mondlandschaft. Maja fühlte sich dort wie auf dem Gipfel der Welt - ganz besonders auch deshalb, weil es auf der anderen Seite schon zur italienischen Schweiz, dem Tessin, hinunterging, was für Maja schon der Beginn des Südens war. Und mitten in dieser unirdischen Gegend saß sie damals mit ihren Verwandten auf Campingstühlen - wie als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt. - Dieses Telefonat war das einzig Schöne in der ganzen Woche gewesen. Maja zögerte nicht lange, rief ihren Onkel an und fragte, ob sie spontan zu ihm kommen könnte. Wie sie nicht anders erwartet hatte, war sie willkommen.
So kam es also, dass Maja sich jetzt auf dem Weg zu ihren Verwandten in die Schweiz befand. Flucht war zwar keine Rettung, aber was sollte sie auch machen? Sie hoffte, dass sie aus einigem Abstand heraus die Situation würde besser beurteilen können und dass es ihr dann vielleicht möglich wäre, eine Lösung zu finden. Als Maja Frankfurt hinter sich hatte breitete sich trotz all der schlechten Erinnerungen Urlaubsstimmung aus, und sie begann, die Songs aus dem Radio mitzusingen. Selbst der Stau, in den sie hinter Frankfurt geriet und der sie fast eine halbe Stunde kostete, störte sie nicht. Erst als es weiter im Süden heftig zu regnen begann, wurde ihr das Fahren allmählich etwas beschwerlich. Sie war mittlerweile auch schon müde.
Es war nicht mehr weit bis zur Grenze, als sie feststellte, dass sie dringend Benzin brauchte. Also hielt sie an, um zu tanken. Dummerweise hatte eine große Zahl anderer Autofahrer zur gleichen Zeit dasselbe beschlossen, und es gab eine lange Schlange. Maja hatte aber keine Wahl: Ihr Benzin reichte nicht mehr lange. Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass an der Tankstelle, die sie durch Zufall ausgewählt hatte, gerade ein Schichtwechsel stattfand. Der Einfachheit halber wurden deshalb die Zapfsäulen für eine halbe Stunde abgestellt. Maja wusste das erst nicht. Sie stand, eingekeilt in einer von mehreren parallel stehenden Autoschlangen, und wunderte sich und wartete. Schließlich sprach sich die Nachricht auch bis zu ihr herum. So etwas glaubte einem doch niemand! dachte Maja. Das klang schon wie aus einem dummen Scherz oder einer Satiresendung. Da standen mittlerweile Dutzende von Autos und warteten, dass sie endlich tanken durften. Und wer wegfahren wollte, um es woanders zu versuchen, hatte nur Glück, wenn er am Ende der Schlange stand. Sonst war ein Entkommen unmöglich.
Nach einer Dreiviertelstunde hatte Maja es endlich geschafft und fuhr gleich zur nächsten Telefonzelle, um ihren Onkel zu verständigen. Sie hatte sich mit ihm an einer Raststätte verabredet, weil er umgezogen war und sie sein neues Haus noch nicht kannte. Schon während sie an der Tankstelle stand, hatte sie versucht, ihn anzurufen, aber ihr Handy war mal wieder wegen eines Netzlochs funktionsunfähig, und so konnte sie ihrem Onkel bisher nicht sagen, dass sie viel zu spät dran war. Von der Telefonzelle aus erreichte sie ihn jedoch nicht mehr zu Hause: Er war offensichtlich schon losgefahren. Und natürlich besaß er kein Handy. Maja tat das alles unheimlich leid, aber ändern konnte sie nichts mehr daran. Als sie sich dann, mittlerweile schon ziemlich übermüdet, wieder in Bewegung setzte, dauerte es gar nicht lange, und sie bekam das nächste Problem: Vor der Grenze staute sich der Verkehr nämlich etliche Kilometer lang. Armer Onkel, dachte sie. Aber was konnte sie tun? Nur hoffen, dass sie ihn doch noch irgendwann auf dem verabredeten Parkplatz antraf. Zweieinhalb Stunden später kam Maja am Treffpunkt an - nicht ganz drei Stunden später als geplant. Maja hatte schon befürchtet, ihren Onkel gar nicht mehr auf dem Platz vorzufinden, aber sie erkannte ihn schnell an seinem riesigen gelben Regenschirm. Er hatte tapfer ausgehalten und eine Ewigkeit in der Kälte und im Regen auf sie gewartet. Nicht einmal in das angrenzende Restaurant war er gegangen, aus Angst Maja zu verpassen. Erleichtert schloss Maja ihren Onkel in die Arme. Es war schön, diesen lieben Menschen wiederzusehen, der seine Freude über ihr Wiedersehen so offen zeigte. Nach einer kurzen Begrüßung stieg jeder in sein Auto und Maja sollte hinter Peters Wagen hinterherfahren. Auf der Abfahrt von der Umgehungsstraße, die in eine unübersichtliche Kreuzung mündete, schummelten sich allerdings einige Wagen zwischen sie, und prompt verlor Maja den Anschluss. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als an den Straßenrand zu fahren und zu warten, dass ihr Onkel seinen Verlust bemerkte. Doch noch bevor sie in Panik ausbrechen konnte, hatte er schon gewendet und kam zu ihr zurück.
Als sie nach einer langen Fahrt und mehreren Staus endlich vor dem Haus ihres Onkels am Brienzer See hielt, wurde es schon bald dunkel. Aber sie war auch erleichtert, denn wenigstens waren ihr ein plötzlicher Wintereinbruch und verschneite oder sogar unpassierbare Straßen erspart geblieben. Jetzt erst merkte sie, wie erschöpft sie war. Das schöne Anwesen ihres Onkels konnte sie schon gar nicht mehr richtig wahrnehmen. Dann wartete jedoch eine Überraschung auf sie, die sie auf einen Schlag wieder wach machte: Sobald sie das Haus betrat, wurde sie von ihrer Tante Anna und dessen Mann begrüßt.
Anna hatte zur Begrüßung extra etwas für Maja gekocht und führte sie sofort ins Esszimmer. Maja fand es sehr angenehm, so verwöhnt und umsorgt zu werden. Das war der richtige Balsam für ihre in den letzten Tagen so gequälte Seele. Nach dem gemeinsamem Abendessen machte sich allerdings Majas Erschöpfung unvermeidlich bemerkbar und auch ihre furchtbaren Rückenschmerzen meldeten sich wieder, die Maja immer dann zu spüren bekam, wenn sie lange Zeit angespannt sitzen musste. Dadurch wurde ihr die Unterhaltung auf einmal zuviel, und sie musste sich hinlegen, was bei ihren Verwandten sichtlich zu Enttäuschung führte. Maja seufzte. Diese ganze unerfreuliche Fahrt mit ihren Folgen war typisch für sie: Was schiefgehen konnte, ging schief. Warum war das nur immer so in ihrem Leben? Sie wusste keine Antwort.
Etwas später ging es Maja allerdings schon wieder ein bisschen besser. Sie war zwar durch ihre Schmerzmittel wie leicht benebelt, hatte aber ein schlechtes Gewissen, für den Rest des Abends im Bett zu bleiben, weil ihre Tante extra wegen ihr aus Bern gekommen war. Da sie befürchtete, irgendwann am Tisch einzuschlafen, überredete sie ihre Verwandten noch zu einem Spaziergang am bereits im Halbdunkel liegenden See. Das entschädigte sie für die Strapazen der langen Fahrt. Maja liebte das trotz der Jahreszeit immer noch überall deutlich spürbare südliche Ambiente, das in ihr stets ein noch größeres Fernweh hervorrief. In die Unterhaltung vertieft ging sie mit ihren Verwandten die beleuchtete Uferpromenade entlang, bis es vollkommen finster war. Dann besuchte sie mit ihnen noch ein Restaurant am See, wo sie Tessiner Wein und Schweizer Käse mit Blick auf den durch die umliegenden Häuser und Ortschaften erleuchteten See genossen. Amüsiert stellte Maja auf diese Weise fest, dass sie ihre Vorliebe für Wein offenbar mit ihren Verwandten teilte - vielleicht sogar von ihnen geerbt hatte, falls es so etwas gab -, denn sie tranken Wein, als wäre es Wasser und als gäbe es nichts anderes. Natürlich war das keine ideale Kombination mit Majas Müdigkeit und ihren Schmerzmitteln, wie sie bald feststellen musste. Aber glücklicherweise brauchte sie ja heute nicht mehr Auto zu fahren, und eine etwas vernebelte Sicht der Welt war ihr im Moment ganz recht. Sie hatte in den vorangegangenen Tagen zu genau hinsehen müssen.
Der nächste Tag war ein Sonntag, und zwar einer, der seinem Name alle Ehre machte. Als Maja aus dem Fenster sah, traute sie ihren Augen nicht: Über Nacht hatte es geschneit, und die Berglandschaft war in ein Wintermärchen verwandelt worden. Zudem war auch das Wetter ganz wundervoll. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen, blauen Himmel und reflektierte sich glitzernd im Weiß des Schnees. Maja atmete durch, wie als wollte sie die Ereignisse der letzten Woche von sich abschütteln. Jetzt war sie in einer neuen Welt, jetzt konnte der Urlaub beginnen. Ihre Verwandten hatten an diesem Tag einen Ausflug für sie organisiert. Sie machten zusammen eine Tour um die Seen der Zentralschweiz. Und nichts hielt sie davon ab, ein Picknick mitten im Schnee zu machen. Mal etwas anderes, dachte sich Maja, und genoss es, obwohl sich ihre Füße hinterher wie gefroren anfühlten. Es wurde der schönste Tag, den sie seit langem erlebt hatte. Sie war geradezu fasziniert von den Bergen und Seen im Schnee. Sie kannte diese Gegend bisher nur im Frühjahr und Sommer und war überrascht, zu welchem ungewöhnlichen Blau sich das Wasser der Seen jetzt verwandelte. Natürlich war es, wie bei dem Türkisgrün im Sommer auch, nur die Spiegelung - die Bäume und Berge reflektierten sich im Wasser, wie ihre Verwandten immer sagten, und verliehen ihm daher diese fast irreal wirkende Farbe. Trotzdem war es wie ein Anblick aus einer anderen, paradiesischen Welt für Maja. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen und machte noch einen langen Spaziergang. An ihre unschönen Erlebnisse von zu Hause dachte sie dabei gar nicht mehr. Wen interessierte das auch inmitten solcher Naturschönheiten? Es war fern, unendlich fern. In einer anderen Welt. Am Abend hatten sich dann noch Verwandte aus einem anderen Teil der Schweiz angesagt, und man verbrachte die halbe Nacht mit Erzählen bei dem einen oder anderen Gläschen Wein.
Am nächsten Morgen erfuhr Maja, dass ihre Tante Anna mit ihrem Ehemann für eine Woche bleiben würde. Maja musste sich Mühe geben, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. Sie mochte ihre Tante zwar gern, aber sie wäre diesmal lieber mit ihrem Onkel allein gewesen. Das hatte seine Gründe. Da Maja in ihrem jetzigen Lebensumfeld nicht glücklich war und keinen angemessenen Job finden konnte, überlegte sie nämlich, ob sie nicht vielleicht in eine andere Gegend ziehen sollte. Natürlich hatte sie dabei auch an die Schweiz gedacht und im Stillen etwas auf die Verbindungen ihres Onkels spekuliert, der die richtigen Leute zu kennen schien. Jetzt würde ihr Vorhaben schwierig werden, denn einfach in Ruhe reden war kaum möglich, wenn die hektische und mitteilsame Anna in der Nähe war. Ihre Tante meinte sie es nur gut, das wusste Maja. Sie dachte, der notorische Junggeselle Peter könne sich nicht richtig um seinen Gast kümmern. So sagte sie es jedenfalls scherzhaft zu ihrer Nichte, als sie ihr mitteilte, dass sie noch bleiben würde. Wie Maja Anna einschätzte, gab es jedoch auch noch einen anderen, weniger selbstlosen
Grund: Sie liebte die Abwechslung und genoss es sichtlich, dem heimatlichen Alltag entflohen zu sein, die verschiedensten Ausflüge zu machen und den Rest der Verwandtschaft zu treffen. In Gedanken nannte Maja sie immer "La Mamma", denn sie entsprach vollkommen dem Klischee vom Typus einer italienischen 'Mamma'. So sehr Maja auch nachdachte, eine bessere Bezeichnung zur Beschreibung ihrer Tante fiel ihr nicht ein. Anna war temperamentvoll im Guten wie im Schlechten, lebenslustig, mitfühlend und gleichzeitig der Chef, das Herz und die Seele der ganzen Familie. Maja erschien sie wirklich unheimlich lieb und fürsorglich, aber manchmal auch recht anstrengend, weil sie ihr einfach alles abnahm - Denken und Planen inklusive. Doch um ein Gespräch mit ihr über Majas derzeitige Probleme zu führen, war Anna beim besten Willen nicht die Richtige. Denn Zuhören war nicht gerade ihre Stärke und mit dem Berufsleben hatte sie auch so gut wie keine Erfahrung. Zum Reden blieb ohnehin nicht viel Zeit, da Majas Tante auch für diesen Tag schon Pläne gemacht und entsprechende Verabredungen getroffen hatte. Es war ein Besuch bei Majas Großonkel Franz geplant, der mitten in den Bergen in einer almähnlichen Hütte wohnte und den sie bisher noch gar nicht kennengelernt hatte. Denn der Kontakt zu ihren Schweizer Verwandten bestand erst seit einigen Monaten und beschränkte sich bisher auf eine überschaubare Zahl gegenseitiger Besuche. Maja wusste auch nicht, wo er genau wohnte, weil es keinen größeren Ort in der Nähe gab, und nach all den Bergen, die sie hinauf und wieder hinunter fuhren, und all den Serpentinen, die sie bewältigen mussten, hatte sie erst recht keine genaue Vorstellung davon. Ihr drehte sich nämlich durch die kurvige Strecke alles, und sie hätte sich am liebsten eine Weile ausgeruht, aber sie mochte ihren Verwandten gegenüber nicht zugeben, dass ihr schon wieder nicht gut war.
Alles Leid war jedoch vergessen, sobald sie bei der Hütte ihres Großonkels angekommen war. So etwas kannte sie bisher nur aus Filmen: Eine Holzhütte mit Schafen und Kühen darum herum, inmitten von Wiesen voller bunter Blumen, die eingebettet lagen in eines kleines Tal zwischen hochaufragenden, steilen Bergen. Die nächsten Nachbarn wohnten gerade noch auf Sichtweite. Maja hielt es gar nicht im Haus, sie musste unbedingt einen Spaziergang durch die wunderbare Gegend machen. Ihr Großonkel begleitete sie. Er erzählte ihr unter anderem einiges über ihre Schweizer Vorfahren, die sie selbst nicht mehr kennengelernt hatte, weil sie verstorben waren, noch bevor Maja den Kontakt zu dem Schweizer Teil ihrer Familie aufgenommen hatte. Vieles erstaunte Maja sehr, da sie erkannte, dass sie nicht nur dasselbe Blut hatten, sondern auch vom Charakter her einander ähnlich waren. Sie fand in diesen verstorbenen Familienmitgliedern vieles von sich selbst wieder. Die große Religiösität und das temperamentvolle, gefühlvolle Wesen mit einem zeitweisen Hang zur Dramatik, die sie immer als etwas Eigentümliches an sich betrachtet hatte, waren in ihrer Familie fest verankert. Maja hatte sich lange Zeit gefragt, warum bei ihr vieles ganz anders war, als bei den übrigen Menschen in ihrem Umfeld - jetzt verstand sie, woher es kam und dass es keineswegs so seltsam war. Auch das Reisen und das Fernweh gehörten sozusagen wie eine Familienkrankheit dazu. Schon ihr Urgroßvater war sehr viel unterwegs und das in seiner Zeit, wo so etwas doch eher eine Seltenheit darstellte und den Reicheren vorbehalten blieb. Diese Unterhaltung mit ihrem Großonkel war also sehr aufschlussreich für Maja und wohl das wichtigste Gespräch ihrer Reise. Denn sie begegnete sich selbst und lernte verstehen, dass alles seinen Ursprung und seinen Sinn hatte. Der Abschied von ihrem Großonkel fiel ihr schwer, doch sie mussten schon früh fahren, weil der Heimweg lang war und es Schnee geben sollte. Es war ganz unglaublich, aber sie hatte einen Menschen, mit dem sie nur ein paar Stunden verbracht hatte, so ins Herz geschlossen, als hätte sie ihn schon ihr ganzes Leben gekannt.
Man unterbrach die Fahrt dann noch für ein Abendessen auf einer urigen Alm im Emmental mit Kühen vor dem Fenster, Unmengen von Käse und natürlich Vino und zudem irgendwelchen sahnehaltigen Spezialitäten zum Nachtisch. Das war ein ganz spezielles Erlebnis und ein schöner Abschluss eines eindrucksvollen Tages. Die ganze Zeit über war Maja nämlich in einer ganz anderen Welt gewesen, in der ihre Sorgen keine Rolle mehr spielten, in der sie so akzeptiert wurde, wie sie war. Ihr Leben zu Hause war ihr unendlich fern in diesem Moment und gänzlich irreal. Warum musste es dort eigentlich so anders sein als hier? Doch bald bekam Majas Stimmung leider einen Dämpfer, weil das fettreiche Abendessen die Heimfahrt über die Serpentinen für ihren Magen zu einer echten Bewährungsprobe machte. Wie konnte es auch anders sein, dachte sie gequält. Warum immer ich?
Nach all den Verwandtenbesuchen und vor allem der magenunfreundlichen Fahrerei brauchte Maja am folgenden Tag dringend eine Erholung. So viel Leben und Erzählen um sie herum war sie gar nicht gewohnt. All diese Menschen in ihrer Nähe waren zwar sehr nett zu ihr, aber wenn man das Alleinsein gewöhnt war, konnte es auch unheimlich anstrengend werden. Sie wollte an diesem Tag einfach nur am See spazierengehen, durch das Örtchen bummeln und nett etwas essen gehen. Und das tat sie dann auch. Das einzige nicht so schöne Erlebnis hatte sie in dem wirklich wunderschönen Restaurant mit Seeblick. Als sie die Rechnung bekam, verschlug es ihr nämlich fast den
Atem: Für das Geld konnten zu Hause gleich ein paar Leute essen gehen. Dabei war es nur ein ganz normales Restaurant, und Maja hatte sich auch nichts Außergewöhnliches bestellt. Das war halt die negative Seite der Schweiz ...
Sie seufzte wehmütig über den Verlust des Geldes, der sie schon schmerzte, weil sie nicht gerade reichlich davon hatte. Eigentlich kannte sie die Schweizer Preise ja schon von ihren vorhergehenden Besuchen, in ihrer momentanen Glückseligkeit hatte sie sie allerdings völlig vergessen. Das passierte halt, wenn man mal einen Augenblick mit den Gedanken woanders war, tadelte sie sich hinterher nicht allzu ernst gemeint, denn es war ohnehin nicht mehr zu ändern. Nachmittags versorgte sie sich aber lieber aus dem Supermarkt und dem Stehcafé - das kostete dann genauso viel wie zu Hause ein normaler Cafébesuch. Tja, so war das halt. Dafür wohnte sie ja immerhin umsonst. Also würde die Reise sie schon nicht ruinieren.
Am Tag darauf stand schließlich wieder ein Ausflug mit den Verwandten - von Maja schon ein bisschen ironisch als "Gemeinschaftsausflug" bezeichnet - auf dem Programm, der sie in verschiedene nette Städtchen führte. Insgesamt war es ein sehr harmonischer und angenehmer Tag, wenn man davon absah, dass vier Personen auch zuweilen vier verschiedene Meinungen hatten, was die Entscheidungsfindung schon etwas kompliziert gestalten konnte. Letztlich gelang es ihnen jedoch immer, irgendetwas auszuwählen, dem alle zustimmen konnten. Abends wollte Maja endlich mal wieder in ein Konzert gehen - etwas, das sie besonders liebte und schon lange nicht mehr gemacht hatte. Doch daraus wurde leider nichts. Denn bei ihrer Rückkehr vom Ausflug stand bereits der nächste Verwandtenbesuch vor der Tür. Irgendeine Maja bisher völlig unbekannte Großtante aus Zürich. Im Nu musste dann etwas in der Küche gezaubert werden, was zu hektischer Tätigkeit führte, und abends ging es auch wieder recht lange, weil der Besuch keine Lust zur Heimfahrt hatte.
Maja fragte sich inzwischen im Stillen, ob ihre Verwandten sich immer gegenseitig überfielen und niemals vorher anmeldeten. Für sie war das wirklich mehr als gewöhnungsbedürftig... Allmählich artete diese ständige Präsenz irgendwelcher Familienmitglieder für Maja zum Stress aus, weil unendlich viel geredet, gegessen und getrunken wurde, und sie dementsprechend davon abgehalten wurde, etwas für sich zu tun - ihren eigenen Gedanken nachzuhängen oder etwas zu unternehmen, was ihr Spass machte. Sie musste sich eingestehen, dass sie Gesellschaftsleben in der Art gar nicht mehr gewohnt war und wohl doch so etwas wie eine Einzelgängerin geworden war in der letzten Zeit. Sie hatte ja schon von vornherein damit gerechnet, dass sie - wie bei ihren vorigen Besuchen auch - wieder einmal mit dem Verwandtenproblem zu kämpfen haben würde. Doch dieses Mal machte es ihr schwerer zu schaffen als sonst. Sie musste sich dringend von all dem distanzieren, damit die vielen schönen Momente letztlich überwogen und sie gelassen über diese kleinen Beeinträchtigungen hinwegsehen konnte.
Mittlerweile war es schon Donnerstag, und Majas Zeit in der Schweiz ging allmählich dem Ende entgegen. Sie hatte nur eine Woche Urlaub bekommen und musste spätestens am Sonntag zurückfahren. Was jetzt noch auf Majas Wunschliste stand und deshalb zusammen mit ihren Verwandten am nächsten Tag auch in Angriff genommen wurde, war eine Fahrt auf "ihren" Berg, wie sie ihn nannte, den Sankt Gotthard. Als sie losfuhren, war noch nicht einmal klar, ob sie überhaupt dorthin gelangen würden, denn die Straße war im Winter normalerweise nur bis nach Andermatt offen, einem beliebten Skiort, zu dem man die Straße wegen der Touristen frei hielt, und das letzte Stück zum Pass blieb dann meist gesperrt. Da Majas Onkel bisher noch nichts davon gehört hatte, dass der Pass inzwischen nicht mehr passierbar war, versuchten sie es also und hofften, dass es möglich war. Für den Fall, dass die Straße doch gesperrt war, hatte Maja sich vorgenommen, sich zu Fuß in Richtung Passhöhe auf den Weg zu machen. Ihr war gar nicht klar, ob das bei den sie erwartenden Verhältnissen überhaupt zu schaffen war, aber sie wollte es zumindest probieren. Denn dieser Ort war etwas ganz Besonderes für sie. San Gottardo, wie sie ihn liebevoll mit seinem italienischen Namen nannte, war für sie der Berg unter den Bergen: Er war ihr ganz persönliches Tor zum Süden, den sie so sehr liebte. Doch Maja hatte Glück: Die Straße war noch offen. So fuhren sie direkt bis zur Siedlung auf dem Gotthard - falls man diese Ansammlung von einer Handvoll Häusern denn so nennen konnte. Maja kam es plötzlich in den Sinn, in die kleine Kapelle zu gehen. Sie war nicht besonders schön und auch nicht reich verziert im Inneren, aber irgendwie hatte sie etwas Ungewöhnliches, fand Maja. Vielleicht war es auch nur die Tatsache, dass es in dieser unwirtlichen, fast menschenleeren Gegend überhaupt eine Kirche gab. Auf einmal spürte sie das Verlangen, sich gerade an dieser Stelle einen passenden Partner zu wünschen. Irgendwo tief in ihrem Inneren existierte nämlich die Hoffnung, dass ihr Leben sich sofort zum Guten wenden würde, wenn sie nur den richtigen lieben Menschen an ihrer Seite hatte. Eigentlich verfolgte sie dieser Traum schon sehr lange, aber durch die positive Wirkung, die die Zuwendung ihrer Verwandten bei ihr hatte, wurde die Sehnsucht danach noch stärker. Sie wollte wirklich gern ein neues Leben beginnen. Denn so wie bisher ging es nicht mehr weiter. Mit ihrem Job nicht und vor allem nicht mit der Trauer um Thorsten, die sie permanent in einen melancholischen Zustand versetzte. Als sie einige Zeit später aus der Kapelle herauskam, hatte sie das sichere Gefühl, dass alles in Ordnung kommen würde und eine tiefe Freude erfüllte sie. Als sie einige Zeit später ihr Handy wieder einschaltete, hatte ihr jemand auf die Mailbox
gesprochen: ausgerechnet der Mann, von dem sie loskommen wollte. Sie war vor der Erinnerung an ihn geflohen und prompt hatte es sie eingeholt. Er wollte einfach mal mit ihr reden und wissen, wie es ihr ginge, hatte er auf der Mailbox hinterlassen. Warum tat er das? Und warum gerade zu diesem Zeitpunkt? Was für ein Schicksal! Jedenfalls hatte Maja seinen Anruf auf diese Weise verpasst. Nun war sie erst einmal total verwirrt.
Auf der Rückfahrt wollten die Verwandten ihr noch etwas Gutes tun und ihr einen weiteren Pass zeigen. Man fuhr deshalb schnell vom Gotthard herunter, bald darauf über eine kurvige Straße auf den nächsten Pass hinauf und auch dort wieder hinunter, weil ihre Tante schon den nächsten Plan hatte. Majas Magen fühlte sich bereits auf der Bergaufstrecke nicht mehr wohl, doch als ihr Onkel dann mit seinem schicken Sportwagen flott die Serpentinen vom Berg herunterflitzte, bekam Maja nicht nur Angstzustände, sondern auch ein Ohrensausen, das immer schlimmer wurde. Sie rief völlig gequält: "Halt an, ich muss hier raus!" Aber Peter konnte nicht anhalten. Man durfte auf den schmalen Straßen nur dort stehen bleiben, wo Haltebuchten in den Fels geschlagen waren. Maja hatte inzwischen so furchtbare Ohrenschmerzen, dass sie dachte, ihr platze der Kopf, und irgendwie bekam sie jetzt auch keine Luft mehr. Inzwischen war ihr alles egal - sie wäre notfalls sogar aus dem fahrenden Auto gesprungen, wenn das nur ihre Qual beendet hatte. Doch da kam endlich der nächste Parkplatz, Peter stoppte sofort und Maja sprang aus dem Auto, weil sie dachte, sie würde sonst ersticken. Leider hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihr total schwindelig war. So verlor sie schon nach ein paar Schritten völlig die Orientierung und wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Das nächste, was sie bemerkte, waren Tannennadeln unter ihr und besorgte Stimmen über ihr. Irgendein Mann, der sich hinterher als Arzt auf Wandertour herausstellte, verabreichte ihr gerade ein unangenehm schmeckendes bonbonartiges Etwas. Ihr Körper habe durch die schnelle Überwindung der Höhenunterschiede wohl den Druckausgleich nicht richtig bewältigt, und letztlich habe ihr Kreislauf dem nicht standgehalten. Das Bonbon enthalte ein blutdruckstabilisierendes Mittel, das schnell wirke, meinte er noch. Jedenfalls schmeckte es furchtbar, und Maja merkte, wie ihr übel davon wurde. Sobald der Arzt weg war, spuckte sie das eklige Zeug daher aus. Maja mochte keine großen Männer, die sich über sie beugten und sie mit Dingen fütterten, die sie gar nicht wollte - aber in diesem Fall hatte sie leider keine Wahl gehabt. Sie fand es wirklich nicht schön, so hilflos zu sein, aber allein kam sie momentan nicht zurecht. Obwohl sie stillag, drehte sich alles in ihr - sie fuhr permanent Karussell. Als sie den Kopf hob, dachte sie, sie würde stürzen. Nicht einmal die Arme und Beine konnte sie mehr richtig bewegen. Sie versuchte zwar, einen Becher mit Tee in die Hand zu nehmen, bekam jedoch ihren Arm nicht vom Boden, weil er so fürchterlich kribbelte. Es dauerte noch einige Zeit, bis sie nicht mehr das Gefühl hatte, ihre Beine würden unter ihr zusammenbrechen. Mit Hilfe ihrer Verwandten schaffte sie es schließlich irgendwann ins Auto. Damit hatte der schöne Ausflug leider ein ziemlich abruptes Ende gefunden. Man fuhr sie gleich nach Hause, wo sie dann den Rest des Tages im Bett verbrachte. Ihr gerade erst beschlossener Neuanfang musste also erst einmal warten. Aber dafür gab es ja auch noch so viel Zeit, tröstete sie sich. Da durfte sie heute ruhig ein bisschen in Selbstmitleid zerfließen.
Der nächste Morgen kam für Majas Empfinden viel zu früh - sie fühlte sich nämlich nicht viel besser als am Vorabend. Aber es war bereits Samstag - ihr letzter Tag. Also stand sie doch auf, denn sie wollte unbedingt noch ein letztes Mal die Gebirgsluft genießen. Nach dem Frühstück ging sie ein paar Schritte, musste aber ständig anhalten, weil es ihr einfach zu schwer fiel.
Da es zu kalt war, um auf den von ihr so geliebten Parkbänken zu sitzen, ging sie schließlich in ein Café am See. Als sie sich setzte, merkte sie erst, wie schlecht es ihr ging. Sie hatte nämlich genauso wahnsinnige Ohrenschmerzen wie am Vortag und auch ziemliche Kreislaufprobleme. Deshalb war sie sich gar nicht sicher, ob sie in dieser Verfassung am nächsten Tag überhaupt nach Hause fahren konnte. Sie machte sich schon Sorgen, denn sie wollte jetzt nicht auch noch krankgeschrieben werden. Wie das dann wieder aussähe... Als sie längere Zeit in dem Café gesessen und etwas getrunken hatte, wurde ihr etwas besser und gleich kamen auch die alten Gedanken zurück. Ihr Entschluss, ein neues Leben zu beginnen, fiel ihr wieder ein.
Nun, der Beginn ihres neuen Lebens war wirklich stürmisch verlaufen. Maja musste grinsen. So hatte sie sich das eigentlich nicht gedacht: Erst der Anruf von Thorsten und dann der Kreislaufkollaps. Das klang ja fast so, als hätte der Anruf sie umgehauen. Aber so komische Dinge passierten halt öfter in ihrem Leben.
Schließlich wurde sie ernst. Ein Neuanfang war ja gut - aber was konnte sie tun, um ihren Entschluss in die Tat umzusetzen? Wenn sie mit Logik vorging, stand an erster Stelle erst einmal der Beruf. Sie brauchte einen neuen Job und zwar so schnell wie möglich. Auch wenn es sicherlich wieder keine Dauerlösung war - sie konnte und wollte nicht länger an der Bibliothek bleiben. Das machte sie auf Dauer nur krank. Hoffentlich gelang es ihr, etwas anderes zu finden. Dann kam ihr Privatleben. Irgendwie war ihr das momentan auch nicht ausgefüllt genug. Es gab gelegentliche Treffen mit Freunden, zuweilen Theater- und Kinobesuche und natürlich den Chor.
Letzterer war inzwischen aber eher Stress als alles andere. Also brauchte sie einen neuen Chor und vielleicht zusätzlich etwas Sportliches. Neue Bekannte könnten ebenfalls nicht schaden. Und da war sie wieder an dem Punkt ... Warum nicht zu dem allen auch noch einen neuen Mann? Das erschien ihr jedenfalls als das beste Mittel, um Thorsten zu vergessen. Und es gab ja sicherlich auch Exemplare, die nicht wie Thorsten oder seine Vorgänger waren. Nur, wie fand man so jemanden? Der Rat ihrer Freundin, den sie erst so entschieden als unsinnig und nicht erfolgversprechend abgelehnt hatte, fiel ihr wieder ein. Irgendwie schien das jetzt eine Möglichkeit zu sein.
Eine Kontaktanzeige... Wo sollte sie auch sonst jemanden finden? Beim nächsten Job vielleicht? Nein danke, lieber nicht. Wenn dann etwas schief ging, war sie nur wieder lange am Leiden.
Auf einmal klingelte das Handy und riss Maja aus ihren Gedanken. Es war Thorsten! Er wollte sie unbedingt sprechen, sich entschuldigen für das, was er getan hatte und ihr erklären, wie alles gekommen war. Maja war sprachlos.
Ihr Kontakt zu Thorsten war genauso abrupt wieder zustande gekommen wie er abgebrochen war. Und nun war er wieder an einer Freundschaft mit ihr interessiert. Aber Maja reichte das nicht mehr. Sie wollte etwas anderes.
Möglicherweise war eine Kontaktanzeige wirklich der Anfang von allem? Der Schlüssel zu Veränderung und Glück? Sie nahm sich jetzt vor, gleich nach ihrer Rückkehr probehalber einfach einmal eine Annonce aufzugeben. Sie rechnete zwar nicht unbedingt damit, dass sich jemand auf so etwas meldete, aber es kam zumindest auf einen Versuch an. Und selbst wenn sie Antworten erhielt, dann war sicherlich auch ganz viel Unsinn dabei. Aber eventuell gab es ja unter den Kandidaten sogar jemand, der für eine Bekanntschaft, Freundschaft oder mehr taugte? Sie hatte also durchaus die Hoffnung, dass man auf diese Weise ein paar neue Menschen kennen lernen konnte. Und wer konnte es schon wissen - unter Umständen entstand dadurch ja sogar etwas ganz Unerwartetes?
Irgendwann wurde Maja bewusst, dass sie fast drei Stunden in dem Café verbracht hatte. Ihre Rechnung war mittlerweile unbemerkt in astronomische Höhen angewachsen. Also zahlte sie schnell und ging noch in die Stadt, um ein paar Einkäufe zu erledigen, denn sie wollte natürlich ihren Freunden daheim etwas Besonderes mitbringen. Gegen Abend traf sie schließlich wieder bei ihrem Onkel ein, wo sie schon sehnsüchtig von ihren Verwandten erwartet wurde, die extra für sie ein schönes Abschiedsessen vorbereitet hatten. Der Abend verging wie im Fluge, und man machte Pläne für das nächste Wiedersehen.
Am nächsten Morgen ging es Maja glücklicherweise gut genug, um die lange Autofahrt durchhalten zu können, und so wurde notgedrungenermaßen Abschied genommen, was besonders bei Tante Anna sehr tränenreich endete. Auch Maja war gerührt von soviel Gefühlsäußerung. Obwohl sie nun wieder zurückmusste zu ihren alten Problemen, fuhr sie mit guter Laune heim, denn irgendwie gab ihr die Annoncengeschichte neue Hoffnung. Es war zwar nur eine kleine Chance, dass dabei der richtige Mann auftauchte, aber immerhin eine Chance ... Außerdem konnte ihr das Ganze auch mächtig Spaß bringen. Sie machte sich sogar schon Gedanken über den Text, der ihr die bestmögliche und am besten zu ihr passende Auswahl an Männern bringen sollte. Als sie schon einige Zeit unterwegs war, bemerkte sie, was sie total vergessen hatte: das Gespräch mit ihrem Onkel über ihre berufliche Situation. Das hatte wohl so sein sollen.
Wozu auch immer es gut war, seufzte Maja.
Im Gegensatz zur Hinfahrt verlief die Rückfahrt ganz normal, und so war Maja schon nachmittags wieder zu Hause. Im Briefkasten fand sie eine Nachricht von ihrer Freundin Irina. Auf dem kleinen Zettel stand, dass Maja sich bei ihr sofort melden solle, wenn sie wieder da sei. Es sei sehr dringend. Kein weiterer Hinweis, um was es ging. Maja war nervös - hoffentlich war nichts passiert. Natürlich ließ sie sofort alles stehen und rief Irina an. Ihre Freundin war eine Spätaussiedlerin, die schon lange in Deutschland lebte und die sie beim Germanistikstudium kennen gelernt hatte.
Sie mochte ihre herzliche, gefühlvolle Art sehr gern und traf sich so oft mit ihr, wie es möglich war. Das war in letzter Zeit jedoch selten geworden, denn Irina hatte seit etwa einem Jahr einen Job bei der Zeitung und war seitdem ständig beschäftigt. Dauernd schrieb sie irgendwelche Artikel, besuchte Ausstellungen oder ähnliches und war fast immer unter Termindruck.
Irina war glücklicherweise gerade zu Hause, als Majas Anruf kam, und überfiel sie fast mit Neuigkeiten: "Maja, wir müssen uns sofort treffen. Ich muss dir etwas zeigen. Es geht um einen Job." "Um was für einen Job?" "Ach, das ist zu kompliziert am Telefon. Komm vorbei und sieh es dir an. Es wird dich schon interessieren." Das klang geheimnisvoll, aber Maja kannte Irina gut genug, um zu wissen, dass das kein Scherz war und dass sie ihrem Urteil vertrauen konnte. Also versprach Maja, dass sie noch am Abend vorbeikommen werde. Sie räumte nur noch schnell ihr Gepäck weg und fuhr anschließend sofort zu Irina.
Dort angekommen bekam sie gleich nach der Begrüßung einen weiteren Zettel in die Hand: Es handelte sich um eine Ankündigung, dass bei Irinas Zeitung dringend freie Mitarbeiter für Artikel und Reportagen gesucht wurden. Irina hatte sie schon Anfang der Woche am Schwarzen Brett gesehen, und dann sprach sie noch ihr Chef, zu dem sie ein sehr gutes Verhältnis hatte, an, ob sie nicht jemanden kenne, der dafür in Frage käme. Irina hatte sofort an Maja gedacht und entsprechend ihrem Chef auch mitgeteilt, dass sie jemanden wüsste. Er entgegnete ihr daraufhin, dass die betreffende Person so schnell als möglich ihre Unterlagen schicken müsse, da sie wirklich dringend jemanden brauchten. Also warf Irina ihrer Freundin sofort eine Nachricht in den Briefkasten, nachdem sie sie telefonisch nicht erreicht hatte. Maja konnte das gar nicht glauben. "Maja, du hast wirklich ziemlich gute Chancen.
Wenn du den Job haben willst und dich nicht zu ungeschickt anstellst, kannst du ihn haben, denke ich. Du musst dich halt nur beeilen", ermutigte Irina sie. Maja war noch skeptisch. "Irgendwie kann ich mir das nicht so richtig vorstellen. Eigentlich würde ich lieber etwas anderes machen." "Was ist denn der richtige Job für dich? Und was hast du eigentlich für Vorstellungen und Erwartungen?" kam da die Frage. Maja konnte nur mit den Schultern zucken.
Das fragte sie sich inzwischen selbst auch. Sie hatte sich schon bei so vielen Firmen für die verschiedensten Tätigkeiten beworben. "Ich weiß halt nicht, ob mir das so liegt - Artikel für die Zeitung schreiben." "Ach Maja, schreiben konntest du doch früher schon immer so gut", wandte Irina darauf ein. "Glaub' mir, du kannst es." Maja hatte nicht sehr große Hoffnungen, dass das der richtige Job für sie war, aber noch weniger glaubte sie, dass sie überhaupt genommen werden könnte. Trotzdem beschloss sie, sich zu bewerben, denn sie fühlte, dass sie es Irina nicht antun konnte, es nach all ihrer Mühe nicht wenigstens zu probieren. Und warum auch nicht? Wunder geschahen ja immer wieder - man musste sie nur für möglich halten.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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