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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Zwei Minuten

© Katharina Schwarz


Sarah hatte sich im Badezimmer eingeschlossen, obwohl Peter erst in einer Stunde von der Arbeit nach Hause kommen würde. Trotzdem wollte sie sicher sein, dass sie in den nächsten zwei Minuten nicht überrascht wurde. Sie saß auf dem Rand der Badewanne, das weiße Teststäbchen lag auf der Waschmaschine, so dass sie nicht die Entwicklung der Punkte beobachten konnte. In zwei Minuten würde sie Gewissheit haben. Es war totenstill, bis auf ein regelmäßiges Klopfen. Sarah sah sich um. Woher kam das Geräusch? Tock-Tock-Tock Ihr wurde bewusst, dass es ihr eigener Herzschlag war. O-li-ver, O-li-ver schien ihr Pulsschlag zu sagen. Sarah biss sich auf ihren Zeigefinger. Ein Tick, den sie seit frühester Kindheit hatte, wenn sie in einer brenzligen Situation war. Sie wollte nicht an Oliver denken. Doch zwangsläufig wanderten ihre Gedanken zu ihm…
Oliver und sie arbeiteten schon seit Jahren gemeinsam im Vorstand ihres Kegelvereines. Das bevorstehende Sommerfest unterlag ihrer Planung und Oliver hatte sie tatkräftig unterstützt. Schon immer hegten beide freundschaftliche Gefühle füreinander. Als Peter ihr mitteilte, dass er nicht zu dem Sommerfest kommen konnte, da er eine Geschäftsreise unternehmen würde, hatte Sarah zunächst frustriert. Ihr Verein lag ihr sehr am Herzen und obwohl Peter immer versucht hatte sich zu integrieren, war sein Interesse eher von flüchtiger Natur. Vielleicht war es besser, dass Peter nicht dabei war. So konnte sie sich ohne schlechtes Gewissen voll in die Arbeit stürzen. Oliver bewunderte ihren Enthusiasmus und stand ihr zur Seite. Das Fest wurde ein voller Erfolg, was ihr viele Vereinskollegen bestätigten. Das lag sicherlich auch daran, dass Oliver immer zu Stelle war, wenn sie ihn brauchte. Bevor ein Bierfass richtig geleert war, stand er bereit um das nächste an der Zapfanlage anzuschließen. Nachdem alle Besucher gegangen waren, stand Sarah noch immer im Vereinsheim und spülte Gläser. Oliver war dicht hinter sie getreten, hatte seine Hände auf ihre Schultern gelegt und gesagt: "Komm, den Rest machen wir morgen. Du hast für heute genug geschuftet." Seine Daumen strichen über ihre Nackenpartie und Sarah wurden augenblicklich zwei Dinge bewusst: 1. sie war furchtbar verspannt und 2. verspürte sie ein angenehmes Kribbeln, ausgelöst durch seine Berührung. Eine Gänsehaut rann über ihren Körper. Dieses Kribbeln hatte sie schon sehr lange nicht mehr gespürt. Von einem inneren Gefühl geleitet hatte sie sich zu ihm umgedreht und ihn geküsst. An ihren Mann hatte sie in diesem Moment überhaupt nicht gedacht. Oliver hatte seine Arme um sie gelegt und den Kuss leidenschaftlich erwidert. Was danach passierte, kam Sarah wie ein undurchdringlicher Nebel vor. Irgendwie waren sie in seine Wohnung gefahren und sie lag nackt in seinen Armen. Ihre Erinnerung setzte erst an der Stelle wieder ein, als er sie fragte: "Müssen wir verhüten?" In diesem Moment kam ihr eine verrückte Idee und sie verneinte. In dieser Nacht liebten sie sich mehrmals und erst im Morgengrauen kehrte ihr Verstand zurück. "Es war ein Ausrutscher. Wir sprechen nie wieder darüber." stellte Sarah nüchtern fest und Oliver nickte nur. Beide schafften es, das Erlebnis zu verdrängen und niemand ahnte, was zwischen den Beiden gelaufen war.
Sarahs Blick auf die Uhr verriet ihr, dass die zwei Minuten bald vorbei waren. Sie hatte sich geschworen nie wieder an die Nacht mit Oliver zu denken, bis jetzt. Jetzt sah die Welt anders aus. Sarah führte eine glückliche, aber kinderlose Ehe. Immer wieder hatte sie mit Peter über den Kinderwunsch gesprochen und er hatte ihr versichert, dass es nicht an ihm lag. Zwar hatte Sarahs Gynäkologe ihr nicht medizinisch nachweisen können, dass sie unfruchtbar war, aber wenn es nicht an Peter lag, musste es an ihr liegen. Das bestätigte ihr auch sein Urologe, Dr. Werner Braun, der ein alter Schulfreund von Peter war. Sarah hatte sich mit ihrer Unfruchtbarkeit abgefunden, dachte sie zumindest. Die zwei Minuten waren vorbei, doch sie wagte noch immer nicht, das Teststäbchen anzusehen. Schließlich nahm sie allen Mut zusammen, griff nach dem Teststäbchen und hielt es sich vor die Augen. Vor lauter Panik hatte sie die Augen geschlossen. Sarah schluckte, dann endlich öffnete sie ihre Augen. Überdeutlich sah sie einen blauen Punkt, der ihr bestätigte, dass der Test richtig angewendet wurde. Sarah blieb fast das Herz stehen. Der zweite blaue Punkt, der auf eine Schwangerschaft hindeutete, leuchtete ihr genauso intensiv entgegen. "Ich bin nicht schuld." flüsterte sie kaum hörbar. Dann noch einmal, etwas lauter und schließlich schrie sie die Worte ein drittes Mal laut heraus. Tränen schossen ihr in die Augen. Peter würde sich freuen! Sie wünschten sich doch schon seit über drei Jahren, also, seitdem sie zusammen waren, ein Kind. Jäh wurde ihre Freude unterbrochen, als sie darüber nachdachte, was Peter sagen würde, wenn das Kind wie Oliver aussehen würde. Sarahs Gedanken wirbelten durcheinander und plötzlich wollte sie Gewissheit haben. Peter würde in 45 Minuten zurück sein, sie musste schnell handeln. Mit zitternden Fingern suchte sie die Telefonnummer der Urologenpraxis heraus. Eine freundliche Sprechstundenhilfe meldete sich. Sarah erklärte, dass sie das letzte Ergebnis der Fruchtbarkeitsuntersuchung ihres Ehemannes für ihren Gynäkologen benötigte. Die freundliche Sprechstundenhilfe erfragte die Daten und Sarah hörte, dass sie auf einer PC Tastatur herumhackte. Dann ein plötzliches Schweigen in der Leitung. "Sind Sie sicher, dass die Angaben stimmen?" "Was? Natürlich." Sarah gab nochmals Name, Geburtsdatum, Krankenkasse und sogar die Krankenkassennummer durch. Die Sprechstundenhilfe räusperte sich. "Es tut mir leid, aber laut unseren Unterlagen war Ihr Mann vor 5 Jahren das letzte Mal hier in der Praxis und hatte eine Nachuntersuchung wegen seiner Vasektomie." Sarah bedankte sich höflich bei der Sprechstundenhilfe und legte den Hörer auf. Vasektomie! Sarah hörte ihr eigenes Blut in ihren Ohren rauschen und plötzlich bekam sie keine Luft mehr, bis ihr auffiel, dass sie die Luft angehalten hatte und vergessen hatte, weiter zu atmen. Vasektomie! Sie wusste, was eine Vasektomie war. Sterilisation des Mannes! Peter hatte sie seit Jahren belogen, hatte sie mit ihrem Kinderwunsch hingehalten, ja hatte ihr sogar eingeredet, dass sie diejenige sei, die unfruchtbar wäre. Warum? Diese Frage bohrte sich in ihre Gedanken. Er war doch immer so glücklich mit ihr, trug sie auf Händen, versicherte ihr, dass sie ihn zum glücklichsten Mann auf der Welt machen würde. Warum dann diese Lüge? Das Leuten des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. "Ja?" meldete sie sich mit dünner Stimme. "Sarah, hast Du eben hier in der Praxis angerufen?" Es war Werner Braun. "Ja." mehr konnte sie nicht sagen. "Hör zu, es wäre besser, wenn Du Peter nicht darauf ansprechen würdest, dass Du es weißt. Er ist sehr sensibel." Sarah schluckte. "Warum hat er mir das nicht gesagt?" Sarahs Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, Tränen bahnten sich ihren Weg aus ihren Augen, rannen über ihre Wangen und tropften auf den Teppichboden. "Sarah, hör mir bitte zu! Peter ist psychisch sehr labil. Vor Jahren hatte er Probleme mit einer Vaterschaftsklage, die ihn fast in den Selbstmord getrieben hat. Daraufhin bat er mich, eine Vasektomie bei ihm durchzuführen. Kurze Zeit später lernte er Dich kennen. Du bist die erste Frau, die ihm wieder Lebensmut gegeben hat." Sarah schwieg. Ihr Verstand wollte und konnte nicht verarbeiten, was sie gerade gehört hatte. "Sarah? Bist Du noch dran?" Sie schluckte. "Ja." "Sarah, bitte glaub mir, er hat es gut gemeint. Er liebt Dich, er liebt Dich mehr, wie sein eigenes Leben. Versteh ihn. Er war längere Zeit in psychischer Behandlung, wegen seines Selbstmordversuches. Dank Dir konnte er die Behandlung abschließen. Es ging bergauf mit ihm. Bis zu dem Tag, an dem Du ihm Deinen Kinderwunsch mitgeteilt hast. Er hatte Angst Dich zu verlieren, wenn Du erfahren würdest, dass er niemals ein Kind zeugen kann." Werner schwieg einen Augenblick und durch den Telefonhörer konnte sie hören, dass er sich wild durch seine Haare strich, zögernd sprach er weiter: "Wir kamen auf die Idee, Dir zu sagen, dass mit ihm alles in Ordnung sei. Versteh mich. Ich kenne ihn schon so lange und ich wollte nicht, dass er sich wieder etwas antun würde. Bitte Sarah, verlass ihn deswegen nicht. Er braucht Dich." Sarah wollte nicht länger zuhören, sie legte einfach den Hörer auf. Peter hatte sie belogen. Jahrelang. Sein eigener Egoismus hatte sie fast in den Wahnsinn getrieben. Nächtelang hatte sie sich Vorwürfe gemacht, weil sie ihm kein Kind schenken konnte und nun das. Wie betäubt ging sie ins Badezimmer zurück und sah in den Spiegel. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, aber es kamen keine Tränen mehr. Was sollte sie tun? Sie konnte sich nicht von Peter trennen. Werners eindringliche Worte halten ihr noch durchs Ohr. Peter hatte sie von Anfang an belogen. Sie musste das Kind abtreiben lassen. Schützend legte sie die Hände auf ihren Bauch. Wollte sie das? Sie hatte sich immer ein Kind gewünscht und nun? War ein Seitensprung schlimmer als eine jahrelange Lüge? Ihr blieb nicht viel Zeit zu überlegen, denn schon hörte sie den Wohnungsschlüssel, der sich im Türschloss drehte. Blitzartig kam ihr ein Gedanke. Mit dem Teststäbchen in der Hand ging sie auf Peter zu, der in der Tür stand. "Hallo Liebling, wir bekommen ein Kind."



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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