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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Freitagnachmittag nach Köln
© Anne Frisch
Es war nicht schwer sie zu erkennen. Sie war wie auf den Fotos ganz in Schwarz gekleidet. Über langen ausgestellten Hosen trug sie einen knielangen Rock und einen Cordmantel. Die roten Strähnen in den kurzen Strubbelhaaren waren zusammen mit einem weißen Strickschal die einzige Farbe an ihr. Irgendwie erinnerte mich ihre ganze zierliche Erscheinung an einen Buntspecht. Sie stand auf Gleis 1 im Raucherabschnitt und zog an einer Zigarette, neben ihr auf dem Boden stand eine abgenutzte Reisetasche aus schwarzem
Leinen.
Ich wusste, dass sie das war, nach dem sie aussah: eine Studentin Anfang Zwanzig, die über ein Wochenende nach Hause fuhr. Was man ihr nicht ansah, war, dass sie ein Verhältnis mit meinem Mann hatte und er mich deshalb vor sechs Wochen verlassen hatte.
Von ihm wusste ich, dass sie regelmäßig am Freitagnachmittag nach Köln fuhr, um ihre Mutter zu besuchen. Sie ausfindig zu machen war also nur eine Frage der Zeit. Tatsächlich hatte ich an diesem Freitag erst eine gute Stunde am Bahnhof Ausschau gehalten, als ich sie auf dem Gleis entdeckte. In meiner Handtasche lag eine Fahrkarte nach Köln.
Ich stellte mich in ihre Nähe, als der ICE einfuhr. Sie stieg in die nächste Tür ein, die sich vor ihr öffnete und ich schloss daraus, dass sie keinen Platz reserviert hatte. Langsam folgte ich ihr durch das Großraumabteil und hatte mehr Glück, als ich erhofft hatte. Eine ganze Sitzgruppe mit Tisch war frei. Sie warf ihre Reisetasche auf die Ablage, schälte sich aus Schal und Mantel und ließ sich auf einen Platz am Fenster fallen. Ich lächelte freundlich, als ich mich ihr gegenüber niederließ, aber sie beachtete
mich nicht. Sie kramte einen CD-Player aus ihrer Handtasche und steckte sich die Kopfhörer in die Ohren. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, während sie nach draußen sah, wie der Zug die letzten Häuser der Stadt passierte und an Fahrt gewann.
Dass sie mich erkennen würde, war unwahrscheinlich. Fred war nicht der Mann, der Fotos seiner Frau in der Brieftasche herumtrug. Ich glaube nicht einmal, dass er ihr viel über mich erzählt hatte. Die Fotos dieses Mädchens hatte er mit der Digitalkamera aufgenommen. Die meisten davon in einem Zimmer, das ich nicht kannte, wahrscheinlich dem ihrem. An der Wand im Hintergrund sah man das Poster einer Kölner Kunstausstellung, mehr war nicht zu erkennen. Sie saß an einem Tisch mit einem Weinglas in der Hand und hielt
wechselnd den Kopf schräg, streckte die Zunge heraus oder spitzte die Lippen, um dem Fotografen einen Luftkuss zuzuwerfen. Auf den restlichen Aufnahmen stand sie in denselben schwarzen Kleidern wie heute im Freien. Sie lehnte an einem Baum und blickte nachdenklich in die Kamera.
Die Fotos hatte ich an einem Vormittag gefunden, an dem ich nicht zur Arbeit gegangen war. Nachdem ich mich im Institut krank gemeldet hatte, saß ich lange vor meiner Kaffeetasse im stillen Esszimmer und beobachtete, wie flirrende Staubteilchen auf den Strahlen der einfallenden Sonne tanzten wie auf einem Seil. Als ich das Gefühl bekam, in der Wohnung zu ersticken, setzte ich mich an Freds PC und öffnete planlos sämtliche Dateien. Ich wusste nicht, wonach ich suchte, bis ich schließlich die Fotos fand. Sie waren
zu einem Zeitpunkt aufgenommen, an dem Fred noch zuhause gewohnt hatte.
Während ich sie betrachtete, begann das Blut in meinen Ohren leise zu rauschen wie Regen, der nach langer Trockenheit sanft vom Himmel fällt. Das Rauschen schwoll an, mein Blut begann zu gurgeln und zu blubbern, bis es schließlich durch meinen Körper schoss, so unerwartet wie heißes Wasser durch die maroden Heizungsrohre eines verfallenen Hauses.
Nun saß das Mädchen mir mit geschlossenen Augen gegenüber. Sie hatte den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, die Hände lagen regungslos im Schoß. An acht ihrer Finger trug sie silberne Ringe, von denen keiner aussah wie der andere.
Ich hatte keinen Plan. Absolut keinen. Ich hatte bereits viel erreicht. Ich saß ihr gegenüber. Ich hörte sie atmen als sie ihren Kopf drehte und sich aufrichtete, um an den Knöpfen ihres CD-Players drücken. Sie hatte einen ihrer Stiefel ausgezogen und das Bein über das Knie des anderen gelegt. Durch das fadenscheinige Gewebe ihres schwarzen Strumpfes drückte sich der große Zeh, der Nagel war nachlässig in dunklem Rot lackiert. Über den Tisch gebeugt hätte ich an ihrem Fuß schnuppern können. Ihre Gesichtshaut
war fein und hell, die dunklen Wimpern waren ungeschminkt. Schwarze Härchen wie mit feinster Tusche gestrichelt betonten die geschwungene Linie ihrer Oberlippe. Unter den kurz geschnittenen Fingernägeln sah ich Farbreste. Offensichtlich malte sie.
Während ich sie so betrachtete, fuhr der Zug in gleichmäßigem Tempo Richtung Norden. Es hatte angefangen zu regnen. Die Tropfen formten sich quer über die Scheiben zu Schnüren aus gläsernen Perlen. Das Mädchen schien zu schlafen.
Ich schloss die Augen und lächelte bei dem Gedanken, dass Fred mich jetzt sehen würde. Ich konnte sehen und riechen, was er sah und roch und das befriedigte mich auf eine Weise, die schadenfroh war und fast ein bisschen pervers.
Er wusste nicht, dass ich die Fotos gefunden hatte. An dem Abend, an dem er mir mitteilte, dass er sich für eine unbestimmte Zeit von mir trennen wollte um in Ruhe über sich und sein Leben nachzudenken, hatte er nicht viel von dem Mädchen erzählt, mit dem er sich in den letzten Wochen so häufig heimlich getroffen hatte. Ich wusste nur, dass sie sehr jung war und er sie bei der Vernissage eines Freundes kennen gelernt hatte.
Fred sprach an jenem Abend ungewöhnlich viel über sich. Über sein Gefühl des Ausgebranntseins, das zunehmende Unbehagen an seiner etablierten Arbeit, seine ungelebten Träume, die er über dem Aufbau seines Architekturbüros beinahe vergessen hatte. Über die Hoffnungslosigkeit, die ihn beim Gedanken an unser Zusammenleben überfiel. Und darüber, dass er sich von einer Trennung von mir neue Energie erhoffte. Dass er diese hauptsächlich aus der Affäre mit einer jungen Studentin gewann, verschwieg er taktvoll. Dennoch
spürte ich hinter jedem seiner betroffenen Worte die Selbstverliebtheit des Eroberers. Er konnte nur mühsam verbergen, dass ihn mein Schmerz nicht wirklich berührte. Wie ein junger Hund, der zu lange eingesperrt war, konnte er es nicht mehr erwarten, zur Türe hinaus in die Freiheit zu gelangen. Ich versuchte erst gar nicht ihn aufzuhalten.
Während der langen Tage und Nächte, die seinem Auszug folgten, versuchte ich zu begreifen, dass Fred mich verlassen hatte. Aber wie ein Ozeanriese kam mein Bewusstsein trotz des Bremskommandos nicht zum Halten. Ich vergaß, dass er nicht kommen würde und deckte den Tisch für zwei. Ich kaufte Lebensmittel, die er besonders mochte, stellte Wein kalt, den ich nicht trank und plante wie jedes Jahr eine Sommerreise für uns beide. Wenn ich schlaflos im Dunkeln lag, spürte ich überrascht die Kälte der leeren Betthälfte
neben mir. Tagsüber erledigte ich meine einsame Arbeit im Labor und beeilte mich, möglichst schnell nach Hause zu kommen. Ich schlief und aß zu wenig. Ich rief niemanden mehr an und ging niemals aus.
Der Zug hatte inzwischen an Fahrt verloren und hielt nun mitten auf freier Strecke an. Das Mädchen und ich richteten uns gleichzeitig auf und sahen aus dem Fenster, aber außer wintermüden Wiesen mit kahlen Bäumen und einem Himmel ohne Farbe gab es nichts zu sehen.
Im Abteil war es unruhig geworden. Ich hörte einen jungen Mann mit Wollmütze auf der anderen Seite des Ganges sagen
"Wahrscheinlich hat sich wieder einer vor die Lok geworfen, das war erst kürzlich auf der Strecke so, das hat Stunden gedauert, bis sie die Teile zusammengekratzt hatten."
Das Mädchen blickte erschrocken zu mir hin. Ich schaute aus dem Fenster nach vorne Richtung Lok und sagte: "Ich sehe nichts. Wahrscheinlich ist es nur ein technisches Problem."
Vom Zugmotor war jetzt nichts mehr zu hören. " Hoffentlich" sagte sie und sah mich dabei zum ersten Mal direkt an. Ihre dunkelbraunen Augen waren groß und rund mit Sprenkeln in der Farbe von Bernstein. Sie erinnerten mich an gläserne Murmeln, die ich als Kind gesammelt hatte. Ich lächelte wieder. Sie ignorierte es, legte ihre Handtasche auf den Klapptisch zwischen uns und bat mich, kurz darauf aufzupassen. Als sie in Richtung Toilette davon ging, sah ich ihr nach, versuchte ihre Figur unter den vielen
Kleidungsstücken zu taxieren, blickte aber schnell wieder weg, als hätte ich mich selbst bei einer verbotenen Handlung erwischt.
Stattdessen betrachtete ich die kleine schwarze Ledertasche, die vor mir lag. Sie hatte abgestoßene Ecken und in einem der Außenfächer steckte eine achtlos zerknüllte Packung Zigaretten. Fred hasste Zigarettenrauch.
Sie wirkte noch immer angespannt, nachdem sie sich wieder hingesetzt hatte. Der Zug stand weiterhin absolut still. Ich versuchte das Gespräch wieder in Gang zu bringen. "Machen Sie sich keine Sorgen, es ist sicherlich ein technischer Defekt, sonst wäre jetzt hier der Teufel los. Für einen Selbstmord ist es hier zu ruhig."
Sie lehnte sich über den Tisch zu mir herüber und ihre Murmelaugen unter den dunklen Brauen wurden noch größer als sie halblaut sagte "Ich bin allergisch gegen Selbstmörder. Mein Vater hat sich erschossen, als ich acht war, und seither kriege ich Zustände, wenn das Wort nur erwähnt wird."
Für einen kurzen Augenblick war ich mir nicht sicher, ob ich richtig gehört hatte.
"Erschossen?" fragte ich und sie hörte wohl den Argwohn in meiner Stimme.
"Ja, erschossen, peng-peng, das gibt es nicht nur in Amerika."
Ich lehnte mich in meinen Sitz zurück sah sie an. Sie sprach weiter, als müsse sie mich überzeugen.
"Er wollte sich von meiner Mutter scheiden lassen wegen einer anderen Frau. Meine Mutter ist Italienerin, verstehen Sie, in ihrem Weltbild kommt so etwas nicht vor. Also hat sie meinem Vater, der übrigens Deutscher war, gedroht, mit mir zurück nach Italien zu gehen und dafür zu sorgen, dass er mich nie wieder sieht. Sie hat ihm überhaupt alle Schwierigkeiten gemacht, die man nur machen kann, auch finanzieller und beruflicher Art. Sie hatten gemeinsam ein Geschäft, wissen Sie. Zum Schluss hat ihn dann die
andere Frau verlassen, weil es ihr zu kompliziert wurde und dann hat er sich erschossen, mit dem Jagdgewehr meines Großvaters."
Es entstand eine Pause. Sie saß nach diesem überraschenden Bekenntnis aufrecht in ihrem Sitz und sah mich wütend an, als hätte ich die Tragödie verursacht.
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr glauben sollte. Ich sah sie weiter prüfend an bis mir klar wurde, dass es keine Rolle spielte, ob sie die Wahrheit sagte oder nicht. Das Ganze war ohnehin nur ein Spiel, wen kümmerte es, wer hier die Wahrheit sagte.
"Das muss sehr schwer für sie gewesen sein", sagte ich und war erstaunt über die Anteilnahme in meiner Stimme. Ihr Blick wurde jetzt trotzig.
"Ich kann mich kaum mehr daran erinnern. Meine Mutter hat nie mit mir darüber gesprochen, und wenn, dann hat sie versucht, es als Unfall darzustellen. Aber sie ist niemals darüber hinweg gekommen, bis heute nicht."
Danach schwiegen wir. Die Leute gingen jetzt unruhig im Gang auf und ab wie auf einer Autobahn im sommerlichen Stau.
Wir sahen beide aus dem Fenster. Die Linien unserer Blicke überkreuzten sich vor dem Zugfenster, wo jetzt schwarze Krähen regungslos auf den kahlen Ästen hockten wie in einer Bühnenkulisse. Ich dachte an Freds Abneigung gegen alle psychologischen Themen.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie er in seinem Armanianzug in ihrer Studentenküche saß und Rotwein aus dem Supermarkt trank, während sie ihm diese Geschichte vor die Füße warf. Es gelang mir nicht, es fühlte sich an, als ob ich ein Theaterstück mit den falschen Darstellern besetzen wollte.
Das Mädchen setzte ihren Kopfhörer wieder auf, sah mich aber dabei an und lächelte. Ich lächelte zurück und schloss die Augen.
Ich fühlte mich wohl wie schon lange nicht mehr. Der namenlose Abgrund zwischen Fred und mir hatte jetzt ein Gesicht, und je näher ich es betrachtete, desto mehr rückte Fred selbst in die Ferne. Seltsamerweise schien sich seine Gestalt in mir aufzulösen. Sanfter Schmerz mischte sich in mein Wohlgefühl, verteilte sich in meinen Eingeweiden wie ein würziger Schnaps nach einem guten Essen.
Ich schrak hoch, als unvermittelt der Motor des Zuges angeschmissen wurde. Die Klimaanlage begann heftig Luft in das stickige Abteil zu blasen. Eine Welle des Aufatmens ging durch den ganzen Zug, als sich die Landschaft langsam wieder am Fenster vorbei schob. Der Zugführer meldete durch den Lautsprecher einen technischen Defekt in einem Stellwerk.
Die Beschleunigung des Zuges brachte mich wieder in die Gegenwart zurück. Auch das Mädchen schien wieder hellwach und in Stimmung auf ein Gespräch. Ich fragte sie ob sie Studentin sei und sie erzählte mir, dass sie Mediengestaltung studiere und ab und zu in einer Galerie jobbe, wo sie immer wieder interessante Leute aus der Kunst und Medienszene träfe. Allerdings seien dort die meisten, ob Männer oder Frauen, entweder über vierzig und verheiratet oder homosexuell oder beides. Ich lachte und als sie mich fragte,
ob ich verheiratet sei, sagte ich leichthin nein, ich sei der typische berufstätige Single mit Hauskatze.
Mein Herz klopfte ein wenig stärker, als ich fragte, ob sie einen festen Freund habe. Sie zögerte ein wenig mit der Antwort, erzählte dann aber, dass sie einige Zeit mit einem anderen Studenten liiert gewesen sei, aber es habe auf Dauer nicht funktioniert, weil er sie zu sehr vereinnahmt hatte.
"Ich brauche Freiräume" sagte sie mit Nachdruck, als sei ich eine alte Jungfer, die der verpassten Gelegenheit nachtrauert, "ich habe noch keine Beziehung gesehen, die wirklich funktioniert, verstehen Sie? Ich meine, wo zwei Menschen sich nah sind und dennoch sie selbst geblieben sind. Sie glauben gar nicht, wie fremd Menschen sich sein können, die zusammen sind."
Sie sah eine Weile ins Leere. Ich war überrascht über den selbstbewussten Ausdruck in ihrem jungen Gesicht.
"Ich habe zurzeit, na ja, eine Art Beziehung mich mit einem Mann, der seit vielen Jahren verheiratet ist. Nicht dass sie jetzt denken, ich wollte seine Ehe zerstören, das tue ich nicht. Seine Ehe war schon unglücklich, als ich ihn traf. Trotzdem wird er über kurz oder lang wieder zu seiner Frau zurückgehen, vermute ich, das tun sie nämlich letztendlich alle."
Ich schwieg.
"Er hat sich von seiner Frau getrennt nachdem er eines Tages festgestellt hat, dass er sie eigentlich überhaupt nicht kennt. Er hat ihr seit Jahren nichts mehr aus seiner Seele erzählt, nichts von dem mitgeteilt, was ihn bewegte. Nichts. Nur Alltägliches. Was machst du morgen, wie war's bei der Arbeit, möchtest du Kaffee oder Tee."
Sie war jetzt beim Sprechen in Fahrt gekommen. Sie schien keinerlei Schwierigkeiten damit zu haben, ihre Gefühle mitzuteilen. Ihre Wangen hatten sich vor Erregung leicht gerötet. Ich dagegen vibrierte innerlich leicht als fröre ich.
"Er war fünfzehn lange Jahre mit ihr zusammen und sie haben keine Kinder. Als ich ihn fragte weshalb nicht, sagte er, er wisse es nicht, es habe sich eben nicht ergeben!" Sie ließ sich in den Sitz fallen und schüttelte fassungslos den Kopf. "Es hat sich nicht ergeben!" wiederholte sie Silbe für Silbe betonend. Dann sah sie zu mir hin "Wissen Sie jetzt, was ich meine?".
Ich schloss die Augen und nickte.
Als ich nichts mehr sagte, nahm sie ihre Zigarettenschachtel aus der Ledertasche und machte sich auf die Suche nach einem Raucherabteil. Dieses Mal sah ich ihr nicht nach, als sie sich in Fahrtrichtung entfernte.
Im Zug waren inzwischen die Lichter angegangen. Ich versuchte nach draußen zu sehen, aber in der Fensterscheibe spiegelte sich nur mein Gesicht, schmal und müde. Zum ersten Mal nahm ich die feinen Linien wahr, die sich rechts und links von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln zogen.
Die Jahre mit Fred zogen in mir vorüber. Vor fünfzehn Jahren waren wir jung gewesen, verliebt und voller ehrgeiziger Pläne. Heute hatten wir gut bezahlte Berufe, eine Eigentumswohnung in bester Stadtlage, ein italienischen Stammlokal, umgaben uns mit einer Hand voll Freunde, die ebenso lebten und dachten wie wir. Ich hatte unseren Weg nie hinterfragt, aber irgendwo unterwegs zwischen gestern und heute mussten wir uns wohl verloren haben. Dann hatte Fred dieses Mädchen getroffen und es schließlich als erster bemerkt.
Als der nächste Halt angesagt wurde, zog ich meine Jacke an. Ich bat den jungen Mann mit der Wollmütze auf die schwarze Handtasche aufzupassen und unsere Plätze zu verteidigen, während ich einen Kaffee trinken ginge. Dann durchquerte ich ohne mich umzusehen entgegen der Fahrtrichtung ein, zwei Abteile. Als der Zug anhielt, stieg ich aus und schwamm in der Menge der schubsenden und drängelnden Menschen rasch die Treppe hinab.
Am nächsten Morgen rief ich Fred in seinem Büro an, wo er seit unserer Trennung logierte. Ich sagte ihm, dass ich mir eine neue Wohnung suchen würde und bat ihn, seine Sachen abzuholen.
Er kam einige Tage später mit einem Freund und einem Transporter. Wir verteilten die Sachen so kurz und sachlich wie möglich.
Als er später an diesem Tag im Flur der halbleeren Wohnung vor mir stand, sah er müde aus. Ich sah die ersten silbernen Haare an seinen Schläfen schimmern und verspürte für Sekunden den Wunsch, ihn zu umarmen. Stattdessen ging ich einen Schritt zurück und streckte ihm meine rechte Handfläche entgegen. Er verstand sofort und legte wortlos seinen Wohnungsschlüssel darauf. Die Gummisohlen seiner Sportschuhe machten bei jedem Schritt ein quietschendes Geräusch als er sich umdrehte und zum Aufzug ging. Ich schloss
leise die Tür.
Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.