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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Brief an dich

© Arayce Peru (Yuxiao Zhang)


Liebe Kitty,
wie geht es dir? Du fragtest mich mal, worüber ich oft nachdenke, was mich beschäftigt, wenn ich Zeit habe, um den Stress und das Alltägliche auszuschließen.
Und zurzeit interessieren mich Schlüsselerlebnisse... ich bin auch der Suche nach einem Schlüsselerlebnis, für mich selbst. Und auf dem Weg dieser Suche frage ich mich vieles. Diese Erlebnisse sind Schlüssel, wie der Begriff schon sagt, die symbolische Umsetzung eines Metallstiftes mit Einkerbungen, die wir wohl alle kennen. Sie schließen in uns eine Türe auf, die uns verändert. Nun... Erlebnisse also, die uns beeindrucken, auf positive oder auch negative Weise. Erlebnisse, die eine Reichweite bis tief in unser Herz, unser Innerstes haben. Mir fällt als erstes der Tod ein, endgültig, ohne jede Hoffnung auf Wiederkehr für den einen, ein schmerzhafter Verlust für den nächsten, und ein Neubeginn für den anderen.
Jeder sieht ihn anders, aber alle sind von ihm berührt, ohne jede Ausnahme, allein schon wegen der Tatsache, dass wir sterblich sind. Und sofort danach fällt mir Leben ein. Der Gegensatz zum Tod, das Weiße zum Schwarzen. Es verkörpert vieles, ein Neubeginn, eine Veränderung, eine Bereicherung, ein Geschenk des Himmels. Man assoziiert allgemein ihn mit dem Positiven, den Tod mit dem Negativen. Doch wenn man genauer nachdenkt, so sind sie doch nur Anfang und Ende eines Wunders namens Leben. Weder positiv noch negativ, denn ein Wunder hat nach irdischem Gesetz -nach egal welch langer Zeit- ein Ende, so wäre es keins. So macht der Tod für neues Leben Platz. Abgedroschene Worte von mir, die du als Lektorin wohl öfters liest als ich im Internet surfe, und wir wissen beide, dass ich es oft tue.
Dennoch kann es nicht das einzige sein, was uns beeinflusst. Menschen ändern sich ständig, auch ich, wo ich doch weder einen Todesfall noch eine Geburt intensiv erlebt habe. Ich erinnere mich kaum noch an die Zeit vor und nach der Geburt meines Bruders, und ich habe keine mir nah stehende Person verloren, wofür ich sehr dankbar bin, denn auch wenn es nicht allgemein negativ ist, so habe ich doch Angst davor. Nein, wir werden auch durch kleine Sachen beeinflusst. Ein Bild, das uns gefällt, ein Buch, das wir lesen, ein Film, den wir sehen, Menschen, die wir wiedersehen und neu kennen lernen, nur um einige Beispiele zu nennen. So kann ein Schlüsselerlebnis nach meiner Definition alles sein, denn wir ändern uns. Mal sind die Veränderungen größer, mal so winzig klein, dass man es niemals merkt. So werde ich dir heute von einem Erlebnis erzählen, das mir noch relativ klar in Erinnerung ist und meine Weltansicht doch ein wenig -oder auch sehr- verrückt hat.
Es war an einem kalten Abend, die Sonne war schon lange untergegangen, und ich hatte gerade die Heizung aufgedreht, saß -noch immer frierend- zusammengekauert im Sessel und las. Wir wohnten damals in einer Wohnung in einem großen Haus, kein Hochhaus, aber es passten doch immerhin recht viele Familien hinein. Meine Brüder spielten mit ihren Flugzeugen, ahmten deren Geräusche nach. Mein Vater war glaube ich im Schlafzimmer, und meine Mutter befand sich noch bei ihrer Arbeit. Wir hörten einige Stimmen im Treppenhaus, ich fragte mich noch, wer denn jetzt schon wieder lauten Besuch eingeladen hatte, als es klingelte. Mein Bruder war al erster an der Türe, riss sie neugierig auf. Vor der Türe stand meine Freundin, die im gleichen Haus wohnte. Im Treppenhaus war es dunkel, und die Flurlampe hinter mir warf ein diffuses Licht auf sie, ich konnte weder Gesichtausdruck noch die Umgebung recht gut erkennen.
Sie sagte nur, dass es brennen würde. Ich blinzelte, zog eine Augenbraue hoch. Der Gedanke, dass etwas Feuer gefangen haben sollte in unserem Wohnblock aus Zement und Stein kam mir einfach zu abwegig vor, um überhaupt als Möglichkeit akzeptiert zu werden. Unser Dialog muss wohl sehr geistreich gewesen sein, ich verblüfft ihre Worte deutend und sie in... heller Panik?
"Wie, es brennt?"
"Ja, es brennt unten im Keller, wir müssen hier schnell raus!"
"Öhm ... Brennen, wie in ‚etwas hat Feuer gefangen'?"
Ungläubiges Blinzeln meinerseits. Heftiges Nicken ihrerseits.
"Nicht wirklich, oder? Woher willst du das wissen?"
"Meine Mutter war gerade unten, und es ist schon im Erdgeschoss voll verraucht!!"
Nun, ich nicht ganz überzeugt, dass es wirklich so schlimm war, aber wer war ich, um ihren Worten einfach zu misstrauen oder gar als Schwachsinn anzutun und damit vor allem das Leben meiner Brüder und meines Vaters vielleicht zu gefährden, wo wir doch nur hinunterlaufe mussten. Mein Vater jedenfalls nickte, und verschwand ... nach oben. Ich hatte nun doch ein wenig Angst, und zerrte meine Brüder mit mir mit, meiner Freundin hinterher, an der Wand entlang tastend. Ihr Bruder, der nun auch mit uns zusammen nach unten eilte, hatte eine Taschenlampe dabei und leuchtete uns ungefähr den Weg.
Mein jüngerer Bruder hustete, erwähnte, dass es nach Rauch riechen würde, aber für ihn schien es noch immer ein Abenteuer zu sein. Für mich allerdings nicht mehr, und noch hektischer zerrte ich sie die Treppe hinab, mich um meinen Vater sorgend, doch wagte ich es nicht, meine Brüder allein hinunter gehen zu lassen. Ich weiss nicht, ob ich auch um mein eigenes Leben fürchtete. Wahrscheinlich schon, denn es wäre ein normaler Instinkt. Doch ganz klar empfand ich ein Gefühl der Sorge, um meine Brüder, um meinen Vater, und später auch um meine Mutter, aber dazu komme ich noch.
Der Lichtstrahl der Taschenlampe stieß auf immer mehr Rauch, bald konnten wir die Silhouette der Person vor uns kaum noch erkennen, und das auf eine Distanz von 20, 30 Zentimetern. Ich hörte Schreie, Rufe, doch die dazugehörigen Menschen sah ich kaum, und wenn, dann nur verschwommen. Und der Rauch.. ich dachte, wir könnten uns durchkämpfen, denn in den Büchern klappte es doch auch immer, oder? Der Pulliärmel über Mund und Nase war eine Erleichterung, aber wenige Treppenstufen später schon wieder völlig nutzlos.
Hustend, tränend, machten wir ehrt und rannten wieder nach oben, und der rauch schien uns zu verfolgen, sein Geruch haftete an uns, und nur langsam ließ der Hustenreiz nach. Als ich dann vor unserer noch immer offenen Wohnungstüre stand, bemerkte ich auch die Rauchfaden auf der Etage. Und als wir vor wenigen Minuten losrannten, hatte ich nicht mal irgendetwas gerochen! Ich schnappte mir Schlüssel und zog die Tür zu, folgte weiterhin meiner Freundin und ihrem Bruder, deren Familie im obersten Stockwerk wohnte. Meine Brüder stolperten hinter mir her. Oben war es kühler, und ich zitterte. Mein Vater stand da, mit einer Taschenlampe in der Hand, mich kurz mit der großen Hand über die Haare fahrend, bevor er wiederum Richtung Treppe und diese hinunter rannte. Wir warteten, aber oben waren nur wir Kinder. Wo unsere Eltern waren, wussten wir nicht, und wo die Feuerwehr blieb, fragten wir uns auch. Es kamen einige Leute hoch -anscheinend wurde es so langsam allen bewusst, dass der Rauch zu dicht wurde- aber weder mein Vater noch die Eltern der anderen beiden waren dabei. Ich hatte meine verwirrten Brüder auf das Kinderzimmer bei ihnen verfrachtet, und rannte ungefähr die ganze Zeit zwischen Balkon und Flur hin und her. Wir waren besorgt, hatten einfach Angst um die, die gerade nicht bei uns waren... und fragten uns in Gedanken wohl immer wieder, wie lange es dauern würde, bis die ersten Flammen zu erkennen waren, und wann wir hier oben die Hoffnung auf Rettung verlieren würden, meine Freundin schluchzte, ich ebenso. Mir fiel auch noch ein, dass um genau diese Zeit meine Mutter nach Hause kommen musste, nein, was war, wenn sie schon da war und im Treppenhaus wegen des vielen Rauches ohnmächtig geworden war? Mir wurde ganz kalt bei dem Gedanken, und auch wenn es absolut unmöglich schien, dass sie sich bei dem Rauch in das Treppenhaus gewagt hätte, schien sich dieser Gedanke hartnäckig festzusetzen. Ich hatte wohl in meinem ganzen Leben -trotz meines oft zum Vorschein tretenden Pessimismus- wohl noch nie soviel Angst gehabt, betete verzweifelt. Mit kam erst gar nicht der Gedanke, dass ich sterben und es ein schmerzhafter Tod sein könnte, aber ich betet verzweifelt um das Ende diesen Alptraumes, das Erscheinen der Feuerwehr, dass alles nie passiert wäre und... wohl irgendwo auch um Ruhe. Seltsam klingt es, doch mein Herz schlug da so schnell, dass ich mir in einem Augenblick des Zynismus lakonisch dachte, dass ich eher bei einem Herzinfarkt draufgehen würde. Meine Brüder weinten auch und ich weiss noch heute, das sich das Zittern, das meinen Körper befallen hatte, nicht stoppen konnte, und es war gewiss nicht wegen der Kälte.
Es klingt jetzt übertrieben dramatisch, selbst für mich, zu jenem Zeitpunkt war es das nicht. Nein, es war bitterer Ernst, der mich zu meiner Panik trieb, so dachte ich. Ich war maßlos erleichtert, als wir ungeduldig Wartenden - was hätten wir denn tun können? - in der Ferne die Feuerwehrssirenen hören konnten, und dennoch ebbte die Sorge nicht ab.
Tausende ‚was wäre wenn'-Fragen schossen mir durch den Kopf, brachten mich um meine erzwungene Ruhe.
Wäre dieses nicht gut ausgegangen, würde ich dir nicht schreiben. Du wirst es wohl auch nicht so dramatisch finden, kaum einer Erwähnung wert, denn es war ja eigentlich nur ein Kabelbrand, der einige Kellertüren als Aschehäufchen zurück ließ, aber es gab weder Verletzte noch ernsthafte Schäden. Ich glaube, es wurde nicht einmal von der Zeitung erwähnt.
Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass Zeitungen bei ‚wichtigeren Meldungen' den Brandtod einer ganzen Familie rechts oben in die Ecke quetschen müssen, nicht wahr? Ich habe am nächsten Tag in der Schule davon erzählt, aber als klar wurde, dass es nur ein Kellerbrand war, sank das Interesse fast schlagartig. Ich möchte keinen der Desinteresse beschuldigen, ich meine, würdest du mir von solch einer Situation erzählen, so würde ich mich wohl selbst jetzt fragen, was ich denn sagen könnte, was nicht nur eine allgemein Mitleidsbekundung oder ein simpler Schreckenruf mit der Frage nach deinem Wohlbefinden war. Ich wüsste nicht, was ich sonst noch sagen könnte.
Manchen war es wohl egal. Anderen nicht. Aber beide Seiten haben nicht viel gesagt, nicht viel gefragt. Doch für mich ist es ein gravierendes Erlebnis, das mich daran erinnert hat, dass wir Menschen doch sterblich sind, dass ich wohl dankbar für vieles sein sollte, was ich vorher mit Selbstverständigkeit wahrgenommen habe. Und durch dieses bin ich mir mehr als bewusst, dass der Tod mehr als nur negativ ist für den Einzelnen, Liebenden, selbst mit dem Trost einer Religion. Doch bin ich töricht, wenn ich zweifelnd frage, ob das dem Tod in seiner Allgemeinheit das Attribut ‚neutral' nimmt? Bin ich egoistisch, wenn ich den Schmerz anderer wahrnehme, und dennoch denke, dass Tod ein Bestandteil des Lebens ist, wo ich doch selbst den Tod so fürchte und diesem Augenblick Tod plötzlich ‚böse' für mich werden würde?
Fragen, aber da sie keine Wissensfragen sind, habe ich wohl nie eine Antwort, die uns alle zufrieden stellen würde. Es macht auch nichts, denn zweifeln und Fragen ist des Menschens zweite Natur, denke ich. Und auch wenn ich sonst eher wenig über solches nachzudenken scheine, so frage mich bitte nicht, ob ich Fieber habe und anfange, den Pseudophilosophen zu mimen. Mein unterschwelliger Hang für vertrackte und nicht immer logischer Gedanken sind ebenso wie meine zynische Ader beide Teil von mir, und es ist keine Maske, hinter der ich mich verstecke. Es sind eher Vorhänge, hinter diesen ich meine Erlebnisse für mich verarbeite und erkläre, bevor ich sie niederschreibe, wie jetzt in diesem Augenblick. Vielleicht philosophiere ich ja tatsächlich, aber es sind meine Gedanken, und sie müssen nur für mich gelten. Ich hoffe jedoch, dir damit einen Einblick in mein komplexes, seltsames ich gegeben zu haben und ich auch nicht zu sehr gelangweilt zu haben.
Fragst du dich -oder mich- jetzt, warum ich ausgerechnet dieses Erlebnis gewählt habe? Warum ich nicht stattdessen meine erste große Liebe, den ersten Schultag, meine erste außerschulische Prüfung, meine erste Kritik ...
gewählt? Tja, frage ich mich auch. Aber vielleicht habe ich es ja doch genommen, weil es mit Tod, und damit auf Leben zu tun hat. Anderseits - was ist denn völlig von beidem unberührt?
Herzliche Grüße
Deine
Ruki



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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