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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Wie ich die Unschuld meiner Seele verlor (Meinem ersten Freund L gewidmet)

© Anne Zegelman


Es regnete in dieser Nacht. Strähnige kalte Tropfen wehten unbeeindruckt unter die wenigen Regenschirme, die wie eine Farce verkrüppelt und zerfetzt über den nassen Köpfen ihrer Besitzer hingen. Die Nässe, und, schlimmer, der Schlamm bespritzte bei jedem Schritt die Hosenbeine. Meine Füße waren eiskalt und klamm und schmerzten, denn die Turnschuhe waren längst durchtränkt von Wasser und Schmutz. Der Sturm fuhr in die Baumskelette, schüttelten die kahlen schwarzen Äste über unseren Köpfen wie klappernde, frierende Gerippe.
Wir versuchten, uns zu beeilen. Doch wir steckten fest, alptraumartig eingeschnürt in ein nasses, atmendes, laufendes, schniefendes Korsett von Körpern, die alle froren, nach Hause wollten und denen zum Heulen zumute war - wie uns.
Als unsere Menschenmasse den Bahnhofseingang erreichte, wurde sie gebremst.
Das geöffnete Tor ein paar Meter vor uns war nicht breit genug, um sie alle auf einmal hineinzulassen. So standen wir still im Regen, während sich vorne die Leute wie durch ein Nadelöhr in das Innere des Bahnhofs quetschten. Das Wasser rann aus unseren Haaren die Stirn, die Wangen hinunter, über die fest zusammengepressten Lippen, und ich fühlte, dass ich aufgehört hatte zu denken und mein Körper auf Notaggregat umstellte.
Das muss wohl der gruseligste Halloween-Abend meines Lebens gewesen sein.
Es dauerte eine Weile, bis ich bemerkte, dass es aufgehört hatte zu regnen.
Langsam hob ich den Kopf und sah nach oben. Ich stand unter einem hellen, fast heilen Regenschirm. Und es war Lasses Hand, die ihn hielt.
Lasse war einen Kopf größer als ich, hatte streichholzkurze, dunkelblonde Haare, die nass und wuschelig in alle Richtungen abstanden, und Wangen, die ein bisschen nach unten hingen. Seine Haut war hell, er war unrasiert, und aus tiefen Höhlen, eingerahmt von dunklen Augenbrauen und sternförmigen Lachfältchen sahen mich zwei funkelnd wache grüne Augen an.
Lasse war Mitte dreißig.
Und ich war fünfzehn.
Aber seine Stimme war weich, er brachte mich zum Lachen, und er war nett und intelligent. An diesem nassen, kalten, unheimlichen Abend riss mich ein tiefes Gefühl von Gleichheit aus meinem bisherigen Leben und an seine Seite.
Etwas schien zu stimmen, etwas schienen wir richtig gemacht zu haben, denn wir passten offensichtlich sehr gut zueinander.
Meine erste Liebe begann.
Ich entdeckte nach und nach viele Seiten an ihm, die ich attraktiv fand.
Sein Alter war eine Zahl auf einem Stück Papier, sonst nichts. Er war ein Abenteuer, bunt, multicolor, berauschend.
Wir waren glücklich, solange die Welt draußen blieb. Doch das tat sie nicht lange. Meine Eltern wurden hellhörig. Lasse war nur zehn Jahre jünger als mein Vater, und obwohl ich ihnen gegenüber nie sein Alter erwähnt hatte, mussten sie doch ihre Schlüsse ziehen aus den Tatsachen, dass er eine eigene Wohnung und ein Auto besaß und mich nie zuhause abholte.
Meistens trafen wir uns in der Stadt oder bei ihm. Wir redeten, schwiegen, lachten und weinten. Wir rollten allmählich unsere Vergangenheit voreinander auf, offenbarten uns und machten uns verletzlich. Dabei war seine Lebensgeschichte natürlich wesentlich länger. Er hasste seinen Vater, seinen Job, hatte Schulden auf der Bank und war vom Leben besessen. Lasse schien etwas aus meiner Jugendlichkeit zu ziehen, doch damals begriff ich nicht, was.
Er begann noch einmal neu durch mich, lebte von meiner Unverdorbenheit und meiner frischen Energie, und ich lernte von ihm über das Leben.
Wir waren eine perfekt aufeinander abgestimmte Symbiose. Wir brauchten einander viel mehr, als ich damals ahnte.
Ein paar Monate später verboten meine Eltern mir den Kontakt zu ihm.
Erstaunlicherweise lebten wir sehr gut damit. Wir sahen uns heimlich, meine Freundinnen waren klasse und gaben mir Alibis, so oft ich sie darum bat.
Wir konnten eine unglaubliche Energie aufbringen, wenn es darum ging, an unserer Beziehung festzuhalten. Vielleicht waren wir auch beide einfach nur in Revolutionsstimmung, was uns zusätzlich zu der Überzeugung brachte, dass wir im Recht seien. Wir standen gemeinsam auf einer Seite in einem Kampf gegen die üblichen Konventionen, hielten uns tapfer aneinander fest, selbst als unser eigenes Boot zu wanken anfing.
Und doch kenterten wir.
Wir konnten uns gegen alle Verbote und Widerworte von außen zur Wehr setzen.
Aber was uns schließlich scheitern ließ, waren kleine Dinge. Ich konnte ihn nicht mit nach Hause bringen. Die wenigen meiner Freunde, die ihn kennen lernten, fanden ihn alt, langweilig und verstanden meine Gefühle nicht. Er passte zu mir, doch er passte nicht in mein Leben.
Ihm ging es wohl genauso. Eigentlich brauchte er eine Frau, die ihn bei der Hand nahm, die ihm den Haushalt mache und die Wäsche wusch, und stattdessen hatte er mich, für die er sorgen musste. Für ihn muss es ein Drahtseilakt gewesen sein, mich vor seinen Freunden und Kollegen vor verbergen. Ich war minderjährig, und sie waren verheiratet und standen fest im sozialen Leben.
Obwohl ich am Ende begriff, dass unsere Liebe eine Schlagseite gehabt hatte, wusste ich, dass es nicht an uns gelegen hat, sondern an der viel zu unterbewerteten Kulisse und den Statisten, die großen Einfluss auf uns ausübten.
Durch Lasse habe ich die Unschuld meiner Seele verloren, wie es den meisten Menschen ergeht, wenn sie zum ersten Mal lieben und enttäuscht werden.
Nach ihm kam nie wieder einer, der klüger, lustiger oder aufregender für mich gewesen wäre als er.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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