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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Gewissensplage

© Regina Mühlpfordt


Das Auto ist weg, der Vater unterwegs. Fritz ist erleichtert.
Schultasche in die Ecke. Grießbrei mit viel Zimt, gleich aus dem Topf. Dann ran an den Computer und Punkte sammeln, bis zum nächsten Level ist es nicht mehr weit.
Er ist ganz und gar vertieft in sein Spiel und hört nicht die Autogeräusche. Als sein Vater ins Zimmer tritt, erschrickt er. Zu spät! Alle Gebote fallen von der Decke. Du sollst, du sollst, du sollst nicht. Die Schultasche liegt herum, er hat noch keine Hausaufgaben für übermorgen gemacht, er hat keine Hausschuhe an, der Topf steht dort, wo er geleert wurde. Was kommt heute dazu?
Auf die grußlose Frage: "Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?", kann Fritz bloß mit dem Kopf schütteln und antworten, dass er bis morgen keine aufbekommen hat. "Wie lange sitzt du schon hier?", "wo sind deine Hausschuhe?", "warum liegt die Schultasche herum?", "wieso steht der Topf auf dem Tisch?" Die Fragen kommen so schnell, dass er sie gar nicht nacheinander beantworten kann. Die Lust am Spiel ist vorbei, kein neuer Level erreicht, hastig speichert er alle Daten. "Ich habe dich etwas gefragt?!", zurückgehaltene Wut klingt aus der Stimme des Vaters, Fritz antwortet schnell: "Ich weiß nicht". "Was weißt du nicht?!", kommt es sofort zurück.
Fritz könnte antworten, dass er nicht wüsste, wo die Hausschuhe sind oder nicht weiß, warum er vergessen hatte, den Grießtopf in den Abwasch zu stellen. Auch wie lange er schon am Computer sitzt, weiß er nicht. Er zuckt bloß mit den Achseln. Ihm fällt nichts Besseres ein. Dem Vater auch nicht, deshalb verordnet er: "Eine Woche Computerverbot!" Fritz versteht nicht, wie der Topf auf dem Tisch mit dem Computer in Zusammenhang zu bringen ist. Immer neue Maßregeln, sie irren durch das Haus und scheuchen ihn. Was soll's, er geht seine Hausschuhe suchen, der Vater verschwindet im Arbeitszimmer.
Beim Suchen hört er die andere Stimme seines Vaters, er telefoniert: "Entschuldigen Sie bitte, wir können so nicht weitermachen ... ja, es gibt da neue Vorschriften, ... natürlich, die Weisung geht heute noch raus ...". Fritz bekommt sofort Lust zum Radfahren, er geht in den Schuppen, holt sein Fahrrad, setzt den Helm auf und fährt los. Er gibt dem Vater nicht Bescheid, er will keine Belehrungen und keine Fragen gestellt bekommen. Außerdem hat er Lust, mit Tom etwas zu unternehmen und das gefällt dem Vater sowieso nicht. Der rümpft die Nase, wenn Fritz zu Tom will: "Wieso spielst du immer mit Jüngeren, was macht ihr überhaupt?"- Toms Vater Egon ist arbeitslos, er geht mit den Jungs manchmal zum Bach angeln, manchmal in den Wald Pilze suchen oder friemelt mit ihnen so lange an irgendetwas, bis etwas entsteht. Sie unterhalten sich dabei und lachen miteinander. So einfach ist das.
Fritz sieht Toms Vater auf dem Hof, der begrüßt ihn auch sofort: "Hallo Fritz, ich weiß nicht, wo Tom ist!" Fritz stellt sein Fahrrad ab und geht auf Toms Vater zu. Dieser sägt gerade an der Haustür und erklärt, dass hier eine kleine Schwingtür für die Katzen entsteht. "Damit sie nicht mauzen müssen, um hereinzukommen", lacht er.
"Was ist eine Weisung?" fragt Fritz ganz unvermittelt. Toms Vater schaut ihn erstaunt an: "Tja, eine Weisung, das kann vieles bedeuten. Eine Aufforderung, eine Bestimmung, eine Vorschrift, auch ein Befehl, - wie kommst du darauf?" "Aha, wieder Vorschriften", sagt Fritz nachdenklich: "Mein Vater telefoniert sogar die Vorschriften. Ich darf seit heute auch nicht mehr an den Computer." Vater Egon runzelt die Stirn, er kennt den Vater von Fritz, den Herrn Wendt. Obwohl sie noch nicht lange im Dorfe wohnen, weiß doch jeder von jedem. Was soll's, der Herr tut gern mächtig und meint wohl, Anweisungen helfen ihm dabei. Aber, dass dieser Junge darunter so leidet, das schmerzt Egon. "Nun, so einen Rechner können wir noch zusammenbauen." Fritz schüttelt müde den Kopf: "Vielleicht darf ich ab Morgen nicht mehr zu euch kommen." Egon kratzt sich hinterm Ohr: "Das ist bei deinem Vater leicht möglich." "Wie kann ich dir bloß helfen, mein Junge!?"
Da kommt Tom um die Ecke, er bremst sein Fahrrad so scharf, dass das Hinterrad zur Seite rutscht. Egon schmunzelt. Tom ist außer Atem: "Fritz, ich war gerade bei dir, dein Vater ist krebsrot vor Wut, du sollst nach Hause kommen!"
"Ich würde lieber eure Katze sein", äußert sich Fritz niedergeschlagen und steigt auf sein Rad. "Kopf hoch, mein Junge!", ruft ihm Egon noch nach. ‚Kopf hoch', seufzt Fritz und kurvt um den Teich. In Gedanken hört er schon seinen Vater: "Du sollst deine Hausaufgaben endlich machen, was ist denn das für eine Schrift, setze dich gerade hin, wie stehen deine Schuhe wieder herum, wie oft habe ich dir schon gesagt ... deine Zahnbürste, deine Haare, deine Hose, dein Fahrrad ...!!!" Plötzlich lenkt Fritz sein Fahrrad in Richtung Neuhaus, er tritt in die Pedale als ginge es um sein Leben. Berghoch und dann links in den Wald, und nochmals links. Fritz war hier schon mit Tom und Egon. Ja, hier war doch die Stelle, wo sie ganz leise sein mussten, um den Vogel zu beobachten, der mit dem Kopf voran den Baumstamm herunterläuft. Wie hieß er nochmal? Fritz steigt vom Fahrrad. Da fällt es ihm ein: Kleiber. Er schaut nach der verlassenen Spechthöhle, die der Kleiber zugeklebt hat.
Und irgendwo hier war doch auch eine Futterkrippe mit einem Heuboden darüber. Fritz zerrt sein Fahrrad durchs Gestrüpp. Oh, wenn ihn sein Vater so sehen würde. ‚Wie oft habe ich dir gesagt ... das Rad war teuer genug ... was hast du überhaupt für Hosen an!!! ... nicht schon wieder', denkt Fritz. Da war sie ja, die alte Futterkrippe. Bloß gut, dass es noch nicht dunkel ist. Er schleppt sein Fahrrad auf der klapprigen Leiter nach oben, dann geht er noch einmal nach unten und verwischt mit Zweigen seine Spuren. Als er wieder auf dem Heuboden anlangt, atmet er erleichtert aus. Ruhe, endlich Ruhe. Er wirft sich auf ein Häufchen Heu und hört Egon noch sagen: "Kopf hoch, mein Junge!" Dann verschwinden alle Gedanken. Ein Bild taucht auf: Er sitzt mit dem Vater im Boot, sie angeln, der Vater legt ihm die Hand auf die Schulter, einen Augenblick nur, so einen ewigen. Fritz wacht auf und weiß sogleich, wo er ist. Lange kann er nicht geschlafen haben. Es ist noch nicht ganz dunkel. Da unten raschelt etwas, ob es Rehe sind? Ein mulmiges Gefühl macht sich breit. Nein, er kann jetzt nicht mehr nach Hause fahren. Er muss recht lange wegbleiben, vielleicht für immer. Dem Zorn des Vaters ist er nicht gewachsen. "Mama!", ruft es in ihm. Ein brennender Schmerz löst sich in Tränen auf. Darüber schläft er ein. Als er wieder aufwacht, ist es finster. Fritz hat Angst, ob sie ihn auch dieses Mal wieder suchen werden? In die Angst mischt sich noch etwas anderes, etwas, das weh tut. Vaters immer wiederkehrender Satz fällt ihm ein: "Du hast nicht einmal ein schlechtes Gewissen!" Plötzlich fühlt er es, Fritz fühlt sich schuldig, schuldig wegen den Hausschuhen, dem Topf auf dem Tisch und all den vielen anderen Vorschriften zu Hause und auch in der Schule. Zorn steigt in ihm auf, er schlägt mit den Fäusten ins Heu, immer derber und derber, bis er sich völlig verausgabt hat. Ganz erschöpft wirft er sich auf den Rücken. Da meldet es sich wieder, unhörbar leise, aber fordernd, dieses Gewissen! Die Nacht breitet sich aus, legt sich über das Leben jenseits aller Regeln und Sorgen. Vorbei das freie Leben ohne Gewissen. Fritz tastet sich zögernd durch die Dunkelheit.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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