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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Ein neuer Anfang
© Maria Haensch
Kathrin strich mit schmerzenden Händen über ihre Knie. Ihr ganzer Körper fühlte sich seltsam verkrampft an. Eine Träne fiel auf ihr schwarzes Kostüm. Mit Bewegungen, die in ihrer Abruptheit nicht gerade ihrem Naturell entsprachen, wischte sie mit der rechten Hand durch ihr Gesicht und stand auf. Sie ließ ihren Blick über das Buffet und die Gäste schweifen, dunkle Anzüge und schwarze Kleider. Die Unterhaltungen wurden schlagartig beendet, alle drehten sich zu ihr um. War das Mitleid oder Hohn oder Neid in ihren
Augen? Kathrin konnte e s nicht deuten. Als die erste pflichtbewusste Nachbarin mit ihren drei Zentnern Masse unter einem kreisrunden dunkelblauen Hut auf sie zugestapft kam um Trost zu spenden, verließ Kathrin fluchtartig den Raum. Das ganze Spektakel war ihr zu wider. Niemand davon diesen Leuten trauerte wirklich um ihren Ehemann, niemand hatte Edgar gemocht. Noch ganz in Gedanken versunken, prallte Kathrin auf dem Flur mit einem groß gewachsenen, dunkelhaarigen Mann zusammen.
"Mutter", flüsterte er in einem säuselnden Ton, das hatte er nie zur Kathrin gesagt, als sein Vater noch lebte, er hatte es ihm nie verziehen, dass er Kathrin geheiratet hatte. Die Angesprochene stieß erschrocken einen leisen Schrei aus. "Simon! Meine Güte, hast du mich erschreckt!". Sie überlegte, ob sie ihn auf das Wort Mutter ansprechen sollte, verwarf dann die Idee aber wieder. Trotzdem meinte sie in seinen kleinen grünen Augen einen seltsamen, belächelnden Ausdruck zu erkennen.
"Hör zu, ich fühle mich gar nicht gut. Ich muss einfach allein sein, diese Leute hier, ich halte das nicht mehr aus. Du bist doch nicht enttäuscht, wenn ich gehe?", sagte Kathrin.
Simon musterte die Frau direkt vor ihm. Sie war um einiges kleiner als er, die sonst so gepflegten rotbraunen Haare sahen ungewaschen aus, das ungeschminkte Gesicht wirkte eingefallen und leer. Ja, dachte er, man könnte fast meinen, dass sie um Vater trauert. Er meinte das jedoch nicht.
"Natürlich hätten wir dich gerne noch etwas länger bei uns, aber ich kann das verstehen, wenn das alles hier zu viel für dich ist, schließlich bist du seine Witwe", der Rest des Satzes: "und ich? Ich bin sein Sohn!", blieb ihm im Hals stecken. Statt dessen bot er ihr seine Begleitung zum Haus seines Vaters an.
"Nein danke Simon. Weißt du, ich brauche wirklich etwas Zeit für mich", meinte Kathrin und machte sich auf den Weg zur Garderobe. Sie streifte ihren Mantel über und verschwand ohne ein weiteres Wort durch die Tür in die Dunkelheit. Obwohl der Weg nicht weit war, graute es ihr bereits jetzt davor. Mit jedem Schritt auf der beleuchteten Straße kam sie dem verhassten Feldweg näher, der sie direkt zu ihrem Anwesen führte.
"Du bist hier schon so oft entlang gegangen", versuchte sie sich selbst zu beruhigen. "Aber immer ist Edgar bei mir gewesen", ging es ihr unweigerlich durch den Kopf. Kathrin lachte kurz auf, sein Tod hatte sogar die vermeintlich einfachen Dinge des Lebens von Grund auf verändert. .
Zögerlich betrat Kathrin die ersten Meter des vom Regen aufgeweichten Trampelpfades, der auf einer Seite von einem Waldstück gesäumt wurde. Sie blieb stehen. Schließlich war das nicht der einzige Weg nach Hause, es war nur eine Abkürzung. Über die beleuchteten Hauptstraßen würde es sie mindestens eine halbe Stunde kosten, bis sie ankam. Wozu sollte sie das in Kauf nehmen? "Niemand wartet mehr auf mich", der Gedanke schmerzte in ihrer Brust und verengte ihre Kehle. Damit war es ausgemachte Sache, sie
würde über die Straße gehen. Mit routinierten Handbewegungen verschwanden ihre Hände in ihrer Manteltasche und holten eine Schachtel Zigaretten hervor. Kathrin suchte in ihrer Handtasche nach Streichhölzern als sie plötzlich meinte, ein Geräusch hinter sich gehört zu haben. Sie konnte sich nicht mehr umdrehen um nachzusehen, eine Hand hatte ihre Arme gepackt und hielt ihre Hände auf ihrem Rücken fest. Eine zweite Hand legte sich über ihren Mund. Kathrin war derart überwältigt, sie dachte zu spät daran zu schreien,
jetzt war sie hilflos. Das war eindeutig ein Mann. Was würde er mit ihr tun? Sie hoffte inständig, dass er nur auf Geld aus war, doch Bilde schlimmerer Szenarien stiegen vor ihrem geistigen Auge auf. Sie war kurz davor einfach und auf der Stelle das Bewusstsein zu verlieren. Mit einer blitzschnellen Bewegung löste sich die Hand von ihrem Mund und strich kurz über ihren Hals. Sie hörte Schritte, das Zuschlagen einer Autotür, das Aufheulen des Motors. Erst jetzt hatte sie die Kraft sich umzudrehen, den Mann erkannte
sie nur schemenhaft hinter dem Steuer eines dunklen Kombis sitzend, er trug eine schwarze Maske. Er wendete das Auto und war kurz darauf von der Bildfläche verschwunden.
Kathrin stand regungslos da und blickte ihm nach. Sie wusste nicht, wie lange dieser Zustand andauerte und wann die erste Frage in ihrem Kopf ankam: "Was ist mir da grade passiert?", sie konnte sich nicht erklären, was der Mann gewollt hatte. Sie fuhr mit ihrer Hand über ihren Hals und bemerkte erst jetzt den Verlust: Ihre Halskette. Der Mann war also doch ein Dieb gewesen. Aber warum hatte er nicht ihre Handtasche genommen? Die Kette war doch überhaupt nichts wert, das Furchtbare war, dass sie an dieser
Kette den Schlüssel zu ihrem Tagebuch trug. Das würde sich auch noch mit ihrem Ersatzschlüssel schließen lassen, den sie zu Hause aufbewahrte. Sie trug den Schlüssel nicht aus Sicherheitsgründen mit sich herum, es war vielmehr Sentimentalität, Edgar hatte ihr sowohl das Buch als auch die Halskette geschenkt und sie hielt es für eine romantische Idee, beides so zu verbinden. "Nun, der Dieb hatte wohl nichts für Romantik übrig, was wollte er mit dem Schlüssel? Blödsinn!", dachte sie sich, "der Mann
kennt mich nicht und kann ja gar nichts davon wissen. Wahrscheinlich hatte er mich nur in einer so umständlichen Lage gefangen, dass er meine Tasche nicht von meinem Arm nehmen konnte, ohne mich loszulassen. Da hat er lieber nur mit der Kette vorlieb genommen." Das erschien ihr einleuchtend, obwohl sie glaubte, dass ein professioneller Dieb so etwas doch geschickter anfangen würde. Trotzdem setzte mit dieser Erklärung die Erleichterung bei ihr ein. Immerhin hatte er sie nicht umgebracht, oder gar noch Schlimmeres
mit ihr getan.
Sie hatte wirklich Glück gehabt, die Erkenntnis brachte langsam ein Gefühl in ihren Körper zurück. Nachdem sie der Gefahr entwischt war, fühlte sie sich frei, endlich zündete sie sich die Zigarette an und machte sich zielsicher auf den Weg über die Straße. Sie bog auf die beleuchtete Hauptstraße ab, hier war auch um diese Zeit noch Betrieb. Im Gehen beobachtete sie die Menschen, alle sahen für sie gleich aus. Verbittert, unter Druck gesetzt, sie alle hatten Sorgen, das sah Kathrin ihnen an. Und jetzt erkannte
sie auch ihr Glück im Unglück, denn ihr Kummer um ihren toten Mann, das war etwas, dass sie nicht mehr würde ändern können. Natürlich trauerte sie und das würde sie auch weiterhin, aber sie hatte jetzt keine Verpflichtungen mehr, ihre eigene Familie war schon längst verstorben, Edgar war nicht mehr da, Kinder hatte sie nie gehabt. Sie konnte sich jetzt nur noch um sich selbst kümmern, könnte neue Dinge tun, sich vielleicht ein Hobby anschaffen? Kathrin lachte bei dem Gedanken innerlich auf, bisher war sie immer
nur für jemand andern da gewesen, für Edgar hatte sie all die Jahre den Haushalt besorgt, viel Freiheit war ihr dabei nicht vergönnt gewesen. Sie freute sich nicht über seinen Tod, sie begann schon jetzt sich schuldig zu fühlen, weil sie etwas positives daran sah. Trotzdem, der Gedanke eines eigenen, selbst bestimmten Lebens erschien verlockend.
Die Begegnung mit dem unbekannten und ihren eigenen Heimweg vergaß sie über diese Gedanken vollkommen, sie war bereits vor ihrem Haus angekommen. Das eiserne Gitter der Einfahrt stand einen Spalt weit offen, Kathrin dachte sich nichts dabei und ging zur Tür.
Im Haus warf sie ihren Mantel auf den Boden als hätte sie es nie anders getan. Erschrocken dreht sie sich um und blickte hinter sich auf den Boden. Edgar hatte immer auf Ordnung bestanden, jetzt tat sie, wonach ihr grade zu Mute war. Ihr schlechtes Gewissen durchzuckte sie schmerzhaft wie ein Lichtblitz im dunkeln, sie war immer noch so verwirrt. Kathrin flüchtete ins Bad, öffnete mit zitternder Hand das Schränkchen über dem Waschbecken und spülte einige Tabletten mit etwas Kranwasser hinunter. Sie stolperte
in ihr Schlafzimmer und warf sich aufs Bett. Der Schlaf überwältigte sie wie der geheimnisvolle Dieb, was hatte der Mann nur gewollt?
Ihre Augen schlossen sich für die traumlose Stille.
Ein schrilles Geräusch läutete in ihrem Kopf. Kathrin fuhr erschrocken auf und sah sich um. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr alles, was in der letzten Zeit passiert war, wieder einfiel. Die Klingel. Sie tastete das Bett ab und fand ihren Bademantel. Dann fiel ihr auf, dass sie ja noch angezogen war und sie stand auf um die Tür zu öffnen. "Komisch", dachte sie auf dem Weg nach unten, hatte sie gestern Abend all ihre Sachen aus den Schränken gezogen und auf dem Boden verstreut? Sie war sich nicht sicher.
Kathrin öffnete die Tür und ein Mann ihres Alters im grauen Anzug stand ihr gegenüber:
"Guten Morgen! Wir kommen von der Polizei", brummte der Mann sie an. Kathrin bat ihn hereinzukommen, einige andere Gestalten in Uniform folgten. Von dieser
ungewöhnlichen Art, den Tag zu beginnen, musste sich Kathrin erst einmal erholen, der Mann hatte sich wohl grade vorgestellt, doch ihr Verstand setzte erst bei diesen Worten wieder ein:
"Es geht sich um den Tod ihres Mannes, jemand hat zu Protokoll gegeben, dass es sich womöglich doch nicht um einen Herzinfarkt gehandelt hat." "Was soll das heißen?", fuhr ihn Kathrin erschrocken an. "Mord", meinte der Beamte trocken. Kathrin war geschockt, wer hätte ihrem Mann schon etwas Böses wollen sollen? "Schließlich wurde noch keine Autopsie vorgenommen, man kann es also noch nicht wissen. Sagen Sie mal, sind das ihre Medikamente auf der Kommode?"fragte der Polizist
skeptisch. Er ging ein paar Schritte vorwärts und nahm einige Tablettenröhrchen vom Schrank. Kathrin ging auf ihn zu und schaute überrascht auf die Arznei. "Nein, die habe ich bisher noch nie gesehen, vielleicht hat das Edgar gehört", meinte sie. "Ich glaube kaum, dass ihr Mann solche Tabletten besessen hat, das wäre für ihn lebensgefährlich gewesen", knurrte der Polizist.
Kathrin war wie vom Donner gerührt, irgendetwas war hier nicht in Ordnung. Das ganze Haus schien vollkommen anders als zuvor, alles war unordentlich, sah geradezu durchwühlt aus. Die Medikamente hatte sie tatsächlich nie gesehen. "Wenn bei der Autopsie herauskommt, dass ihr Mann keines natürlichen Todes gestorben ist, reicht das für einen Durchsuchungsbefehl. Ich denke, Sie kommen lieber erst mal mit und aufs Revier." Kathrin war wie vom Donner gerührt, sie ließ sich bedingungslos herausführen, in ein
Auto setzen und auf die Wache bringen. Dort wartete sie in einem karg eingerichteten Raum auf die Fortsetzung, das war für sie alle so unglaubhaft, ihr eigener Mann ermordet, wie lächerlich. Die Gedanken in ihrem Kopf verloren immer mehr an Klarheit.
Die Tür öffnete sich. In ihrer Verwirrung war Kathrin froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen:
"Simon", schrie sie auf, "ich bin wirklich froh dich zu sehen". Ihrem Gegenüber entfuhr kein ermunterndes Wort: "Kann ich kurz alleine mit meiner Stiefmutter reden?", fragte er jemanden hinter der Tür. Simon lächelte. Dann packte er Kathrin mit einem Ruck an der Schulter und zog sie weiter in seine Richtung. "Hallo", säuselte er mit triefender Ironie, "ich hoffe es geht dir gut?" Kathrin schauderte es, wenn sie ihm in die Augen sah. Langsam wurde ihr einiges klar.
"Du brauchst dir keine Sorgen zu machen wegen der ganzen Sache. Ich habe schon längst deine Unschuld beteuert." In Kathrin keimte die Hoffnung.
"Leider werden die Beweise gegen dich sprechen", er lachte. Kathrin wollte aufschreien, aber er hielt ihr die Hand vor den Mund. Die Situation kam ihr bekannt vor. "Nein, du... du hast tatsächlich, oder?", stammelte sie. "Na ja, sie werden feststellen, dass er umgebracht wurde, dass eines der Medikamente, die sie bei dir gefunden haben dafür verantwortlich war und...sie bekommen einen schriftlichen Beweis dafür, dass du ihn töten wolltest", Simon nickte selbstzufrieden. "Aber
das wollte ich doch nie und das habe ich nicht!", Kathrin war den Tränen nahe. Simon zog sie noch näher und flüsterte in ihr Ohr:
"Und ich habe nie gewollt, dass er dich heiratet. Das hätte er nicht tun sollen, ein großer Fehler. Ich glaube, du wirst noch viel Zeit haben, um dich mit deinen Fehlern auseinanderzusetzen. Ah hier, das hätte ich fast vergessen", er hatte bereits auf dem Absatz kehrt gemacht als er sich umdrehte und ihr ein Paket übergab:
"Ein neues Tagebuch. Die Polizei wird das andere noch brauchen."
Kathrin drückte das Paket an sich und blickte ihm nach, als sich die Tür hinter ihm schloss.
Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.