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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Fünfundvierzig Jahre später

© Matthias. N. Schütz


Ich hatte in den letzten Wochen viel Zeit über mich und die Welt nach zu denken. Ich wollte sehr gerne fünfundvierzig werden, aber ich hatte auch eine panische, eigentlich nicht erklärbare Angst davor. Das Haar auf meinem Kopf lichtet sich von Jahr zu Jahr, die Muskeln hängen immer weiter herunter und die Träume schrecken mich nachts öfters aus meinem ohnehin schlechten Schlaf, als früher. Zum Schutz davor, erinnerte ich mich dann schnell an die vielen schönen Erlebnisse, die ich in den zurück liegenden Jahren erleben dürfte und versuchte damit einfach die Schrecken des Traums in den Hintergrund zu drängen.
Abgesehen von den nächtlichen Erlebnissen zog sich meine Suche nach einem neuen Arbeitsplatz nun schon über viele Monate ergebnislos dahin. So wechselten sich die Tage und die Nächte mit ihren ausweglosen Erfahrungen und Erscheinungen ab. Der erste Ordner mit Absagen las sich wie ein Märchenbuch der nationalen und Internationalen Personalabteilungen. Wir wünschen Ihnen weiterhin alles Gute, und so weiter, und so weiter, und so weiter. Das wünschte ich mir auch, aber der Glaube und die Hoffnung daran reichten nicht aus. Irgendetwas hinderte mich daran einem Job näher zu kommen. Hin und wieder wurde ich zu einem ersten Gespräch eingeladen, aber es reichte nie zu einer endgültigen festen Zusage.
Bis zu jener Nacht! Es war wieder eine, in der ich durch schreckliche düstere Bilder, Grimassen und Fratzen aus dem Schlaf gerissen, ängstlich erwachte. Ein paar Angstperlen liefen über die Stirn, das Herz schlug rasend, deutlich fühlbar, pochend und schmerzend schnell. Die Hände fühlten sich klamm und kalt an. So wiederholten sich die Träume in den Nächten danach in immer kürzeren Abständen mit immer schrecklicheren Bildern. Wenige Tage vor dem fünfundvierzigsten Wiegenfest war ich endgültig am Ende meiner Kräfte. Ich musste unbedingt jemandem davon erzählen der mich von diesen Qualen befreit. Ich brauchte Hilfe! Doch meinen Hilfeschrei hörte niemand. So klammerte ich mich Hilfe suchend an eine Anzeige in der Tagespresse. Dort stand unter der Rubrik "Lebensfreude" folgender Text: Neue Kenntnisse der Evolution unserer Energie-Anatomie ermöglichen es, unsere Anbindung an die veränderte Energie des Universums und der Erde zu stärken. Wir können unseren biologischen, geistigen und emotionalen Wachstumsprozess verantwortlich mitgestalten, um authentischer, ausgeglichener und stärker zu werden im Alltag und Beruf, in unserer Beziehung zu Mitmenschen und uns selbst. Ende des Textes. Telefonnummer und Ansprechpartner. Ohne lange darüber nachzudenken, wählte ich die Telefonnummer und telefonierte mit einem Mann. Er ist die Ansprechperson und auch der Therapeut zu der gelesenen Anzeige. Ich schilderte ihm meine Erlebnisse und Erfahrungen und bat ihn eindringlich um Hilfe. So geschah es auch. Ich sollte ihn zu einer Einzelsitzung besuchen. Wie schon am Telefon getan, schilderte ich ihm noch einmal alle Einzelheiten meiner Ängste und Enttäuschungen. Er hörte mir zu und sagte dann mit seiner beruhigenden und stärkenden Stimme folgendes: "Indem Sie und ich Harmonie und Wachstum für uns persönlich fördern, gehen wir unmittelbar in Resonanz zu allen Menschen mit der gleichen Absicht, bündeln unsere Energien und vermehren so das Friedenspotential rund um den Globus!" Danach schwieg er. Er stand auf öffnete eine Tür hinter sich und führte mich in einen Nebenraum in dem ein paar Stühle an der Wand standen. In dem das Licht der Wandlampen warm leuchtete und der Boden mit einem dunkelblauen Teppich ausgelegt war. Ich sollte mir einen Stuhl nehmen und ihn irgendwo im Raum abstellen, ohne groß darüber nach zu denken, wo. Ich tat es. Danach setzte ich mich und wartete auf die nächste Anweisung. Es blieb still. Meine Gedanken waren überall, nur nicht in diesem Raum. Ich zweifelte an der erhofften Hilfe der zuvor geschilderten Probleme und blickte noch zweifelnd an die leere Wand gegenüber. Aber alles kam anders. Die folgenden Anweisungen befolgte ich genauestens, sprach mit Stühlen und mit mir. Reinigte mich beim Wechsel von einem Platz zum anderen indem ich eine unsichtbare Hülle vom Körper wischte. Fühlte Kälte und Wärme, Druck und Erleichterung, aber auch Freude und Trauer. Das Gefühl zu Zeit und Raum entferne sich aus meinen Gedanken. Nur mein Problem, das keinen Namen hatte, stand einsam und mit der Stuhllehne zu mir gewandt, in der äußersten Ecke dieses Raums. Ich fand heraus welche Stärken ich besitze, aber auch welche Schwächen mich seit vielen Jahren schon begleiten. Ich fand mich unausstehlich wenn ich den Platz wechselte und mir gegenüber saß. Ich fühlte plötzlich Dinge, ich weiß nicht wie ich sie sonst nennen soll, die ich vorher noch nie empfunden hatte. Und ich spürte nicht allein in diesem Raum zu sitzen. Ich war umgeben von Stühlen denen ich verschiedene Bedeutungen zugewiesen hatte mehr aber auch nicht. Ich weiß nicht wie viel Zeit ich bereits in dieser Umgebung verbracht habe, als ich mich meinem Problem in der Ecke näherte. Ich weigerte mich und rückte nur zögernd in die Nähe dieses Stuhls. Dieser Stuhl strahlte Angst und Leid aus. Ich fühlte förmlich den Schmerz den er in sich trug. Wie einsam er oder auch mein Problem war. Ein zweiter Stuhl wurde neben diesen einen gestellt. Ich saß also zwei leeren Stühlen gegenüber die völlig unterschiedliche Ausstrahlungen besaßen. Die Erklärung war einfach. Sie stellten Personen da und keine Gegenstände. Sie vertraten meine Großväter mütterlicher- und väterlicherseits. Einen von ihnen kannte ich und konnte mich auch noch an ihn erinnern, dem anderen aber bin ich nie begegnet. Was aber hatten diese bereits verstorbenen Großväter mit den Träumen oder mit dem Problem der Arbeitssuche zu tun. Ich stockte, mein Atem wurde heftiger, Angstperlen rollten mir über die Stirn, die Nase tropfte. Die Stille in diesem Raum beruhigte mich nicht. "Ich möchte ihnen jetzt etwas erzählen", fuhr er fort. "Kopf und Herz, Verstand und Gefühl werden in Einklang gebracht, das befreit den Körper und den Geist von unerwünschtem Druck. Gelassenheit und Klarheit nehmen zu. Alte Muster lösen sich sanft - alle Erfahrungen der Vergangenheit wandeln sich in stärkende Weisheit und Kraft für das Jetzt. Die Kernessenz wird aktiviert, das bringt ihre innere Weisheit ins tägliche Leben und fördert Vitalität und Lebensfreude. Energetische Vollendung. Das Ehren der eigenen Geschichte und die bewusste Verbindung zur Energie des Universums ermöglichen nun die volle Entfaltung Ihres ureigenen schöpferischen Potentials." Seine Wort hörten sich Weise an. Trage ich nun Schmerz und Leid meiner Großväter mit mir herum!" "Ja", sagte er. "Sie tragen aber nur den Schmerz eines Großvaters mit sich und das schon seit fünfundvierzig Jahren." "Wieso?", fragte ich. "Der Mensch und seine Hülle sterben, aber seine Seele vergeht nie. Sie ist allgegenwärtig." Ich fragte nicht weiter. Ich starrte nur mit traurigen Augen auf den einen Stuhl. Auf den Unbekannten. "Und er ist es, der ihr Problem darstellt." Wieso er, warum ich? "Er wurde 1900 geboren und mit fünfundvierzig Jahren in den letzten Tagen des Krieges verschleppt, er kehrte nie wieder heim." Ich nickte. "Er konnte nichts mehr erzählen, nichts verändern, nichts mehr tun, obwohl er noch so vieles vor gehabt hat. Sein Leben hat er in das ihre gelegt. Die Zahl 45, das Jahr 1945 auch ihr bevorstehender Geburtstag, der fünfundvierzigste gehören dazu. Es sind Schlüsselzahlen die mit ihnen und ihrem Großvater zu tun haben." Mir stockte der Atem. Ich spürte die Kraft die von ihm ausging, der Wille in mir weiter zu leben. Aber ich konnte damit nicht weiter leben! "Vergeben sie ihm", sagte er zu mir. "Ich kann nicht." Langsam und unaufhaltsam rollten mir Tränen über die Wangen. Ich wollte nicht mit ihm sprechen. Wie konnte er mir all die Zeit, er mich daran hindern, mich so zu entfalten wie ich mochte, wie konnte er mir das Leben so schwer machen. Es tat mir leid was ihm zugestoßen ist. Er hat mich dafür verantwortlich gemacht. Ich habe ihm doch nie etwas angetan. Er hat doch seiner Frau, seiner Tochter - meiner Mutter genug Leid hinterlassen. "Vergeben sie ihm", sagte er wieder zu mir. Ich schluckte. "Ich vergebe dir", sagte ich. "Sehen sie ihren Großvater an." Ich sah ihn an. Ich weinte immer noch. Ganz leise, so leise wie es für einen Mann nur ging. "Verbeugen sie sich vor ihrem Großvater und bitten ihm um Verzeihung und vergeben sie ihm." Ein paar Tränen tropften auf den blauen Teppich so, als würden sie in einen tiefen See fallen. Ich versuchte deutlich zu sprechen. "Ich vergebe dir Großvater und bitte dich darum auch mir zu vergeben und mich in Ruhe zu lassen." Danach schwieg ich. Es dauerte eine Weile, bis ich verstanden hatte was in den letzen Augenblicken geschehen war.
In mir stieg ein Gefühl der Zufriedenheit auf. Ich hatte keine Angst mehr, der Seele des Großvaters und seinem Leid ausgesetzt zu sein. Ich verweilte noch einen Augenblick, stand auf, verabschiedete mich von meinem Therapeuten, verließ den Raum und ging erleichtert nach Hause. Dieses Schlüsselerlebnis hat vieles in meinem Leben verändert. Ich feierte meinen Geburtstag ohne Freunde, aber mit der Erleichterung einem Menschen, nein, dass ich zwei Menschen geholfen habe. Meinem Großvater habe ich verziehen, mir die Kraft zurückgegeben und mit mehr Zuversicht und etwas Glück ein erfolgreiches Leben, vor allem aber ruhigen Nächten entgegen zu gehen.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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