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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der perfekte Tag

© Petra Buchwald


Peter starrte auf den kotbespritzen Hintern. Straffe, nahtlos sonnengebräunte Haut. Morgen würde die Kälte der Leichenkammer ein Leintuch fest um diesen Körper saugen. Der rote Waschlappen mit den unabwaschbaren braunen Flecken rubbelte emsig über die Sprenkel auf dem Beckenkamm. Obwohl er es gewusst hatte, begannen seine Hände zu zittern. Zwei dunkle Flecken blieben übrig. Erst vor wenigen Stunden hatte er seine Lippen zärtlich auf diese kleinen Punkte gedrückt. Und dabei darüber nachgedacht, ob er diesem seltsamen Mädchen mehr Raum in seinem Leben einräumen wollte. Die Frage hatte sich soeben selbst beantwortet.
Jetzt nur nicht das Gesicht ansehen! Bekam ein Patient ein Gesicht wurde er ein Individuum, spann sich eine Geschichte um das, was in seinen Zügen zu lesen war. Und kehrte wieder und wieder, lange nachdem er die Klinik verlassen hatte. Bremste das Leben dort draußen aus. Er dachte zurück an den Nachmittag. Wieder glaubte er, diese Beklemmung in seiner Brust zu spüren. Eine Traurigkeit, das Gefühl alles falsch gemacht zu haben, Einsamkeit und vor allem das Wissen immer und überall anzuecken mit seiner Art. War es denn normal, dass er nach diesem Tag auf den nachgebauten römischen Wachturm floh, statt Freunde im Biergarten zu besuchen? Das ungute Gefühl, warum hörte er darauf, spürte, wie es seinen Körper überschwemmte? Versuchte nicht jeder normale Mensch vor der inneren Unruhe davonzulaufen? Wie ein Echo der vergangenen Stunden glaubte er das Knarren der Plattformtüre zu hören. Er erlaubte sich in den Nachmittag zurückzukehren. Sein Kinn klappte nach unten. Wie schön sie war! Die langen roten Locken, die grünen Augen. Das ehrliche Erstaunen ihn hier anzutreffen. Und dann "Du?" gehaucht wie in diesem Lied von Drafi Deutscher. Langsam zog die kleine rote Zungenspitze einen verführerisch nassen Film über die Lippen. Er sah es in ihren Augen. Und wusste die Antwort stand in den seinen. Dann spürte er ihre Hand in seinen glatten, dünnen Haaren, fühlte volle Lippen auf seinen schmalen. Und zog sie nach unten auf die Planken. Sie war so warm, so lebendig. Würde sie so bleiben für ihn? Oder stände er nach einem Jahr wieder da, wo er jetzt mit Karina war? War das der Schmerz wert? Diese Gedanken hatten ihn abgelenkt die ganze Zeit während er sie beschlief. Er könnte sich ohrfeigen!!! Er war nicht gut genug für sie gewesen. Da war sie gegangen.
"Die Eltern sind da!" Mit erschrocken, weit aufgerissenen braunen Augen suchte die Schülerin einen ausgelernten Pfleger. Emsig beugte Peter sich über sein Kurvenblatt und überließ es Dirk die beiden zum Bett ihrer Tochter zu führen.
Durch die spanische Wand hörte Peter den Arzt leise zu den Eltern sprechen. "Frontal gegen den Baum….hat nichts mehr gespürt… " Peter dachte an seinen Unfall vor einigen Jahren. Er erinnerte sich deutlich an die Todesangst, die schnellen Bilder in seinem Kopf und die Leere in ihm, als das Auto endlich stillstand. Das ganze hatte nur einige Sekunden gedauert. In seiner Erinnerung jedoch war er Stunden über den Graben und in das Feld geflogen. Ihr Kopf wurde abschirmt von den Körpern ihrer Eltern. Und doch war sie in seinen Gedanken, ob er wollte oder nicht. Die Frau schaute ihn an mit weit aufgerissenen, geschockten Augen. Es schien, als wollte sie ihn bitten, sie endlich aus diesem Alptraum zu wecken. Durch das Gras ihrer Regenbogenhaut blickte er auf den Grund ihrer Seele. Sah, wie ihr das kleine schwarzhaarige Wesen an die Brust gelegt wurde, spürte überschäumendes Glück. Übertraf diese Freude den Schmerz des heutigen Tages? War die Erinnerung an die Urlaube, den ersten Schultag, die Erstkommunion, dieses Leben wert? Hätte sie gewusst, dass sie ab dem heutigen Tage all diese Dinge durch das Fenster unsäglichen Schmerzes betrachten würde, hätte sie dann jemals ein Kind bekommen? Aber dann waren da auch die anderen Bilder. Die Frau, Jahre älter, mit einem Kind auf dem Schoss: "Oma." Die Tochter beim Schreiben ihrer Doktorarbeit. Wünsche einer Mutter für ihr Kind. Ziele, die jetzt nicht mehr erreichbar waren. Wie bei ihm. Das letzte Jahr mit Karina war nur Planung für ein Leben in der Zukunft. Der Bauplatz war abbezahlt, der Baubeginn stand unmittelbar bevor. Statt gemeinsame Unternehmungen in der Gegenwart Lernen für den Fachpfleger in der Zukunft. Hätte er nicht beidem gerecht werden können? Über Klaus, der ihm erzählte, mehr mit Karina alleine als mit ihm zu unternehmen, hatte er nur gelacht. Was bedeutete eine Gegenwart aus Eisen, wenn eine Zukunft aus Gold winkte? "Ich weiß mehr darüber, was in Karina vorgeht, als du!" Jetzt, wo er diese Frau ansah wusste er, unzählige Gelegenheiten hatte verstreichen lassen, ihr zu sagen, wie wichtig sie in seinem Leben war. Dass er sie einer Zukunft geopfert hatte, die es so nie geben würde. Und plötzlich packte ihn Sehnsucht nach Karina.
Hätte er Zeit und Ruhe, würde er sie anrufen in ihrer neuen Welt mit Klaus. Doch durfte er dort eindringen?
Jetzt nicht, aber später würde er diesen Menschen von ihrem letzten Tag erzählen. Vielleicht seine Dummheit aussparen. Warum es ihn wieder und wieder in das archäologische Museum zog, verstand keiner seiner Bekannten. Frauen dachten anders. Sie stand über den Glaskasten mit dem großen Adeligen gebeugt. Er sah, wie sie immer wieder zu der Vitrine mit den Grabbeigaben des Frauengrabes hinüberschaute. Aber erst als sie mit ihrer kleinen, rauen Hand ihr Kinn umfasste, als in ihre Augen dieser Ausdruck trat den nur Frauen haben, ehe sie in ihre eigene Welt eintauchen, da hatte er begonnen sich in sie zu verlieben. "Vielleicht war sie seine Frau." Ihre Stimme spröde, rau wie ihre Hände. Sie, die ihn fragend anschaute. Und er, der ihr erklärte, dass das damals durchaus möglich war. Dass die Altersunterschiede zwischen Ehepartnern unwichtig waren, da kaum eine Ehe mehr als zwanzig Jahre hielt. Dass ein so alter Mann wie dieser fünfzigjährige Bajuware wahrscheinlich mehr als eine Ehefrau überlebt hatte. Gebannt von der Freude über sein Interesse, hatte sie ihn auf einen Kaffee eingeladen. Ein Teil von ihm hatte sie fasziniert beobachtet. Hatte aufgesaugt wie sie mit kleinen Händen, diesen kurzen Fingernägeln mit den Trauerrändern, ihre Kaffeetasse an den Mund führte. Er hätte fragen wollen, ob sie einen Garten hatte in dem sie arbeitete. Aber er tat es nicht. Denn dann hätte er auch sich offen legen müssen. Und was war er schon? Ein etwas zu zielstrebiger Krankenpfleger. Kein Mann für eine Frau wie sie. Da hatte er geschwiegen und das Thema Bajuwaren als einziges gelten lassen. Irgendwann hatte sie ihn gefragt, ob er heute Nacht schon etwas vorhatte. Und er hatte ja gesagt, er müsse arbeiten. Da war sie gegangen, ehe er sie nach ihrer Nummer fragen konnte, aber wollte er sie wirklich haben? Ehe er ihr sagen konnte, dass dies die letzte Nacht in einer Reihe von sieben war, aber war es das wert? Jetzt wusste er es. Jetzt, wo sie dalag, verdeckt von ihren Eltern. Jetzt, wo sie morgen nur mehr Erinnerung sein würde. Was hatte er ihr genommen? Während er auf seinen Herzinfarktpatienten sah, wusste er, dass er das nicht mehr ertragen konnte. Diesem Menschen hier konnte er den Schleim aus der Lunge saugen, ihn konnte er von einer Seite auf die andere drehen. Aber später, am Ende des Dienstes, würden Dirk und er dieses Mädchen nach unten in die Kälte fahren. Wenn er dann die viereckige Metalltüre hinter ihrem Körper schloss wurde er sich für seine Dummheit schelten. Er würde nichts mehr fühlen, nur nach Hause gehen mit dem Gefühl ein Versager zu sein. Unter dem Fenster leuchteten die Lichter der Stadt. Nur dann und wann verirrte sich noch ein Auto an die Ampel vor dem Krankenhaus Jetzt war die Stunde, in der alle schliefen. "Ist es deine letzte Nacht?" Er starrte auf Dirk. "Ja." Alles andere war unwichtig. "Dann geh mal schnell auf den Balkon. Elke kann hier weitermachen. Wozu haben wir denn eine Schülerin? Wenn du eine brauchst….." Die Geste, mit der er die Hand zum Mund führte, war deutlich: "….in meiner Tasche sind welche."
Tief saugte Peter die kühle Nachtluft in seine Lungen. Den Kopf gegen die Mauer gelehnt, erlaubte er sich jedes Fühlen für kurze Zeit ausklammern. Es tat so gut, und doch spürte er den Druck auf den Magen, die Unruhe, die seinen Bauch hineinkroch Er dachte, dass er vielleicht heim zu seinen Eltern fahren sollte, um nicht alleine zu sein. Aber dort warteten die Fragen nach Karina. Er sah die Lichter der Stadt wie Sterne, die am Boden leuchteten. Das Ende ihres Lebens zwang unsägliche Trauer in sein Herz. Und spürte, dass er beobachtet wurde. In der Türe stand - Sie. Sofort begann sein Herz heftig zu schlagen. Die Hände wurden ihm trocken. Sie war gestorben. Und jetzt nahm sie Abschied. Sie stand da mit hängenden Armen und einer unendlichen Trauer im Gesicht. Sogar Tränen glaubte er ihre hohen Wangenknochen entlangkullern zu sehen. Er konnte sie nur anstarren. Jetzt durfte er nicht loslassen! Dies war der letzte Augenblick! Der Moment, in dem sie ihm sagte, dass sie ihn liebte. Als sie die Hand hob, wich er zurück. Doch dann hörte er deutlich das Pochen an der Balkontüre. Da öffnete er sie und da war sie wieder ein Wesen aus Fleisch und Blut. "Was machst du…" beide hatten gleichzeitig zu sprechen begonnen. "Meine Schwester hatte einen Unfall. Sie wird sterben." Sie trat an die Brüstung, starrte hinaus in die Nacht. Da legte er den Arm um ihre Schultern. "Ich weiß. Sie liegt auf meiner Station. "Ich dachte, du lügst mich an als du gesagt hast du musst arbeiten. Darum bin ich weggelaufen. Und dann das Treffen auf dem Turm. Es ist doch kein Zufall, dass wir uns ständig über den Weg laufen? Wenn das hier vorbei ist…. Dann will ich deine Nummer. Aber jetzt muss ich zu meine Eltern." Wieder weinte sie. Und er stand da und fühlte den Augenblick.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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