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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schlüsseldienst

© Sophie S. Franke


Als ich vor der Haustür stand, tastete ich nach dem Schlüsselbund. Das Metall war eisigkalt. Ich befühlte die zackigen Ecken und versuchte herauszufinden, welcher der Richtige war. Der hier vielleicht... ich steckte ihn ins Schloss und er passte, nur umdrehen ließ er sich nicht. Als ich ihn wieder herauszog, knirschte es im Türschloss, der Schlüssel hatte sich etwas verharkt. Reglos blieb ich stehen und lauschte. Aber das Geräusch war so minimal, dass es niemanden aus seinem wohligen Schlummer gerissen hatte. Also, Versuch Nummer Zwei, auch der passte und er ließ sich tatsächlich umdrehen. Ich drehte weiter et voilá, die Tür war offen. Vorsichtig stieß ich sie auf und betrat ohne meine Schuhe auszuziehen den Flur. So leise wie möglich schloss ich die Tür hinter mir und verriegelte sie wieder. Den Schlüssel behielt ich fest in meinen schwitzigen Händen. Vom Flur aus ging es ins Wohnzimmer. Einen Augenblick blieb ich stehen, wartete, dass meine Augen sich an die schemenhaften Konturen gewöhnten und orientieren konnten. Schließlich suchte ich meinen Weg in den nächsten Flur und vernahm plötzlich ein Geräusch. Den Atem anhaltend blieb ich stehen. Es war Musik, wohlbekannte Musik. Nämlich Green Day, die mir sagten, dass ich auf dem absolut richtigen Weg war. Sie lockten mich zu einer Zimmertür, an der ein großes "Punk's not dead!" Poster prangte und ich wusste - hier war ich richtig. So leise wie möglich drückte ich die Türklinke herunter und schob die Tür nur weit genug auf, um hindurchschlüpfen zu können. Sofort entdeckte ich sein Bett, er schlief. Meine Hand krallte sich so fest um den Schlüsselbund, dass die Zacken in meine Haut bissen. Eigentlich hatte ich ihn lediglich auf einem gut sichtbaren Platz ablegen wollen... und vielleicht das Zimmer kurz betrachten. Aber nun da ich hier war, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Ihm beim Schlafen zuzuschauen, war unglaublich. Das zufriedene Lächeln, die verstrubbelten Haare... und Green Day im Hintergrund. Allein für diesen Anblick hatte sich meine Nacht und Nebelaktion gelohnt.
Ich versuchte gerade mich loszureißen, als er sich regte. Er hatte seine Pose kaum geändert, aber plötzlich schlug er die Augen auf, als hätte er mich gespürt. Schlagartig zuckte er zusammen und richtete sich auf, so gut es ihm möglich war. Starr vor Schreck beobachtete ich ihn. Ebenfalls erstarrt, wartete er darauf, dass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, mich als gespenstischen Schatten enttarnten, aber das taten sie nicht, denn ich war wirklich da.
"Phie?" Er kannte tatsächlich meinen Spitznamen.
"Hi Ramón." Es war zu spät so zu tun, als sei ich ein Traum, deshalb lächelte ich ihn unschuldig an.
"Was machst du hier? Um...", er schaute auf die Uhr, "zwei Uhr nachts? Wie bist du überhaupt rein gekommen?" Ich wedelte mit dem Schlüsselbund in meiner Hand herum.
"Den hast du bei mir im Auto vergessen." Ich warf den Schlüssel auf die Bettdecke. Ramón starrte mich weiter ungläubig an.
"Und den hättest du mir nicht heute in der Schule geben können?"
"Ich dachte... vielleicht... brauchst... du ihn." War diese Ausrede so bescheuert, wie sie klang? Ramón stand wortwörtlich der Mund offen. Nach ein paar Sekunden Besinnungszeit, schloss er ihn und lächelte.
"Setz dich." Er machte etwas Platz auf seinem Bett und ich sah die schwarzen Boxershorts und das Donald Duck T-Shirt unter der Decke hervorblitzen. Hatte ich mal daran gedacht, was wäre, wenn er "Nacktschläfer" wäre? Ich musste dringend anfangen, solche nächtlichen Aktivitäten vorher zu planen... nicht, dass ich so etwas öfter tat.
Ich setzte mich zu ihm aufs Bett.
"Was hättest du denn gemacht, wenn ich nicht aufgewacht wäre?" Seine Hände wuschelten durch seine Haare und er rieb sich immer wieder die verschlafenen Augen.
"Den Schlüssel irgendwo abgelegt und..." Der Satz hatte kein Ende.
"Und so getan, als hätte ich ihn zu Hause vergessen?"
"Ja?"
"Anstatt ihn mir in der Schule persönlich zu geben?" Ich nickte. Er lächelte und nahm sich Zeit für seine Antwort.
"Vielleicht hätte ich ihn viel lieber von dir bekommen."
"Ja und vielleicht auch nicht." Ich grinste.
"Vielleicht aber doch."
"Warum?" Er strich sich ein letztes Mal die Haare aus dem Gesicht.
"Um deine Hand zu berühren." Ob Dunkelheit ehrlicher machte? Ich streckte ihm meine Hand entgegen.
"Sie steht dir zur freien Verfügung." Er lachte. Im ersten Moment dachte ich, er schlüge meine Hand spielerisch beiseite, aber stattdessen ergriff er sie und zog mich zu sich heran. Obwohl Ramón meine Hand fest hielt, war ich sicher er spürte das Zittern. Es war das gleiche, das meine Hände durchfuhr, wenn ich zu Hause vor dem Computer saß und mich online mit ihm unterhielt. In solchen Momenten hatte ich Probleme die richtigen Tasten zu treffen.
"So verrückt das auch ist, ich freu mich, dass du hier bist." Sein Gesicht war so nahe, dass ich seine Worte praktisch auf meinen Lippen spürte. Jetzt oder nie, nicht wahr? Das waren ja wohl alles eindeutige Zeichen. Sowohl für ihn, als ich mitten in der Nacht in seinem Zimmer stand, als auch für mich, als er mir sagte, dass er davon begeistert sei.
"Willst du noch was anderes berühren außer meiner Hand?" Ich konnte mich nicht überwinden es einfach zu tun.
"Zum Beispiel?" Oh, dieses Lächeln. Von wegen der Junge macht den ersten Schritt. Ehe er sich versah, hatte ich ihn geküsst und meine Gedanken wanderten zu Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Es war so schön, dass ich anfangen musste zu lachen. Es war ein befreiendes, glückliches Lachen. Zu schön, um wahr zu sein. Ramón lachte mit mir. "Willst du hier schlafen?" Ich kniff die Lippen zusammen und nickte schelmisch. Während ich meine Schuhe und meinen Pullover auszog, schlug er die Decke zurück und rückte beiseite. Als hätte ich all das geahnt, hatte ich zu Hause meine Jogginghose anbehalten, anstatt meine Jeans anzuziehen. Ich schlüpfte zu Ramón unter die Bettdecke. Es war warm. Meine Haut kribbelte wie eine Kopfschmerztablette in einem Wasserglas. Ramón grinste, noch immer etwas ungläubig. Ich legte meinen Kopf auf seinen Arm und betrachtete sein Gesicht. "Weißt du was?", fragte er. Ich atmete seinen Duft ein, befand mich mit halbgeschlossenen Augen schon beinahe im Land der Träume.
"Was?", murmelte ich schläfrig.
"Ich hab die Schlüssel mit Absicht vergessen."



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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