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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Straßenfisch

© Christiane Wachsmann


Wenn es dunkel war, schwamm der Straßenfisch durch die Straßen. Er war grau wie die dämmrige Luft, und sehr ängstlich - deshalb vermied er es, die Inseln zu berühren, die das Laternenlicht auf dem Pflaster bildete. Das wurde immer schwieriger, weil es in der nächtlichen Stadt immer mehr Licht gab.
Eines Tages wurde an dem Haus, in dessen Regenrohr der Straßenfisch die Tage verbrachte, ein Bewegungsmelder angebracht. Jedes Mal, wenn der Straßenfisch nun seine Fischnase aus dem Rohr steckte, sprang vor der Haustür das Licht an. Nach einigen Versuchen verkroch sich der Straßenfisch für den Rest der Nacht in seinem Rohr - hungrig, weil er nun nicht mehr durch die Straßen schwimmen und an den Gerüchen lecken und schlecken, und müde, weil er vor Hunger nicht schlafen konnte.
Am nächsten Abend war er so schwach, dass er kaum noch aus seinem Rohr kriechen konnte - und jedes Mal, wenn er es dennoch versuchte, ging der Bewegungsmelder an und ließ den armen Straßenfisch zurückschrecken.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Von dem bisschen Duft nach Brot mit Tomaten, der aus dem Fenster zu ihm drang, konnte er nicht satt werden, ganz zu schweigen von den Gerüchen, die von dem nahe gelegenen Toilettenfester zu ihm herüberströmten und ihn bisher nicht sonderlich gestört hatten - aber jetzt, wo er so hungrig war, wurde ihm beinahe schlecht davon. Wenn er es nicht schaffte, diesen schrecklichen Ort zu verlassen, würde er sterben.
Er nahm das letzte bisschen Mut zusammen, das ihm noch geblieben war, kroch bis zur Biegung des Regenrohrs zurück, um Anlauf zu nehmen, und zählte bis drei - und dann schnell weiter bis zehn.
Er seufzte. Seine Schwanzflosse war wie versteinert, und seine Muskeln fühlten sich an wie grüner Wackelpudding.
Er versuchte es noch einmal.
Eins - Ich trau mich nicht, dachte der Straßenfisch.
Zwei - Ich kann nicht.
Drei - Aber ich will nicht sterben!
Er schwamm los, nicht besonders schnell, nicht besonders achtsam, er schwamm einfach los, und wie durch ein Wunder schwang seine Schanzflosse hin und her, und er erreichte die Öffnung des Regenrohrs und - ließ sich einfach fallen.
Der Bewegungsmelder machte klick, der Straßenfisch spürte noch, wie etwas Hartes seinen Rücken traf, dann sank er in die Dunkelheit hinter der Regentonne.
Dort blieb er eine lange Zeit. Sein Rücken schmerzte, aber so sehr er sich auch drehte und wand, er konnte nicht erkennen, wie die Stelle aussah, an der ihn das Licht getroffen hatte. Schließlich schüttelte er sich leicht, bewegte eine Flosse nach der anderen und stellte erleichtert fest, dass ihm nichts weiter zu fehlen schien. Rasch ließ er sich über den Weg in das nächste Beet gleiten, wo ihm der Geruch nach Ringelblumen, Pfefferminze und frischen Himbeeren neue Kraft gaben und den Mut, über seine Situation nachzudenken.
Er brauchte eine neue Bleibe. Einen schönen, dämmrigen Ort, wo ihn kein Licht störte. Mit einem letzten traurigen Blick verabschiedete er sich von seinem Regenrohr. Er hatte sich dort wirklich sehr wohl gefühlt und bezweifelte, dass er jemals wieder etwas ähnlich Bequemes und günstig Gelegenes finden würde.
Er durchstreifte Keller, Gartenhäuser, Dachböden voller Gerümpel, schlüpfte sogar durch einen Gullideckel in die Kanalisation der Stadt, wo ihm sofort so schlecht wurde von dem Gestank, dass er fast die Orientierung und gleich darauf das Bewusstsein verloren hätte. Im letzten Augenblick konnte er sich durch ein Lüftungsgitter unter einer Brücke nach draußen retten.
Das Schlimme war, dass er nicht wissen konnte, wo das gefährliche Licht überall hindringen würde, wenn die Sonne erst einmal aufgegangen war. Selbst Regenrohre waren nicht immer dicht. So gut es ging, verkroch sich der Straßenfisch in einer dunklen Nische zwischen zwei Mauersteinen und versuchte, irgendwie über den Tag zu kommen.
Schon gegen Mittag wurde er aus seinem unruhigen Schlaf gerissen. Die Sonne war bis auf wenige Millimeter an seinen Ruheplatz herangekrochen und drohte ihn zu verbrennen. Ganz aus der Nähe hörte er grölende Stimmen, und der Geruch nach Alkohol war so stark, dass der Straßenfisch nach kurzer Zeit in einen tiefen Rausch fiel, aus dem er erst wieder nach Mitternacht erwachte.
Sein Kopf schmerzte, und das Schnarchen der Männer, die sich ganz in der Nähe in ihre Schlafsäcke gehüllt hatten, jagte dem Straßenfisch eine fürchterliche Angst ein. Jederzeit würde eines dieser Ungeheuer den Mund öffnen und nach ihm schnappen - Rasch verließ er den unwirtlichen Ort, noch immer benebelt von den ungewohnten Schnapsgerüchen.
Kurz vor dem Morgengrauen erreichte er, angezogen von einem so wunderbaren Duft, wie er ihn noch nie gerochen hatte, den Anfang einer kleinen Gasse. Hier standen alte Häuser, krumm und schief, im Schatten eines großen Hochhauses. Von den wenigen Laternen, die sich über den Weg beugten wie verwelkte Sonnenblumen, brannte kaum eine. Die Gasse sah aus, als gäbe es hier viele dunkle, nach Äpfeln und Erdbeermarmelade duftende Keller, in denen man sich niederlassen konnte. Erleichtert ließ der Straßenfisch sich in den Schatten des nächstliegenden Hauses gleiten.
"Wer da?", fragte eine krächzende Stimme.
Der Straßenfisch erstarrte.
"Was willst du, und was hast du hier in der Vasengasse zu suchen?"
Aus irgendeinem Winkel war ein riesiger Vogel vor ihm aufgetaucht. Er hatte einen lichtscharfen Schnabel, einen nackten Hals, und sein Schlüsselgefieder klingelte gefährlich.
"Ich, ich wollte nur -"
Der Straßenfisch blickte sich um, doch konnte er keinen noch so kleinen Winkel erkennen, in dem er sich hätte verkriechen könne.
"Gerüche schnuppern, wie? Den Duft der Suppenblumen stehlen, was? Du bleibst schön hier, mein Freund. Ich bin ein Schlüsselgeier, mir entkommst du nicht."
Der Straßenfisch zitterte so sehr, dass alle seine Gräten klapperten. Er starrte auf den Schnabel, unfähig, auch nur eine Flosse zu rühren.
Der Schlüsselgeier stieß einen lauten Schrei aus, und aus der Dunkelheit kam eine Art Hut auf tausend kleinen Beinen und riesigen Augen herbeigehuscht.
"Hier, Hutschauer, habe ich einen neuen Kandidaten für dich."
Der Schlüsselgeier lachte knarrend. "Pass gut auf ihn auf, er ist scharf auf die Suppenblumen."
Der Hutschauer schnappte mit seiner Krempe, und der Straßenfisch zuckte zurück.
"Komm nur", sagte der Hutschauer sanft. "Dir soll nichts geschehen."
Gehorsam folgte der Straßenfisch ihm in die Gasse, umschwamm das müde Laternenlicht, das so dürftig war, dass man es mit etwas mehr Mut genausogut direkt hätte durchqueren können. Aber der Straßenfisch fühlte sich im Augenblick überhaupt nicht mehr mutig.
Falls er es denn je gewesen war.
Selbst die sanfte Stimme, mit dem der Hutschauer ihn über die Vasengasse informierte, klang in seinen Ohren wie das Zischen einer Schlange, kurz bevor sie mit ihren Giftzähnen zuschlug.
"Das hier ist ein ausgezeichneter Ort für lichtscheue Gestalten", sagte der Hutschauer. "Besonders für solche wie dich. Warte nur, bis ich dir deine Bleibe gezeigt habe. Was hättest du denn lieber - etwas Weithalsiges, Offenes? Eine von diesen modernen schmalen Vasen aus dunklem Glas? Oder lieber eine Amphore, sehr bauchig und bequem, gebrannter Ton, mit schmalem Einschlupfloch?"
"Eine Amphore, wie ich sehe", fuhr er fort, ohne auf die Antwort des Straßenfisches zu warten. Wahrscheinlich sagte ihm das Grätenklappern genug.
Der Hutschauer durchtrippelte ein Gartentor und wies den Straßenfisch an, ihm eine Treppe hinunter in den Keller des Hauses zu folgen. Hier fand sich auch wirklich eine wunderbar große, bauchige Amphore, die mit der Öffnung in die dunkelste, dem Fenster am weitesten entfernte Ecke zeigte.
Der Straßenfisch erholte sich gerade so weit, dass er in der Lage war, sich dünn zu machen und durch den Vasenhals in sein neues Zuhause zu schlüpfen. Erschöpft von den Schrecken der letzten Stunde, hörte er gerade noch, wie der Hutschauer sagte: "Spätstück heute abend, nach Sonnenuntergang. Ich hole dich ab." Gleich darauf sank der Straßenfisch in einen tiefen Schlaf.
Er wurde von einem dumpfen Pochen geweckt, das ihn aus dem Schlaf auffahren und erschreckt durch den dunklen Amphorenbauch schießen ließ, wo er sich empfindlich den Kopf und Flossen stieß, bis ihm halbwegs klar wurde, wo er sich befand und in welcher Richtung er nach dem Ausgang suchen musste.
"Spätstück", säuselte der Hutschauer. "Du darfst in den Suppenblumengarten, das musst du dir mal anschauen, das wirst du nie vergessen, die Suppenblumen, so etwas hast du noch nie gerochen, noch nie - Psst, weg da. Macht euch fort. Ich will euch hier nie wieder sehen."
Es raschelte in der Wiese vor dem Haus, ein Wispern und Flüstern war noch zu hören, wie von vielen sehr kleinen Wesen, dann war es still.
"Was war das?", erkundigte sich der Straßenfisch, und machte schnell einen Bogen um den bläulichen Lichtfleck, der aus dem Wohnzimmerfenster in den Vorgarten fiel.
"Ach, nichts. Nur ein paar von diesen dämlichen Kabelmäusen. Kümmere dich nicht um sie."
Plötzlich hatte der Hutschauer es eilig. Hastig trippelte er voraus. Der Straßenfisch folgte ihm mit geschickten Bewegungen. Er fühlte sich schon wieder viel besser und freute sich auf das Spätstück. Wenn diese geheimnisvollen Suppenblumen etwas mit dem Geruch zu tun hatten, der ihnen in immer stärkeren Schwaden entgegenzog, würde es ein Festmahl werden, das war ihm jetzt schon klar.
Und es wurde ein Festmahl.
So etwas wie diese Suppenblumen hatte der Straßenfisch wirklich noch nie gerochen. Es gab die unterschiedlichsten und allerfeinsten Suppengerüche - Hühnersuppe, Pfefferkuchensuppe, Schottensuppe, Kuhfladensuppe, Salbensuppe, Gabelsuppe, Sockensuppe - Sogar solche Spezialitäten wie Buchstaben- oder Dachziegelsuppe konnte der Straßenfisch erschnuppern.
Ohne weiter nachzudenken, stürzte er sich auf die Mahlzeit.
Er schnupperte und schnappte, gurgelte und grabschte, schmauste und mauste, schleckte und schmeckte. Naschte an Mottenkugelduft und Schuhlöfelwürze, nahm ein wenig Schweißgeruch zu sich, erfreute sich am Aroma von gut gezogenem Schwalbenmist, lutschte Karamel und Zigarettenrauch, den Gestank von Neid und Schneckenschleim, verdrückte eine Wolke von Schiffszwieback und machte sich schließlich noch über einen süßen Himbeerschatten her.
Danach war er so voll gefressen, dass er sich kaum noch in der Luft halten konnte. Immer wieder schrammte er mit seinem empfindlichen Bauch über die Erde, bis er schließlich auf einem weichen Grasfleck liegen blieb.
Ihm war elend zumute wie noch nie. Außerdem hatte er Angst. Vielleicht würde er sich nie wieder bewegen, nie wieder mehr als ein paar Zentimeter über den Boden erheben können. Wie sollte er sich vor dem Sonnenlicht schützen, oder vor dem Angriff selbst eines so kleinen Wesens wie einer Grasmücke oder eines Mistkäfers?
Er fühlte sich so elend, und so allein wie noch nie, obwohl er eigentlich immer alleine gewesen war, aber das hatte ihn bis jetzt nicht sehr gestört.
Etwas raschelte im Gras. Der Straßenfisch erstarrte.
Ich bin gar nicht da, dachte er, und kniff die Augen zusammen.
"Da sind wir ja", sagte die sanfte Stimme des Hutschauers neben ihm. "Haben wir uns richtig voll geschlagen, wie? Das ist gut. Das ist wirklich gut."
"Mir ist schlecht", flüsterte der Straßenfisch.
"Das wird vergehen. Ruh dich ein bisschen aus. Halt ein kleines Schläfchen, ich werde dich rechtzeitig wecken."
Der Straßenfisch ließ sich das nicht zweimal sagen. Dankbar rollte er sich zusammen und schlief ein.
Als er wieder erwachte, roch es schon nach Morgentau.
Der Hutschauer saß neben ihm im Gras.
"Komm", sagte er. "Du kannst noch an ein paar Blumen schnuppern, dann bringe ich dich zurück in deine Amphore."
So machten sie es nun jede Nacht. Der Hutschauer holte den Straßenfisch ab, begleitete ihn zu den Suppenblumen und bewachte ihn, während er seinen Verdauungsschlaf hielt. Der Straßenfisch aß nie wieder so viel wie beim ersten Mal. Trotzdem wurde er immer träger.
Wenn er morgens in seine Amphore schlüpfte, wunderte er sich, dass der Hals immer enger wurde. Er hatte noch nie davon gehört, dass solche Dinge sich auf diese Art veränderten.
Vielleicht, dachte er, sollte ich um eine andere Schlafstätte bitten. Es wäre sehr unangenehm, wenn ich eines Nachts den Eingang verschlossen finden würde.
Aber dann war er doch zu träge, den Hutschauer darum zu bitten, und an den Abenden, wenn er hungrig aus seinem Versteck herausschwamm, schien der Amporenhals auch nicht ganz so eng.
Eines Abends verspätete sich der Hutschauer. Der Straßenfisch war schon aufgewacht und überlegte, dass es schön wäre, wieder einmal frei durch die Nachtluft zu streifen. Er hatte nicht vor, seine Mahlzeit im Suppenblumengarten zu verpassen. Trotzdem sehnte er sich manchmal nach den Zeiten, als er sich noch selbst auf die Jagd nach den Gerüchen machte. Er hatte selten so etwas Feines zu kosten bekommen wie den Tannezapfen-Odeur an grüner Häkelwolle oder den Geruch nach sonnenverbrannter Dachpappe, den er erst gestern genossen hatte. Aber er hatte sich auch nie so schlaff und müde gefühlt, und war nie von solch schweren Träumen heimgesucht worden wie in letzter Zeit.
Er zwängte sich also durch das Loch seiner Amphore und schwamm schon einmal in den Vorgarten hinaus. Dort labte er sich an dem einfachen Gras-nach-einem-kurzen-Regenschauer-Geruch und war gerade dabei, zwischen den Gehwegplatten etwas Moos zu erschnuppern, als er wieder das Wispern und Flüstern vom ersten Abend vernahm.
Ein ganzer Trupp Kabelmäuse, dünn wie Striche und in vorbildlicher Marschordnung hintereinander aufgereiht, huschten an ihm vorbei.
"Psst, schnell, hau ab, hau ab, sagen wir, psst, schnell. Fressen, schnell, fressen, hau ab, wollen sie, psst, psst, psst, hau ab, psst -"
Was?
Verdutzt blickte der Straßenfisch hinter ihnen her.
Er hatte so lange in seiner Amphore gesessen und mit niemandem außer dem Hutschauer gesprochen, dass es ihm jetzt schwer fiel, einer Unterhaltung zu folgen. Besonders, wenn sie so einseitig und undeutlich vorgetragen war wie das Gepiepse der Kabelmäuse.
Ein Räuspern ließ ihn zusammenfahren. Am Gartentor stand der Hutschauer.
"Nun, schon ein kleinen Ausflug gemacht?"
Der Straßenfisch nickte bange.
Hatte er die Kabelmäuse gehört?
Was hatten sie nur damit gemeint, mit all ihrem psst und hau ab?
"Heute soll dir eine große Ehre zuteil werden", säuselte der Hutschauer und schnappte dabei wieder einmal heftig mit der Krempe - eine Angewohnheit, die dem Straßenfisch nach wie vor auf die Nerven ging.
Aber ihm ging so vieles auf die Nerven in letzter Zeit, das lag an den schlechten Träumen und weil er sich überhaupt nicht mehr richtig bewegte. Am Anfang war er nur nach den Mahlzeiten so tief gesunken, aber jetzt fiel es ihm manchmal schon vor dem Spätstück schwer, höher als bis zu den Gartenzäuen zu steigen.
"Eine große Ehre", wiederholte der Hutschauer. "Du sollst heute die große Madenhai kennen lernen, Herrscherin über die Vasengasse und über den Rest der Welt. Eine vortreffliche Dame und entfernte Verwandte von dir, wie ich mir sagen ließ. Wir machen noch einen kleinen Abstecher in den Suppenblumengarten, aber friss dich nicht zu voll. Sonst schaffst du es nicht bis zum Palast hinauf."
Diese Ermahnung hätte der Straßenfisch an diesem Abend gar nicht gebraucht. Er nippte nur ein wenig an einer Nudelsuppenblume und nahm eine Nase voll Baldrian, dann war er bereit.
Eine entfernte Verwandte - Irgendwie hörte sich das gut an.
Und irgendwie auch nicht.
Eine Madenhai. Maden, das waren doch diese Tiere, die sich durch etwas durchfraßen und nachher zu Schmetterlingen wurden. Aber ein Hai? Was hatte es denn mit einem Hai auf sich?
Ich sollte wirklich nicht mehr so viel essen, dachte der Straßenfisch. Ich kann gar nicht mehr richtig denken.
Hau ab. Schnell, psst, hau ab -
Vielleicht sollte ich wirklich lieber abhauen, dachte der Straßenfisch. Vor allem wegen dem anderen, das sie noch gesagt hatten, was war das noch gleich?
Mein Gedächtnis, dachte er, funktioniert auch nicht mehr so gut.
"Sie hat einen wunderschönen Apfelmantel", fuhr der Hutschauer fort, und seine Stimme klang sanfter denn je. "Einen grünen Apfelmantel, mit dem kann sie überall hin, selbst bei Tageslicht kann sie überall hin -"
Fressen, dachte der Straßenfisch, und mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Flossen.
Das ist es. Sie wollen mich -
"Du wirst begeistert sein", flötete der Hutschauer. "Sie ist so eine überaus schöne, freundliche, vollkommene, interessante, huldvolle - Hier geht es hinein. Wirst du wohl da bleiben? Husch, hinein mit dir. Du wirst doch nicht im letzten Augenblick - Und hier hinab. Los, beweg dich ein bisschen. Bis zum Audienzsaal wirst du es ja wohl gerade noch schaffen. Du wirst sie doch wohl nicht warten lassen, die gute Madenhai. Wo sie sich doch schon so auf dich freut."
Der Straßenfisch wurde durch eine Katzenklappe in einen Kellerflur und zwei Stufen hinuntergescheucht, die in einen Gemüsekeller führten. Es duftete nach Schrumpeläpfeln, Korken und Kartoffeln, nach Eierschweiß und Schrippenrauch.
Rasch blickte sich der Straßenfisch nach allen Seiten um, aber an eine Flucht war nicht zu denken. Rechts und links der Eingangstür standen zwei gefährlich klappernde Schlüsselgeier, zwischen den Marmeladengläsern hatte es sich eine ganze Horde von Dickschnauzen bequem gemacht, und vor den Fenstern lungerten zahlreiche Hemmschwellen herum.
Gähntulpen wippten träge zwischen Flaschenhälsen, Schnabelseiden raschelten mit Tütensuppen, ein behäbiger Fliedergeist versuchte knarrend, eine bejahrte Lampenwarze zum Singen zu überreden und ein besonders übermütiger Waschlappen bespritzte die Umstehenden mit Tomatensaft. Von einem der Regale hing eine Flundertüte, die wiegte sich in der Luft hin und her, und starrte den Straßenfisch mit großen Augen an.
Eine Rauchschrippe stieß ihren markerschütternden Schrei aus und verkündete in die kurze Stille hinein: "Hutschauer. Mit Straßenfisch."
Ein Raunen ging durch die Menge, und man wich zurück, als der Hutschauer den Straßenfisch in den Raum schubste, genau auf eine große Obstkiste zu, auf der sich graziös die Madenhai aalte.
Dem Straßenfisch klapperte mit jeder einzelnen Gräte und hatte alle Flossen damit zu tun, seine Schuppen zusammenzuhalten. Deshalb dauerte es auch eine Weile, bis er bemerkte, dass die Madenhai mit ihm sprach.
"Und was für ein stattliches Exemplar", sagte sie gerade. "Haben Ihnen die Speisen unserer Suppenblumen gemundet?"
Der Straßenfisch riss sich zusammen und zwang sich zum ersten Mal, die Madenhai genauer zu betrachten.
Viel konnte man von ihr nicht sehen, nur die schlitzigen Pupillen in ihren Augen und die breiten dünnen Lippen, hinter denen zahlreiche spitze Zähne aufragten wie eine Gebirgskette nach dem Regen. Der Rest ihres Körpers war durch einen fantastisch grünen Apfelmantel verhüllt, der ihre Figur umschmeichelte und bis über die Spitze ihrer Schwanzflosse hinabfiel.
So etwas so Schönes hatte der Straßenfisch noch nie gesehen, und für einen Moment vergaß er fast den Ernst seiner Lage.
"Aber was ist denn das", fuhr die Madenhai fort, und streckte ihren Kopf in einer sanft windenden Bewegung nach vorne. "Ein Lichtmal, den ganzen Rücken entlang. Sie Armer. Wie konnte das nur geschehen? So etwas ist doch vollkommen ungenießbar. Hutschauer, schau nach. Geht es tief?"
Der Straßenfisch hatte die Wunde, die ihm das Licht des Bewegungsmelders gerissen hatte, schon fast wieder vergessen. Als der Hutschauer sich jetzt über seinen Rücken beugte, hatte er das Gefühl, sie werde ihm erneut aufgerissen.
"Nicht tief", sagte der Hutschauer schmeichelnd. "Gar nicht tief. Ein kleines Wündchen nur, ohne Belang."
"Dann ist es ja gut. Du hättest mir davon berichten müssen. Der Duft unserer Suppenblumen ist zu kostbar, um ihn zu verschwenden. Ich hoffe nur, dass es wirklich nur eine Kleinigkeit ist, in deinem Interesse. Du weißt, dass ich schlechte Stellen nicht leiden kann. Willst du dich nicht zu mir legen, lieber Straßenfisch? Ich glaube, ich habe einmal die Bekanntschaft der Cousine deines Vaters gemacht, einer geborene von Karpfenbrei. Etwas muffelig, die Dame. Du machst mir einen wesentlich appetitlicheren Eindruck."
Der Straßenfisch ließ sich gehorsam neben die Madenhai gleiten. Die Lampenwarze hatte tatsächlich zu singen begonnen, und die übrigen Gäste bemühten sich nach Kräften, die schauerlichen Geräusche mit ihrem Geschwätz zu übertönen. Der Straßenfisch hatte alle Hoffnung aufgegeben und wünschte sich nur noch, dass die Madenhai möglichst schnell zuschnappen und der Qual ein Ende bereiten würde. Der Lärm und die zahlreichen Gerüche vermischten sich zu einem festen Brei, und selbst, wenn es ihm, trotz seiner Beleibtheit, gelingen würde, ihn zu durchdringen und eines der Kellerfenster zu erreichen, waren da immer noch die Hemmschwellen, die sich vor seinen Blicken aufbliesen und ausbreiteten wie überkochende Milch.
"Und selbst?", erkundigte sich die Madenhai, und stieß ihn in die Seite. "Haben Sie nie daran gedacht, zu heiraten?"
Der Straßenfisch rutschte ein wenig von ihr ab und geriet dadurch gefährlich nahe an den Rand der Gemüsekiste.
"Nein", sagte er.
"Aber nicht doch", sagte die Madenhai und klimperte mit ihren Zähnen. "Seien Sie doch nicht so abweisend. Ich liebe es, vor dem Essen noch ein wenig zu flirten. Tun Sie mir doch den Gefallen. Sie sind also Junggeselle, wie? Das trifft sich gut."
Sie rückte noch ein Stück näher. Ihr öliger Geruch drang dem Straßenfisch in die Kiemen. Er verschluckte sich und musste husten.
"Nana, das ist doch nicht weiter schlimm. Ich mag sowieso keine Waisenkinder. Sie haben immer diesen bitteren Nachgeschmack, finden Sie nicht auch?"
Sie rückte noch ein Stück näher.
Der Straßenfisch verlor das Gleichgewicht und rutschte von der Obstkistenkante. Schwer, wie er inzwischen war, konnte er sich nicht einfach seitlich davongleiten lassen, deshalb griff er nach dem Nächstbesten, was er zu fassen kriegte - und das war der Apfelmantel.
Es gab ein leichtes Reißen, einen Ruck, dann purzelte der Straßenfisch mitsamt dem Mantel zu Boden.
Der Gesang der Lampenwarze endete abrupt in einem lauten Schrei. Eine Dickschnauze schnappte so geräuschvoll nach Luft, dass zwei Flaschenhälse zerbrachen, und die Tütensuppen brachen in ein ohrenbetäubendes Geschrei aus.
Der Fliedergeist hörte gar nicht mehr zu knarren auf: "Widerlich", sagte er, "widerlich, absolut widerlich, so etwas Widerliches, noch nie habe ich so etwas Widerliches gesehen."
Die Flundertüte faltete sich vor Schreck zusammen, und der Waschlappen stand da wie ein begossener Pudel.
Für einen Moment war die Madenhai in ihrer ganzen glitschigen Nacktheit erstarrt. Sie blickte an sich hinab, sie blickte in die Menge, sie sah - den Straßenfisch.
Der Apfelmantel hatte sich, wie es seine Natur war, sofort um ihn herumgeschlungen und ihn aus dem schüchternen, von den vielen Suppenblumengartenbesuchen etwas dicklichen und unbeholfenen Kerl einen wunderhübschen Jungfisch verwandelt.
"Diebe, Mörder", schrie die Madenhai. "Hutschauer, Schlüsselgeier, ergreift ihn. Hemmschwellen, waltet eures Amtes!"
Doch die Hemmschwellen wichen, ebenso wie die übrigen Wesen, vor dem Straßenfisch zurück. Ungestört konnte er zwischen den Gitterstäben der Fenster davonschwimmen, eingehüllt in den grünen, grünen Apfelmantel.
In den nächsten Tagen und Wochen merkte der Straßenfisch, was für ein wunderbares Ding dieser Apfelmantel war. Mit ihm konnte er frei herumschwimmen, sich an ungeahnten Gerüchen laben, und dem Treiben der Menschen bei Tag zusehen. Er hüllte ihn ein wie eine zweite Haut, machte ihn unsichtbar und unverwundbar und gab ihm das Gefühl, ein wirklich netter Fisch zu sein, und nicht nur so ein kleines Schattenwesen, das sein unbedeutendes Leben in einem unbequemen Regenrohr zu fristen hatte.
Manchmal dachte er allerdings mit Wehmut an seine Zeit in der Vasengasse zurück.
Natürlich fehlten ihm die Suppenblumen - Keine der neuen Köstlichkeiten, die er nun auch des Tags in die Nase bekam, reichte an die Düfte aus ihrem Garten heran, und mehr als einmal hatte der Straßenfisch schon daran gedacht, sich heimlich wieder einmal zurückzuschleichen und zu naschen. Mehr noch aber hatte ihm, so schrill und beängstigend ihm die Gesellschaft im Gemüsekeller erschienen war, die vielen neuen Wesen beeindruckt, die er durch sein Abenteuer kennen gelernt hatte. Natürlich hatte er nicht alle gemocht, auf den Hutschauer zum Beispiel, mit seiner hinterhältigen Freundlichkeit konnte er gut verzichten, und auf die Schlüsselgeier erst recht, ganz zu schweigen von der Madenhai. Aber die Schnabelseiden hatten einen sehr netten Eindruck gemacht, und der Waschlappen mit seinem Tomatensaft war ein richtiger Spaßvogel gewesen. Und die Flundertüte - Vielleicht hätte man sich mit ihr anfreunden können?
Ach, dachte der Straßenfisch traurig, während er durch die Feinkostabteilung des Kaufhauses schwamm, in dem er sich jetzt meist herumtrieb, da habe ich nun diesen schönen Apfelmantel, labe mich an all diesen wunderbaren Gerüchen, und was habe ich davon?
Er durchschwebte die Gardinenabteilung, in der es immer ein wenig nach Mottenpulver roch, und wechselte zu den CDs. Er war in letzter Zeit ein rechter Musikliebhaber geworden und konnte mühelos den Unterschied zwischen einer Platte von Mozart und einer von Carl Orff riechen - Aber was nützte ihm diese Leidenschaft, wenn er sie mit niemandem teilen konnte?
Traurig beschnüffelte er einen Stapel Volksmusik und überlegte, ob er den Rest des Abends - das Kaufhaus war geschlossen, und nur hier und da drang noch ein Lichtschein von den Schaufenstern her in sein Inneres - lieber bei den Büchern oder in den Lederschuhen verbringen sollte. Er durchschwamm ein Regal voller Kindersöckchen und umkreiste einen Stapel mit Rüschenkleidern.
Wenn hier nur nicht immer alles so neu riechen würde, dachte er, während er sich durch das Treppenhaus hinuntersinken ließ. Wie geht mir das doch alles auf die -
Er hielt erschrocken inne.
Hatte sich da nicht etwas bewegt? Zwischen den Plüschtieren im Sonderangebot?
Er musste sich getäuscht haben.
Nach Ladenschluss bewegte sich hier nie etwas, von dem Nachtwächter einmal abgesehen, der mit seinem Schlüsselgeklapper - Schlüsselgeklapper?
Jetzt hörte er es ganz deutlich.
Schlüsselgeklapper.
Aber das war doch nicht der Nachtwächter, der hatte doch immer seine Taschenlampe dabei.
Der Straßenfisch lauschte. Alles war still.
Die Plüschtiere lagen auf ihrem Haufen wie tote Fliegen, nur manchmal blitzte eines ihrer Glasaugen im Licht eines vorbeifahrenden Autos.
Der Straßenfisch schüttelte seinen Kopf, während er über einen festlich gedeckten Tisch in der Porzellanabteilung hinwegschwebte.
Ich sollte mal wieder ein Restaurant aufsuchen, dachte er. Oder in einem Komposthaufen herumschnüffeln. All dieses Neue, Frische, das macht mich ganz verrückt. Jetzt sehe ich schon -
Er blieb stehen. Dort oben, auf dem Tellerstapel - saß ein Schlüsselgeier.
Er musste schon eine ganze Weile dort gesessen haben, so reglos, dass der Straßenfisch gar nicht bemerkt hatte. Jetzt hob er seine Flügel, ein Klirren und Scheppern durchraste die Luft, während er einen Kriegsschrei ausstieß und sich im Steilflug auf den Straßenfisch stürzte. Er hätte ihn bestimmt erwischt, wäre nicht in dem Moment, als er sich abstoßen wollte, der Tellerstapel gekippt und krachend mit dem Geier zusammengebrochen.
Während er sich aus dem Scherbenhaufen aufrappelte, hatte der Straßenfisch bereits kehrt gemacht. Sektkelche und Weingläser zersprangen, Kaffeekannen zerbarsten, Vasen und Glastiere landeten scheppernd auf dem Boden, während er sich rasend schnell seinen Weg zwischen den Regalen bahnte, gefolgt von zwei anderen Schlüsselgeiern mit ihrem kriegslüsternen Geklirr. Ihre scharfen Schnäbel hackten nach dem Apfelmantel, und mehr als einmal musste der Straßenfisch sich wieder losreißen.
Sie machen ihn mir kaputt, dachte er. Ich muss ans Licht, schnell, dorthin können sie mich nicht verfolgen - Er erreichte die Möbelabteilung. Zwischen zwei Schränken erblickte er eine schmale Lücke, durch die Schaufensterlicht hindurchströmte. Er tat so, als wolle er schräg daran vorbeifliegen, machte dann eine schnelle Wendung und sich so dünn wie möglich und schlüpfte hindurch. Hinter ihm gab es ein gewaltiges Geschepper, als einer der beiden Schlüsselgeier gegen die Schränke prallte. Aber der andere hatte das Manöver durchschaut und war im letzten Moment über die Schränke geflogen. Jetzt war er fast über dem Straßenfisch, der sein Tempo hatte drosseln müssen. Seine Schlüssel klirrten mörderisch, und der Geruch nach Geierschweiß nahm dem Straßenfisch den Atem.
Er schlüpfte unter ein Sofa, machte kehrt und raste auf derselben Seite wieder heraus. Das irritierte den Geier zwar kurz, dafür hatten sich aber der andere wieder berappelt und stürzte sich erneut auf den Straßenfisch. Aus der Porzellanabteilung drang ein weiterer Schlachtruf, und gleich darauf verstärkte sich das Gerassel der Verfolger zu solch einem ohrenbetäubenden Lärm, dass der Straßenfisch sich am liebsten schon deshalb ergeben hätte.
Jetzt waren alle drei hinter ihm her!
Im Zickzack raste er um Schrankbeine, Drehstühle und Kassentische. Immer wieder konnte er im letzten Moment in einen Spalt schlüpfen, vermied es aber, sich irgendwo zu verkriechen - sonst hätten sie ihn umzingelt und zweifellos sein Versteck in Stücke gehackt.
Sie waren jetzt wirklich wütend, das konnte der Straßenfisch riechen. Er raste unter einem Regal entlang, schlug einen Haken, stürzte sich zwischen zwei Lampenschirmen hindurch und erreichte die Schreibwarenabteilung. Weiter vorne schimmerte schon das Licht der Schaufenster. Große Werbeplakate hingen hier von der Decke herab, und der Straßenfisch hatte alle Mühe, nicht in eins hineinzufliegen. Er war jetzt schon völlig außer Atem, kurz davor, die Besinnung zu verlieren. Er hörte, wie ein Plakat zerriss, dann ein weiteres - Die Geier machten sich nicht die Mühe, den Hindernissen auszuweichen. Jetzt hörte der Straßenfisch ihren klirrenden Atem. Er riss sich noch ein letzes Mal in die Höhe, ein Schnabel streifte seinen Mantel - dann ließ er sich fallen. Bäuchlings landete er im Schaufenster, zwischen Stöckelschuhen und Partykleidern, direkt unter einem der hellsten Strahler.
Ihm war schwarz vor Augen. Er lag da, schnappte nach Luft, und hustete. Das Klirren der Schlüsselgeier war noch immer in seinen Ohren. Er musterte einen Hut, der keinen Meter von ihm entfernt im Schatten eines Podestes lag -
Der Hut klappte mit seiner Krempe.
Schaute ihn aus aus großen Kulleraugen an.
Schniefte ein wenig, und flüsterte dann sanft: "Nun, mein Lieber, wartest du hier auch auf Mitternacht?"
Der Straßenfisch war nicht in der Lage, zu antworten.
Mitternacht?
"Wenn die Schaufensterbeleuchtung erlischt", setzte der Hutschauer hinzu. "Du weißt es vielleicht nicht, aber jetzt kann ich es dir ja sagen: Du hast eine Verabredung hier, mit einer alten Bekannten. Ach, ja. Die Geier hatten nur den Auftrag, dich hierher zu - begleiten. Sie freut sich schon so auf dich, die alte Madenhai -"
Ehe der Straßenfisch noch einmal nach Luft schnappen konnte, begann vom Kirchturm her die Uhr zu schlagen.
Eins, zwei, drei -
"Vier", zählte der Hutschauer sanft, "Fünf, sechs -"
"Sieben, acht", fielen die Schlüsselgeier ein, die sich im Schatten hinter den Kulissen aufgesetzt hatten. "Neun, zehn -"
"Elf", fiel eine wohlbekannte, schleimige Stimme ein, und -
Die Kirchturmuhr verstummte.
Elf Uhr.
Der Straßenfisch erwachte so weit aus seiner Erstarrung, dass er in der Lage war, den Kopf zu wenden.
Dort, unter der langen Robe einer festlich gekleideten Schaufensterpuppe, ragte der Kopf der Madenhai hervor.
"Macht nichts", sagte sie. "Wir können warten. Um zwölf ist es hier dunkel, bis dahin kannst du ja noch ein bisschen herumschwimmen. Ich hätte daran denken sollen, dir ein paar Suppenblumen mitzubringen. Kleine Henkersmahlzeit, hähähä. Nun sitz doch nicht so verschreckt unter deiner Lampe. Geh ruhig ein wenig ins Kühle. Ich mag keinen gegrillten Fisch."
Der Straßenfisch blickte sich verzweifelt um. Gab es denn keinen Ausweg aus dieser Falle? Durch das Glas konnte er nicht hindurch, und in der Dunkelheit hinter dem Schaufenster lauerten die Schlüsselgeier.
Er entfernte sich von der Lampe, die ihm wirklich den Schweiß auf die Stirn trieb, und ließ sich durch das Schaufensterlicht weitertreiben, um sich schließlich auf einem Stapel hellbeleuchter Handtücher niederzulassen.
Er hörte das Trippeln des Hutschauers, der ihm weiter hinten im Schatten folgte, genau wie die scheppernden Schlüsselgeier.
"Das ist gut", sagte die Madenhai aus dem Schatten eines Bademantels heraus. "Ruh dich ein bisschen aus. Sonst wirst du mir noch zäh, nach all der Aufregung."
Die Kirchturmuhr draußen schlug viertel nach.
Der Hutschauer schnappte mit seiner Krempe.
Es hat ja doch keinen Sinn, dachte der Straßenfisch. Sie werden mich kriegen, so oder so. Ich halte das so lange einfach nicht aus. Ich bin so erschöpft, so müde - Eigentlich kann ich mich gleich ergeben, wenn es nur schnell geht -
Aber so wie ich die Madenhai kenne, wird sie erst noch spielen wollen. Ach, wäre ich doch schon tot -
Er schloss die Augen, und die Zeit verrann, es wurde halb zwölf, viertel vor -
Wenn es nur schon vorbei wäre, dachte der Madenhai.
Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung. Müde wandte er den Kopf. Dort, zwischen lauter Waschlappen, die von der Decke her aufgehängt waren und in der warmen Schaufensterluft leise hin- und herschwankten, tanzte - eine Flundertüte.
Der Straßenfisch zwinkerte. War das nicht - Doch, das war doch Flundertüte aus der Vasengasse.
Still tanzte und hüpfte sie auf und nieder, schien dem Straßenfisch zu winken.
Mühsam rappelte der Straßenfisch sich auf.
Halluzinationen, dachte er. Die Frau schwebt ja in vollem Licht, das kann doch gar nicht sein, sie gehört doch auch zu den lichtscheuen Wesen. Ich bin schon so verängstigt, ich leide unter Halluzinationen.
Die Kirchturmuhr begann, erneut zu schlagen.
Eins, zwei -
"Drei", fiel der Hutschauer ein, "vier, fünf -"
Die Flundertüte machte eine Bewegung, als wolle sie etwas hinter sich werfen. Gleichzeitig winkte sie den Straßenfisch zu sich heran.
"Sechs", klapperten die Schlüsselgeier, "sieben, acht, neun -"
Und wenn ich den Apfelmantel loslasse?, dachte der Straßenfisch. Wenn ich ihn einfach loslasse?
Ihm fiel plötzlich ein, wie sich die Madenhai über das Lichtmal auf seinem Rücken geärgert hatte. Was hatte sie noch dazu gesagt - Ungenießbar?
"Zehn", mischte sich die Stimme der Madenhai ein, "Elf -"
Dann verderbe ich ihr wenigstens den Appetit, dachte der Straßenfisch.
Er streifte den Apfelmantel von seinen Schultern und warf ihn hinter sich. Das Schaufensterlicht durchstach ihn wie tausend Nadeln, und für einen Moment verlor er die Besinnung.
Als er die Augen wieder aufmachte, war der zwölfte Schlag verklungen und das Licht erloschen.
Gleich neben seinem Wäschestapel erklang ein mörderisches Geklapper und Geschrei, in das sich kleine, säuselnde Wutschreie des Hutschauers mischten.
Zusammen mit der Madenhai und den drei Schlüsselgeiern zerrte er an dem Apfelmantel herum, jeder wollte ihn für sich haben, und so rissen sie ihn in Stücke.
Der Straßenfisch atmete einmal heftig durch.
Als er an sich herunterblickte, bemerkte er, dass seine graue Gestalt jetzt eine schimmernde Farbe angenommen hatte. Er bewegte alle seine Flossen, wackelte ein wenig mit dem Kopf - Alles war noch in Ordnung. Schnell schlüpfte er aus dem Schaufenster heraus und durch einen Lüftungsschacht auf die Straße. Als er noch einmal durch das Fenster zurückblickte, sah er den Hutschauer von den Klauen und Schnäbeln der Schlüsselgeier durchbohrt an der Seite liegen, während sich die Vögel in einem Regen von Schlüsseln einen letzten Kampf lieferten. Die Madenhai schwankte hinter der Scheibe hin und her und öffnete ihr Mäulchen wie ein Fisch in einem Aquarium. Sie sah plötzlich lächerlich klein aus.
Von der Flundertüte war weit und breit nichts zu sehen. Aber - Schnuppernd hielt der Straßenfisch seine Nase in die Luft. Ein zarter Wind strich daran vorbei und wies ihm den Weg. Mit einem eleganten Flossenschlag durchschwamm er die nächste Lichtpfützen. Das Laternenlicht prickelte sanft auf seiner Haut.
Nur, wer ganz genau hinschaute, konnte sehen, wie er sich durch Licht und Schatten schlängelte, und dabei so vollkommen an den Hintergrund anglich, dass er kaum zu erkennen war. Er schwamm die Einkaufsstraße herab, über den großen Platz vor der Kirche, und tauchte in das Gewirr der kleinen Straßen in Richtung Vasengasse, auf der Suche nach den Suppenblumen und seiner Freundin, der Flundertüte.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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