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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Winter

© Sandra Linde


Den ganzen Sommer lang war Kasim in der Steppe umhergezogen. Dann kam der Winter und er trieb seine eigene kleine Herde, drei Schafe und zwei Ziegen, hinauf zum Hindukusch.
Er war ein alter Mann und nach der Einsamkeit in der Steppe freute er sich auf die gemeinsamen Tage mit seiner Familie, auf die langen Abende in der Dorfgemeinschaft - auf die Zeit, in der man im Gemeindehaus vor dem Feuer saß, sich Geschichten erzählte und Kat kaute, während draußen der Sturm tobte.
Das Gras links und rechts der Landstrasse war gelb, die Erde ausgedörrt von der Sonne. Der Wind pfiff kalt von den mit Schnee bedeckten Gipfeln, zerrte an seiner Kleidung und ließ das lange Band seines Turbans flattern. Er verspürte keine Eile, als er den Pass hinauf wanderte.
Stunden später, als die Sonne bereits weit im Westen stand, hatte er das Dorf erreicht.
Fassungslos sah er die Zerstörung. Der Krieg war durch das Dorf gezogen.
Kasim lief durch die Ruinen, rief die Namen seiner Angehörigen. Nur der Wind antwortete ihm, kalt, zornig und unbarmherzig.
Vor der Moschee hatte man drei Kinder seines Freundes Mohammeds an einer Steineiche aufgehängt. Dann sah er den kleinen Ali an der vom Feuer geschwärzten Mauer der Moschee sitzen.
Der Junge sah ihn an und sah durch ihn hindurch.
"Ali! Was ist geschehen?"
Ali gab keine Antwort. Kasim faßte ihn an der Schulter, doch der schmächtige Junge blieb stumm.
Kasim ließ von ihm ab und rannte noch einmal durch die zerstörten Häuser. Er suchte und rief - aber niemand hörte ihn. Verzweifelt kehrte er zur Moschee zurück und ging hinein, um Allah anzurufen. Da fand er sie: Die verkohlten Leichen der Dorfbewohner. Man hatte die Menschen in das Gotteshaus hinein getrieben und es angezündet.
Kasim setzte sich neben Ali auf den Boden. Lange saßen sie so zusammen, ohne ein Wort.
Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen über die schneeweißen Gipfel des Hindukusch, bevor sie verschwand.
Kasim stand auf. Er musste das Zelt aufbauen.
Als er fertig war, hob er den immer noch regungslos dasitzenden Ali einfach hoch und trug ihn ins Zelt. Er drückte ihm seine Wasserflasche aus Ziegenleder in die Hand. Dann legte er eine warme Decke über ihn.
Kasim setzte er sich vor das Zelt. Er lauschte dem Wind, der klagend durch die Ruinen, durch leere Fensterhöhlen und Mauerreste heulte.
Er fühlte nicht die Kälte, aber er fühlte die Leere. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er Allah als grausam.
Die Morgendämmerung kam, schnell stieg die Sonne als ein Feuerball empor, der die Berggipfel erglühen ließ.
Die Glut des kleinen Feuers war fast verloschen. Kasim suchte einige dünne Holzscheite zusammen und legte sie darauf, dann kramte er einen verbeulten Wasserkessel aus seiner Hirtentasche und kochte Tee.
Ali war bereits wach. Mit großen dunklen Augen sah er Kasim an. Kasim reichte ihm Tee und Fladenbrot, dann verließ er das Zelt.
Den ganzen Tag war Kasim damit beschäftigt die Toten zu begraben. Er erkannte unter ihnen seine Tochter Aysa und seinen Enkelsohn Barin, der nur vier Jahre alt werden durfte.
Später lief er die Berghänge hinauf und schrie ein Klagelied in den Wind, schrie seine Verzweiflung gegen die felsigen Berge. Traurig warf das Echo seine Stimme zurück.
Bevor es dunkel wurde suchte er das Vieh und trieb es ins Dorf zurück. Eine eisige Bö zerrte an seiner Kleidung. Er stolperte, fiel hin und schlug sich die Stirn auf, er bemerkte es nicht einmal.
Ali lag wieder unter der Decke und schlief, zusammengerollt wie eine Katze. Kasim ließ den Jungen liegen und setzte sich vor die Feuerstelle, legte neue Scheite auf, Scheite für ein einsames Feuer, verloren in der kargen Bergwelt.
Teilnahmslos und kalt leuchteten die Sterne am wolkenlosen Himmel. In dieser Nacht weinte Kasim, er, der immer stolz darauf gewesen war, als Junge niemals geweint zu haben.
Wieder zog ein neuer Morgen herauf und Kasim suchte in den Ruinen nach Lebensmitteln und brauchbaren Gegenständen.
Als er zurückkam war Ali damit beschäftigt, einen Hirsebrei zu kochen. Ein Lächeln huschte über Kasims wettergegerbten Züge. Er setzte sich und wartete bis der Junge fertig war, dann aßen sie zusammen.
Wolken waren aufgezogen. Der Wind trieb sie die kahlen Hänge hinunter, tief ins Tal.
Kasim überlegte, ob er mit Ali und dem Vieh ins Tal zurückkehren sollte. Aber dann entschied er sich, ein Haus am anderen Ende des Dorfes, von dem nur das Obergeschoß weggefegt war, für den Winter zu benutzen.
In den darauf folgenden Tagen arbeiteten beide am Haus. Sie stützen die Decke ab, teilten den Raum für das Vieh, gerade rechtzeitig vor dem ersten Schneefall wurden sie fertig.
Ali hatte unruhig geschlafen, am Morgen glühte sein Körper.
"Bei Allah, das fehlte noch."
Kasim verabreichte ihm einen Kräutertee. Er hatte Angst um das einzige lebendige Wesen, das übrig geblieben war.
Von Fieber und schweren Träumen geplagt, wälzte sich der Junge den ganzen Tag auf dem Lager. Am Abend wurde er ruhig und in der Nacht sank das Fieber. Kasim hatte ihn keinen Augenblick alleine gelassen. Jetzt endlich konnte er die Ziegen melken und Futter besorgen.
In dicken Flocken fiel der Schnee, legte ein Tuch auf Mauerreste und frische Grabhügel.
Kasim vernahm das leise Knistern fallender Flocken, als er zu den Gräbern ging.
Die Nacht war vorüber, als er in die Behausung zurückkehrte. Ali hatte das Feuer nicht ausgehen lassen. Der Teekessel summte leise. Kasim setzte sich und legte den Kopf auf seine Knie. Der Junge sollte nicht sehen, dass er weinte.
Viele Wochen lang verrichteten sie ihre Arbeit, ohne zu sprechen. Ali versorgte das Vieh, während Kasim unterwegs war, um Fallen auszulegen.
Der Wind hatte die weiße, glatte Oberfläche des schneebedeckten Hanges zerfräst und ein Wellenmuster angelegt. Lautlose Meeresdünung aus weißen Kristallen.
Nachts hörten sie das Heulen der Wölfe. Das Vieh in seinem Verschlag wurde unruhig und Ali hielt Kasims Hand.
Manchmal holte Ali aus einer Blechschachtel, die er in seiner Hosentasche verwahrte, eine Fotografie hervor. Seine drei Brüder und er grinsten in die Kamera. Erinnerungen an ein anderes Leben.
Kasim ließ ihn dann alleine. Ein stilles Abkommen, das beiden das Leben in der engen Behausung erleichterte.
An einem klaren Wintertag nahm er Ali mit auf die Jagd. Er zeigte ihm, wie man die Fallen aufstellte und den Köder darin anbrachte. Dann sahen sie die Wölfe. Zu fünft kamen sie den Berg herunter.
Räudige, abgemagerte Gestalten, die sich schnell und lautlos näherten.
Kasim schob Ali, der sich an ihn klammerte, von sich und nahm sein Gewehr.
Er musste warten, bis die Wölfe in Schussnähe kamen, dann zielte er sorgfältig.
Einer der Wölfe brach zusammen.
Die übrige Meute griff den verletzten Wolf an. Einen Moment lang standen Kasim und Ali still. Dann lächelten sie sich an.
Sie marschierten zurück ins Dorf.
Das Wetter veränderte sich langsam. Der Wind brachte warme Luft aus dem Süden ins Tal und Kraniche zogen am Himmel entlang, auf den Wegen zu ihren Brutplätzen.
Die beiden Gefährten luden ihre Habseligkeiten auf die Schultern und zogen hinunter ins Tal. Das abgemagerte Vieh lief eilig voraus.
Der alte Mann hielt die Hand des Jungen fest in der seinen und der Frühlingswind ließ die langen Bänder ihrer Turbane flattern.
Das Dorf im Hindukusch betraten sie nie wieder.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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