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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Tag, der alles veränderte
© Brigitta Schmid
November. Nasskalt, grau und düster. So düster wie meine Gedanken, so düster wie meine Stimmung. Auf dem Friedhof waren die Köpfe der Chrysanthemen, die noch zwei Wochen zuvor gelb und weiß geleuchtet hatten, braun geworden. Ich empfand das nur als gerecht. Warum sollte es Schönheit an diesem Ort geben, der wie kein anderer dazu geeignet war, meine eigene Trostlosigkeit widerzuspiegeln? Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nicht mehr herzukommen.
Aber an diesem 31. November musste ich einfach eine Ausnahme machen. Es gab einen ganz besonderen Anlass. Wie Martin sich gefreut hätte… Aber das war vorbei. Martin konnte sich nicht mehr mit mir freuen. Nie mehr. Über nichts mehr. Er hatte mich an dem Tag verlassen, an dem wir unseren Hochzeitstermin festsetzen wollten. Nicht absichtlich natürlich. Ein Autofahrer, der in einer Kurve die Herrschaft über seinen Wagen verloren hatte, hatte ihn einfach niedergemäht. Martin hatte nie eine Chance gehabt.
"Und auch ich habe keine Chance mehr", dachte ich verbittert, während ich mit zitternden Fingern eine Kerze anzündete und in die Glaslaterne stellte, "Martins Tod war anscheinend nur der Beginn einer nicht enden wollenden Unglücksserie. Kaum drei Wochen später musste die kleine PR-Agentur, bei der ich angestellt war, Konkurs anmelden, und ich habe meinen Job verloren. Kurz danach ist mir die Wohnung gekündigt worden, die ich mir ohnedies nicht mehr lange hätte leisten können. In vierzehn Tagen
werde ich sie räumen müssen. Dann stehe ich auf der Strasse - praktisch mittellos, ohne einen einzigen Verwandten und obendrein noch schwanger, wie mir diese ahnungslose Gynäkologin heute geradezu strahlend mitgeteilt hat."
Ich hatte sie nicht aufgeklärt. Es wäre ja doch sinnlos gewesen. Nichts machte mehr Sinn - nur mehr die Brücke, über die mich mein Heimweg führte. Das Wasser unter mir, in das ich wie hypnotisiert hinabstarrte, zog mich magisch an. Es war kalt und dunkel, gewiss, aber auch mein Zimmer war kalt und dunkel. Ein Sprung nur, und alles könnte zu Ende sein… "Ob Martin mich erwarten wird?" dachte ich, während ich mich mühelos über das Geländer schwang.
Da fühlte ich mich plötzlich am linken Arm festgehalten. Erschrocken und unwillig drehte ich den Kopf und sah mich einer unbekannten Frau gegenüber. Sie mochte 65 oder 70 Jahre alt sein, und sie sah kläglich aus - eine kleine, zierliche Gestalt in einem völlig durchnässten schwarzen Mantel, das dünne graue Haar vom Wind zerzaust und nur ungenügend durch einen lächerlichen, verbeulten Hut geschützt, den der Wind jeden Moment fortzuwehen drohte. Ich war noch immer wie in Trance, und im ersten Moment erschien sie
mir wie ein Wesen aus einer anderen Welt, das gekommen war, um mich zu holen.
Erst allmählich begriff ich, dass das Gegenteil zutraf. Ich geriet in Panik, wollte mich losreißen, doch sie entwickelte erstaunliche Kräfte, und ihre Stimme klang ruhig und besonnen. "Nein", sagte sie, "Kommen Sie hier herunter, das ist nichts für Sie. Sie müssen schleunigst ins Warme. Der, der dort auf dem Friedhof liegt, würde es gewiss nicht wollen. Und das Kind soll doch leben."
Damit hatte sie meinen Widerstand gebrochen und meine Neugierde geweckt. "Aber wieso wissen Sie…" stammelte ich, doch sie blieb mir die Antwort schuldig. Geschickt half sie mir zurück auf den Gehsteig und zog mich dann energisch mit sich fort. Bis zu dem kleinen Café, das versteckt in einer Seitengasse lag, waren es nur wenige Meter. Und bald saß ich - in eine warme Decke gehüllt, die mir die hilfsbereite Wirtin gebracht hatte - vor einer riesigen Schale mit dampfendem Tee in einer ruhigen Ecke und
wiederholte meine Frage. "Nun, das war nicht allzu schwer", versicherte mir meine Retterin, "Ich habe Sie auf dem Friedhof beobachtet. Habe gesehen, wie Sie am Grab dieses Mannes trauern, von dem jeder hier weiß, dass er so jung sterben musste. Und ich habe die Hand bemerkt, die Sie schützend vor Ihren Bauch gehalten haben. So etwas tun nur werdende Mütter."
Werdende Mütter - mit einem Mal war die Bitterkeit wieder da. "Sie haben ja keine Ahnung", stieß ich erbost hervor.
"Nein", erwiderte mein Gegenüber ruhig, "Aber ich bin eine gute Zuhörerin."
So erfuhr die alte Dame meine Geschichte. Und während ich meine Verzweiflung hinausschrie, geschah etwas Seltsames. Ihr Gesicht schien immer jünger zu werden, je länger ich erzählte. Als ich geendet hatte, bemerkte ich die Entschlossenheit in ihren brauen Augen. "Ich werde Ihnen helfen", erklärte sie kurz und bündig, "Ich bin alt, aber nicht zu alt, um hin und wieder auf Ihr Kind aufzupassen. Und in meinem Haus gibt es genug leere Zimmer. Ich überlasse Ihnen gern zwei oder drei." - "Übrigens,
mein Name ist Rosa", fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, "Rosa Aschenbach."
Frau Aschenbach, die ich schon bald nur mehr Rosa nannte, hielt Wort. Sie begleitete mich durch die gesamte Schwangerschaft und richtete mich auf, wann immer ich in Hoffnungslosigkeit zu versinken drohte. Und es versteht sich von selbst, dass sie es war, die meine Tochter Vanessa Martina Rosa als erste im Arm halten durfte. Vanessa könnte sich keine bessere Oma wünschen, und ich mir keine treuere Freundin.
Der 31. November ist bei uns ein Feiertag. Egal, wie schlecht das Wetter sein mag, nichts könnte uns davon abhalten, zusammen auf den Friedhof zu gehen. Und während Vanessa eine Kerze am Grab ihres Vaters anzünden darf, denken Rosa und ich an den Tag unserer ersten Begegnung, der nicht nur ein, sondern drei Leben so entscheidend veränderte.
Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.