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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Schweigen deiner Blicke

© Janice Kielbassa


Die Haustür stand offen, lehnte nur leicht im Türrahmen. Sie lud mich förmlich ein, dass ich das Innere des Hauses betrat um mich dem Menschen zu stellen, in den ich verliebt war. Für mich gab es kein Zurück mehr, jeder Schritt, egal in welche Richtung, würde ein "Nach Vorn" bedeuten. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Egal, was kommen würde, es würde mir helfen. Selbst wenn die Seifenblasen der Hoffnung mit einem lautem Knall das Zeitliche segnen würden und ich mich nicht mehr an ihrem regenbogenfarbenen Glanz erfreuen könnte, so würde sich doch Platz für Neues bieten. Wo nur hatte ich meine Fantasie verloren, dass ich mich so an ihnen labte und an ihnen genügte?
Wie hatte es damals angefangen, mit ihm? Das, das nie angefangen hatte, nun aber enden sollte? Und mit ihm das Gefühl der Unerträglichkeit, dass von mir Besitz ergriffen hatte.
Ich lernte ihn auf einer Party kennen, die von einem Sportverein organisiert wurde, in den ich eintreten wollte. Unser erstes Gespräch wurde von ihm durch die Lüge "Wir reden später weiter." beendet. Lange Zeit überlegte ich noch, ob ich von ihm eine Fortsetzung fordern sollte, entschied mich dann aber dagegen. Man kann ja niemanden zum Reden zwingen.
Während des weiteren Abends ging er mir aus dem Weg oder verhinderte eine Einbindung in ein Gespräch. Saß ich neben ihn, drehte er mir den Rücken zu und unterhielt sich lauter als nötig mit seinem Gegenüber. Möglicherweise war das seine Art, mich an dem Gespräch teilhaben zu lassen.
Saßen wir uns gegenüber schaute er mir in die Augen. Lange, viel zu lange. Bis heute weiß ich nicht, ob diese intensiven Blickkontakte, die sich noch häufen sollten, auf einem bei ihm nicht vorhandenen Reflex des Wegschauens beruhten oder ob womöglich seine Augenmuskulatur nicht ausreichend ausgebildet war. Vielleicht nötigte ihn ein anatomischer Defekt, sich meinem nicht weichenden Blick auszusetzen. Vielleicht gab es regelmäßig einen Kurzschluss in seinem Gehirn, der die Verbindungsneuronen vom Entscheidungszentrum "Kopf wegdrehen, Augenlider senken" zum ausführenden Organ lahm legte. Ich möchte ja nur alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.
Ich entschied mich, dass er einfach nur komisch und arrogant war und legte keinen Wert auf einen weiteren Kontakt.
Beim ersten Training staunte ich nicht schlecht, als der Trainer auftauchte und plötzlich - ER vor mir stand. Er kam auf mich zu, reichte mir freundlich seine Hand, klopfte mir auf die Schulter, begrüßte mich mit einem netten Gespräch. Er war wie ausgewechselt, meinte, dass er heute mal das Training durchführen würde. Ich war völlig perplex. Mit beiden hatte ich nicht gerechnet.
Es war körperlich sehr anstrengend und ich scheiterte selbstironisch an den meisten Übungen. Er kümmerte sich um mich, was aus Sicht eines Trainers wahrscheinlich verständlich ist. Was mich trotz allem störte, war, dass er mich berührte, an den Armen, an der Hüfte. Viel zu oft.
Mir lag es auf der Zunge, ihn zurückzustoßen und Abstand zu fordern. Ich brauchte Zeit für diese Nähe. Selbst, wenn das Leisten von Hilfestellung normal und auch wenn diese zwangsläufig mit Körperkontakt verbunden ist; ich empfand sein Bemühen als zu intensiv.
Danach verloren wir uns eine zeitlang aus den Augen. Wochen später sah ich ihn auf einem Konzert. Ich steuerte auf ihn zu, im Glauben, ein Gespräch beginnen zu können.
"Hallo" meinte ich.
"Hallo. Wie geht's?"
"Gut. Und dir?"
"Gut."
Wir reden noch drei Sätze über die Band. Besser gesagt: Ich redete noch drei Sätze und vertraute auf ein Anknüpfen auf die von mir getroffenen Aussagen.
Mein Mut wurde von lautem Schweigen quittiert. Selbst wenn es mir schien, dass dieses nur auf seiner Schüchternheit beruhte, so erkannte ich trotz allem, dass der Zeitpunkt nur noch zur Flucht taugte, um uns beide nicht länger mit der Peinlichkeit der Situation zu strafen.
"Ich geh dann mal tanzen." verabschiedete ich mich.
"Lass alles raus."
Was ein blöder Spruch, war mein einziger Gedanke. Aber wenn einem nichts Besseres einfällt, vielleicht greift man dann zu solchen, für mich unüblichen, Floskeln.
Drei Tage später sahen wir uns auf einer Party wieder. Er erkundigte sich, wie mir das Konzert gefallen hatte. Ich staunte - er konnte reden! Er war imstande zu einem Gespräch, zu sinnvoll aneinander gereihten Worten, ausformulierten Sätzen.
Ich stellte die Hypothese auf, dass er möglicherweise doch normal sei. Ich antwortete auf seine Frage, dann kam ein anderer hinzu und wir redeten zu dritt. Schließlich verflüchtigte er sich.
Eine Woche später sahen wir uns beim Training. Ein kurzes Hallo, das mir klarmachte, dass ich doch nur "irgendwer" für ihn war.
Das Training begann, wir saßen alle im Kreis und wie es der Zufall so wollte, saß er direkt neben mir. Ich hielt ausreichend Sicherheitsabstand, schließlich war ich nur irgendwer und wollte niemandem auf die Pelle rücken.
Bei jenem Sport spielt die Musik eine ebenso große Rolle wie die körperliche Bewegung, diesmal sollte das Singen trainiert werden. Es wurden einige Blätter mit Texten verteilt. Da ich erst angefangen hatte, war mir der Wortlaut noch nicht so geläufig und ich war auf das kostbare Stück Papier angewiesen, das einer meiner Nachbarn ergattert hatte. Ich saß rechts von ihm und fast so, als hätte er keinen linken Nachbarn, legte er den Text mir quasi vor die Nase. In meinem Gehirn speicherte ich die Charaktereigenschaft "etwas zu rücksichtsvoll" unter seiner Karteikarte ab. Ich bedankte mich in nicht übertriebener Freundlichkeit mit "Geht schon, danke" und versuchte mitzusingen.
Das nächste Mal sahen wir uns auf einer Geburtstagsparty. Ich war gerade in ein Gespräch vertieft, als ich ihn durch die Tür kommen sah. "Der kennt aber auch jeden." und "Was will der denn hier?" waren die ersten Gedanken, die simultan in meinen beiden Gehirnhälften zum Leben erwachten.
Ich staunte nicht schlecht, denn er kam tatsächlich auf mich zu, um mir seine Hand zur Begrüßung zu reichen. Bisher genoss ich nur sporadisch diese Ehre und auch dann schwankte sie zwischen "pflichtbewusst" und "möglichweise-tatsächlich-erfreut-mich-zu-sehen".
Ich weiß, dass ich nicht sehr weise handelte und dass man wohl seine Emotionen gezügelt bekommen sollte. Auch weiß ich, dass Menschen zwar mit der Phrase "Ehrlich währt am längsten." altklug herumwerfen, aber wehe - wehe dem, der ehrlich sagt, was er denkt. Ich war an jenem Abend verblüffend direkt und knallte ihm erst einmal "Hallo. Bei dir weiß ich nie, ob du mich nur verarschen willst oder es ernst meinst." an den Kopf. In jedem Ratgeber "So machen sie sich Freunde" würde dieser Satz auf der Roten Liste stehen, mit hundertfünfzig Ausrufezeichen, dass dies nur eine diplomatischere Ausdrucksweise von "Bist du nur mir gegenüber so bekloppt oder ist das normal für dich?" ist.
Ich weiß nicht, wer im Endeffekt erstaunter von uns beiden war. Vielleicht antwortete er im Affekt, eine Art Amoklauf von heraussprudelnden Sätzen. Vielleicht war ihm seine Aussage wirklich wichtig und der Reflex, diese Ehrlichkeit mir gegenüber zu unterdrücken, war gerade in den Streik getreten. Auf jeden Fall hörte ich: "Nein, im Gegenteil, ich will dich nicht verarschen."
Das saß.
Ich schwieg, völlig perplex.
Im Gegenteil.
Was hieß das nun schon wieder? Das Gegenteil von absolutem Desinteresse ist doch das Suchen der anderen Person? Mein weiblicher Verstand zumindest lässt mich zu diesem Schluss kommen. Inzwischen weiß ich, dass Frauen auf keinen Fall versuchen sollten, die Worte von Männern zu interpretieren. Sein Satz könnte alles bedeuten, von "Haben wir uns schon mal gesehen?" bis "Falls du in einer Viertelstunde noch nichts vorhast, dann hätte ich eine Idee."
Nach einigen Sekunden des Schweigens sagte ich ihm, dass ich nicht verstehen kann, warum wir uns nicht wenigstens regelmäßig grüßen würden. Was er darauf erwiderte, weiß ich nicht mehr. Aber mit hoher Wahrscheinlichkeit sagte er gar nichts und guckte mich einfach nur an, so, als könnte er auf meiner Stirn einen Schriftzug mit meinen Worten lesen. Damit galt dieser Versuch eines Gespräches als beendet, wir beide wendeten uns wieder anderen zu.
Während der Party mieden wir uns. Einmal, als ich in ein Zimmer ging in der Hoffnung, jemanden zum Reden zu finden, sah ich ihn. Er saß allein auf einer Couch, der Raum wurde von lauter Musik beschallt, so dass Gespräche fast ausgeschlossen waren. Vom Türspalt aus blickte ich ihm in die Augen. Er schaute zurück. Zwinkerte mir zu. Lächelte. Dinge, die einem Mut machen, aufgeschrieben aber nur tierisch kitschig klingen und sich das Papier vor lauter Schmalz wellen lassen.
Ich machte die Tür wieder zu, von außen, und holte mir ein Glas O-Saft.
Stunden später sah ich ihn auf einer Matratze sitzend, in einem scheinbar witzigen Gespräch mit jemandem vertieft. Die beiden lachten. Vor allem aber zwinkerten sie sich zu, so, als würde an ihrem Augenlid ein flackerndes Aktionspotential aufgebaut werden, dass sich in hochfrequentem Zucken äußerte.
Ich setzte mich neben ihn, wartete einige Sekunden, ob sein Sichtfeld mich weiterhin ausblendete oder ob ich nicht doch in den Bereich des visuell Wahrnehmbaren vordringen würde. Vielleicht drängte ich mich auch mit einem Kommentar auf, schon möglich. War ja schließlich eine Party.
Meine Erinnerung ist ein wenig verblasst; wie der Anfang des Gespräches war, weiß ich nicht mehr. Aber ich höre ihn noch ganz deutlich sagen: "Nimm doch nicht alles so ernst!"
Ich? Ich, die sich über alles und jeden totlachen kann? Die die Selbstironie quasi erfunden hat? Die aus Vorlesungen geworfen wird, weil sie den Prof mit ihrem Lachen übertönt? Die sich auf einer Trauerfeier beherrschen muss ... nun gut, so arg ist mein Humorzentrum im vorderen Frontallappen noch nicht gestört.
Aber - worum es geht: Der Typ, der mich immer nur anschweigt, kein Lächeln für mich übrig hat und eigentlich immer nur glotzt - der wirft mir vor, dass ich zu ernst bin? Nur, weil der zuviel getrunken hat, muss er sich nicht gleich als Jim Carrey sehen.
Ich kochte innerlich vor Wut. Dieser ungerechtfertigte Vorwurf, von einer Person die mich erstens nicht kannte und zweitens den Satz an sich selber richten sollte!
Ich sagte: "Ich lache nicht, weil es mir ernst und wichtig ist."
Er fragte, warum ich so schnell reden würde, ob ich denn auch so schnell denke.
"Ich rede so schnell, weil ich fertig werden will."
Ich rede so schnell, weil ich unsicher bin und das Gefühl habe, dass du mich eh nur verarschen willst. Aber dass kann ich dir ja schlecht noch mal sagen.
Einer von uns beiden ging. Ich glaube, er war es, denn sein Zwinkerpartner fand mich relativ schnell sympathisch und hatte es furchtbar eilig, mir dies mitzuteilen.
Wir saßen noch eine Weile herum und da ich keine Lust hatte, dem Geflüchteten hinterher zu rennen, hörte ich mir Hymnen auf mich selbst an. Ist auch mal nett, schließlich ist ja doch nur jeder auf der Suche nach Selbstbestätigung.
Einige Minuten später kam der Dilettant zurück. Die Couch, auf der wir vorher zu dritt saßen, war bereits von anderen belegt und eigentlich gab es für ihn überhaupt keinen Platz mehr. Das schien ihn aber nicht zu stören - er parkte seinen Körper zur einen Hälfte auf meinem, zur anderen auf dem meines Nachbarns. Natürlich nicht dem, der mich versuchte mit Honig zu ersticken. Der saß auf meiner anderen Seite.
Ich habe mich damals schon gefragt, warum er sich den denkbar unbequemsten Platz ausgesucht hatte. Er konnte so weder erzählen noch länger verweilen. Ich weiß es nicht. Woran ich mich erinnere, ist seine Nähe, sein Geruch, der mich wahnsinnig machte und der meine motorischen Nerven aktivierte: "Fass ihn an, irgendwo. Auf der Schulter! Am Arm! Berühre ihn! Mach irgendwas!"
Mutter Verstand kam hinzu und meinte: "Bleiben Sie mal ganz ruhig und warten Sie ab ..." Genau, der geht schon wieder und mit ihm, eine günstige Gelegenheit.
Und was diese verpasste Chance - die von seinem Hirn aus natürlich völlig anders zu deuten ist, da es für ihn womöglich normal ist, dass man sich gleich einem gefälltem Baum auf umherliegendes Unkraut wirft - noch viel schlimmer machte: Der Typ, der mir an der anderen Backe klebte, hatte sich gerade warm geredet und setzte zum Bonus-Track bezüglich meiner Perfektheit an. Da kannte mich jemand geschlagene fünf Minuten, langweilte mich zutiefst und erzählte mir davon, wie toll ich doch sei. Ich musste mich sehr zusammenreißen, dass ich sein Weltbild nicht mit einem kurzen Satz zum Einsturz brachte. Er konnte ja schließlich nichts für seine Unperfektheit.
Die Party neigte sich dem Ende. Ich sah, wie die Person, die mir am wichtigsten war, sich ihre Jacke schnappte und von allen verabschiedete. Für mich gab es keinen Grund mehr zu bleiben. Ich suchte den Gastgeber, ich wollte ebenfalls gehen. Jener stand im Flur und erzählte mit demjenigen, der sich auch gerade seinen Umhang umgeworfen hatte. Ich reichte beiden die Hände und sagte kühl und distanziert "Tschüss".
Im Herausgehen konnte ich noch ihrer Konversation folgen: "... mit meinen Gefühlen bin ich nun auch wieder im reinen und habe da einiges für mich geklärt." Genau - da war ja noch etwas. Da war noch seine Ex-Freundin, mit der zwar seit drei Monaten Schluss aber mit der er noch immer befreundet war. Für einen Mann ziemlich ungewöhnlich, diese "Wir-können-doch-Freunde-bleiben"-Schiene. Wie ich später erfuhr, war sie es, die die Beziehung beendet hatte. Ich bin mir sicher, dass er noch in sie verliebt war oder sogar ist. Auch wenn in mir alles schrie: "Lass die Finger von dem. Der wird dir nur weh tun!", ignorierte ich diese innere Stimme dezent. Wenn man verliebt ist, ist man blind und taub für das Offensichtliche.
Das nächste Mal beim Training begrüßte er mich mit "Ergebenswert" und verbeugte sich leicht vor mir. Wir redeten nicht weiter miteinander. Ich verstand gar nichts mehr. Vom absoluten Nichts zu dieser Wortwahl. Von 0 auf 100. Natürlich brauche ich mir darauf nichts einzubilden. Ebenso wenig, wie auf die sich nun häufenden Körperkontakte. Er setzte sich beim Singen bewusst neben mich, obwohl es quasi an jeder anderen Stelle mehr freien Raum gegeben hätte. Das von ihm dabei hervorgerufene Maximum an Tangentialpunkten versuchte ich allerdings auch nicht zu erniedrigen. Als er hinter mir stand, berührte er mich mit seinen Händen im Vorbeilaufen an der Hüfte. Einmal stand er vor mir und plötzlich, als hätte er Gleichgewichtsstörungen, stolperte er rückwärts auf mich. Völlig unmöglich, aus dem sicheren Stand nach hinten umzukippen, noch dazu bei einer von mir gewahrten Entfernung eines halben Meters.
Aber klar - alles nur Einbildung. Kommt zwar nur mit ihm vor und habe ich bisher noch nie erlebt, aber eigentlich ganz normal. Die gewohnte Überinterpretation männlichen Verhaltens durch den weiblichen Verstand. Er hatte sich bestimmt nichts dabei gedacht.
Dann gab es noch die Blicke zwischen uns. Beweise für gar nichts, die kann man leugnen. War er einfach nur ein Phlegmatiker? Zu faul den Kopf wegzudrehen? Verdammt - der Schwerkraft folgend hätte er doch einfach auf meine Füße schauen können, wenn er mich schon anglotzen wollte!
"Lass den Kopf nicht hängen" war bestimmt seine Lebensphilosophie.
Eine Woche später war ich mit einem Freund zum Essen verabredet. Wir trafen uns in der Mensa und witzelten herum. Als eine schwarze Jacke mit aufgesetzter Kapuze den Raum betrat, verschwand jegliches Hungergefühl, ich lief rot an und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. "Du", sagte ich, "da kommt er."
"Wer?" fragte mich mein Gegenüber und drehte den Kopf in die Richtung, aus der mir Unheil drohte. "Dieser ältliche Mann dahinten?"
"Ja, aber mach's doch nicht so offensichtlich."
Eine Minute später, als mein Puls sich einigermaßen gesenkt hatte und ich mich jenseits des Hyperventilierens befand, knüpfte ich an seinen Kommentar an: "Ältlich? Ist mir gar nicht so aufgefallen." Mein Verliebtsein war im akuten Stadium.
Ich könnte noch Romane verfassen über die für mich bedeutenden Kleinigkeiten, an denen ich mich nährte und aus denen ich Kraft schöpfte. Er gab mir nie soviel, dass ich mir sicher sein konnte. Trotz allem reichte das Wenige, um meine Illusionen am Leben zu erhalten. Ich schlief schlecht, wurde unsicher in seiner Gegenwart, dachte Tag und Nacht an ihn. Meine Woche reduzierte sich auf die zwei Tage des Trainings. Ich lebte für ihn und meinem Traum von einem "Uns".
"Hoffnung ist nicht die Gewissheit, dass etwas gut ausgeht, sondern die Überzeugung, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht."
Ich las diesen Spruch, der eine Postkarte schmückte, ein zweites, drittes Mal. Ich hatte das Gefühl, als wäre dieser nur für mich geschrieben worden.
Wochen schon plagte ich mich und so langsam kam mir die Einsicht, dass irgendetwas nicht so lief, wie es sollte. Ich war noch immer allein. Meine Freunde rieten mir, ihn zu vergessen. Wenn er kein Engagement zeigt, dann würde das schon seine Gründe haben. Schließlich kämpft man ja für das, was einem wichtig ist.
Sie hatten Recht. Mein Verstand konnte ihrer Argumentation folgen, für meine Gefühle aber war diese Rationalität gleich der Worte einer fremden Sprache.
"Man sollte nicht untergehen, nur wegen jemandem, in dem man verliebt ist. Schließlich ist der andere ja auch kein Übermensch ... Und vergiss auch mal nicht, was du dir wert bist. Wer du bist. Wenn er dich nicht erkennt, an dir vorbeischaut, dann lass los!" Gut gemeinte Ratschläge von Menschen, die mich nicht länger leiden sehen wollten.
… dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht. Hauptsache ein Ende. Etwas Definitives. Klarheit.
Was hatte ich zu verlieren?
Gut, dachte ich mir, dann möchte ich aber aus seinem Munde hören, dass ich ihm egal bin. Dass er keinerlei Gefühle für mich hat.
Wenn, dann sollte er mir eine ehrliche und direkte Abfuhr verpassen.
Wenn, dann sollte er mir einen Grund geben, ihn zu hassen.
Seine Haustür stand offen, lehnte nur leicht im Türrahmen. Sie lud mich ein, ich nahm die Herausforderung an. Auf zur letzten Schlacht, der Weg in den Untergang. Was mich erwartete, das wusste ich.
Flächenbrand.
Vor der Haustür legte ich meinen Stolz ab, der würde mich dort nur behindern.
Ich ging die Stufen nach oben, dritte Etage. Bevor ich dazukam, weiter darüber nachzudenken, hatte sich mein
Zeigefinger schon in den Klingelknopf gegraben.
Keine zwei Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Ein staunender Blick begrüßte mich:
"Hallo?!"
"Hallo" erwiderte ich. "Hast du mal eine Viertelstunde Zeit, ich störe nicht lange."
"Äh ja, komm rein.."
Ich betrat seine Wohnung, es roch nach ihm.
"Willst du einen Kaffee?"
"Äh ja. Nein. Vielleicht einen Tee. Ich reagiere ziemlich empfindlich auf Koffein, da kann ich nicht schlafen." nahm ich sein Angebot an.
Er brühte mir einen Schwarztee auf, komplettierte ihn mit Zucker. Ich nahm dankend die Tasse an - ich hasste Zucker im Tee.
Wir redeten ein bisschen über nichts, dann fragte er mich direkt: "Du bist ja sicher nicht hier, weil du einen Kaffee trinken wolltest ..."
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo ich meine Selbstbeherrschung brauchte, um die Worte zu verwenden, die er in meiner Fantasie schon hundertmal gehört hatte. Mut, dieser kümmerliche Rest Mut, auf welcher Etage des Treppenhauses, hatte ich ihn verloren? Jeder Schritt ein Schritt nach vorn ...
"Du hast ja sicher gemerkt, dass du mir etwas mehr als normal bedeutest. Und ich wollte einfach nur hören, dass es deinerseits nicht so ist."
Er suchte einige Sekunden nach Worten, sammelte sich und sagte dann in einem überlegen kühlen Ton: "Ich habe schon mitgekriegt, dass da von deiner Seite mehr ist. Ich kann das aber einfach nicht teilen."
Und er sah mir in die Augen - sein Blick klar und kalt wie Stahl, schnitt in mein Herz. Ein mir unbekanntes resolutes Auftreten. Er strahlte mir gegenüber eine Überlegenheit aus und behandelte mich so, als wäre ich ein pubertierender Jugendlicher, der seinem Popstar hinterher hecheln würde.
"Aber, wenn du es gemerkt hast - warum bist du dann auf mich zugekommen?"
Warum verdammt nochmal hast du diesen Egotrip durchgezogen, hast dich gelabt an meinen Blicken, gesuhlt in meiner zurückhaltenden Bewunderung? Warum bist du nicht einfach auf Abstand gegangen, hast mich gemieden? Erzähl mir nicht, dass du noch nie verletzt worden bist - warum verletzt du dann mich, in vollem Bewusstsein? Warst du nur auf der Suche nach Selbstbestätigung?
"Nur, weil ich dir hallo und tschüss gesagt habe?" fragte er mich verwundert, als wüsste er nicht, wovon ich rede.
Hallo und tschüss gesagt? Aber wie! Die Blicke, die Gesten, die Berührungen, die vielen Dinge ...
"Ich will keinen Kontakt mit dir außerhalb vom Training haben. Ich wüsste auch nicht, wann wir mal zusammen irgendwo gewesen wären. Ich finde es okay so, wie es ist und ich will auch, dass es so bleibt."
Die Party, das Konzert und so viele Situationen. Auf Zufällen beruhend. Das stimmt. Ich wusste, dass eine unanfechtbare logische Diskussion würde folgen. Ich kannte diese Art von Gesprächen. Letztendlich würde ich alles von mir ablegen und er würde sich an nichts erinnern können, alles anders deuten und nichts zugeben. Er würde mir vorwerfen, dass ich diejenige war, die auf Kontakt aus war und dass er nur in Passivität mein Handeln ertragen hat. Wahrscheinlich, um mich nicht zu verletzen und zurückzuweisen.
"Das stimmt so nicht. Aber das hat eh keinen Sinn. Du willst ja doch nicht verstehen was ich sage. Das ist so, als würde ich von der fünften Dimension reden." blockte ich erst einmal ab.
Er ging aus der Küche in sein Zimmer, schüttelte den Kopf und meinte, dass er sich gerade wie in der fünften Dimension fühlen würde. Dass er so schnell und vehement alles von sich wies, war ein zumindest indirektes Zugeben, dass er sich sehr wohl bewusst war, dass nicht alles von der Hand zu weisen war, was ich empfunden hatte. Sonst würde er nicht wegrennen und das Gespräch meiden.
"Ich weiß gar nicht, warum wir jetzt dieses Gespräch führen." sagte er. Er fühlte sich an die Wand gestellt.
"Das ist mir klar. Ich bin es ja auch, die ein Problem hat. Hör zu, ich weiß, dass ich nicht das hören werde, was ich hören will. Ich finde das auch gar nicht schlimm. Ist ja immerhin besser, wenn man zu viel empfindet als zu wenig." In meinem Gesicht zeichnete sich bereits ein Lächeln ab, ich hatte meine Fassung wiedergefunden. "Und alles, was ich hier sage, kannst du letztlich gegen mich verwenden. Ein Freund sagte mir mal, dass Frauen immer alles interpretieren würden. Vielleicht. Aber ich kann schließlich dein Verhalten nur am Verhalten der andern messen. Und das deine ist völlig anders."
"Ich bin eben schüchtern und zurückhaltend und nicht so wie du. Du hast ja förmlich alle überrannt in deinem unbedingten Bedürfnis jeden kennenlernen zu wollen."
Was bitte macht man sonst mit Menschen? Soll ich Fotos von ihnen machen und sie mir an die Wand pinnen? Auch wenn Menschen Kunstwerke sind, so ist das Leben doch kein Museum, in dem man diese Schätze hinter Vitrinen abstellt und sich ihres Besitzes rühmt!
Ich schwieg kurz, dann sagte ich in merklich selbstsicherem Ton:
"Du wirfst mir als mein ehrliches Interesse an Einzelnen vor? Du klagst an, dass ich nicht so oberflächlich wie die meisten bin?"
Ich schwieg kurz, dann setzte ich fort: "Weißt du, vor ein paar Jahren war ich anders. Ich stand allein herum und habe gewartet, dass jemand kommt und mit mir redet. Keiner ist gekommen, das hat doch gar niemanden interessiert. Seitdem gehe ich mehr auf Menschen zu. Wenn ich mich integrieren will, dann kann ich nicht passiv am Rand stehen und auf große Veränderungen warten. Nichts wird passieren. Von selbst kommt keiner, weil jeder Angst vor Konfrontation und Zurückweisung hat. Und glaub mir", sagte ich mit deutlichem Pathos und einiger Trauer in meine Worten, "es ist verdammt schwer, zu einer Gruppe zu stoßen. Wenn du die Einzige bist, die niemanden kennt, dann musst du alles allein durchstehen."
Ich schwieg.
"Ich kenne das Gefühl", sagte er leise.
"Dann frage ich mich, warum du mir vorwirfst, dass ich es euch und mir einfacher machen wollte!"
Diesmal war er es, der schwieg. Ich gab ihm Zeit für eine Antwort.
"Vielleicht bin ich einfach nur komisch. Okay, dann bin ich komisch." sagte er. Seine Fassade der Arroganz begann zu bröckeln. "Manche Menschen brauchen eben mehr Zeit für Gespräche."
"Mehr Zeit. Wir sind uns jetzt seit einem halben Jahr bekannt." Ich redete bewusst nicht von kennen. "Und du findest es normal, dass wir nicht mal einen x-beliebigen Smalltalk führen können? Dass es über "Hallo - wie geht's? - gut" nicht hinausgeht?"
Ich fragte mich, wie lange er einen Menschen für ein zehn minütiges Gespräch kennen musste.
Er erwiderte nichts, schaute mich nicht mehr an
.
"Bei mir läuft es eben anders mit dem Menschenkennenlernen. Irgendwann ergibt sich eine Gelegenheit für ein Gespräch." erklärte er mir. Etwas später fügte er hinzu: " Und ich hatte in letzter Zeit viel mit mir selbst zu tun, eigene Probleme. Meine Magisterarbeit."
Ich wollte ihn nicht länger strafen. Er hatte mehr gesagt, als er wollte. Er hing also noch an seiner Ex-Freundin und was auch immer ihn in meine Richtung lenkte, es wurde unterbewusst gesteuert. Von daher würde er sich auch nicht schuldig fühlen. Von daher wusste er nicht, wovon ich sprach.
Ich redete mir ein, dass es genau so war. Damit würde ich klar kommen.
Wir wechselten das Thema, redeten über Dies und Das. Keine Wettergespräche, aber auch keine hochphilosophischen Ausführungen.
"Und was willst du nach dem Studium machen?" fragte ich ihn. "Ich weiß, dass ist eine Frage, die man nicht beantworten will und kann. Aber auch, wenn man nicht weiß, was man will, so weiß man ja ziemlich genau, was man nicht will."
"Hm, ins Ausland würde ich gern gehen. Erst einmal raus hier. Dann vielleicht zum Fernsehen und für Reportagen recherchieren. Aber so genau weiß ich das noch nicht."
"Am besten ist es wahrscheinlich, wenn man abwartet, was sich ergibt. Welche Möglichkeiten sich einem noch offenbaren." sagte ich mit einem echten Lächeln im Gesicht. "Bei mir zumindest war es immer so. Das, worauf ich zugesteuert bin, das, was ich am meisten wollte, habe ich am Ende doch immer nicht bekommen. Und das, was mir das Schicksal, der Zufall oder wer auch immer anbot, war so viel besser, als alles, was ich hatte haben wollen."
Und so wird es auch mit dir sein!
Ich lachte kurz, setzte dann fort: "Aber vielleicht bin ich auch einfach nur gnadenlos optimistisch und sehe überall etwas Positives. Kann auch sein. Ist mir dann aber auch egal. Hauptsache, es funktioniert."
Wir redeten noch kurz weiter, die von mir geforderte Viertelstunde hatten wir längst überschritten. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass ihm dieses Gespräch eine zu große Last war. Sonst wäre ich gegangen.
Je mehr wir redeten, umso fröhlicher wurde ich, umso mehr hielt mein Lachen Einzug in meine Worte. Auch, wenn ich ihm nicht in die Augen sah, so merkte ich, dass er längst von seinem hohen Ross herabgestiegen war. Was auch immer er vorher in mir gesehen hatte - es war nicht dieser Mensch gewesen, der ihm gerade gegenübersaß, der Herr über die Situation war, der sich nicht dafür schämte, dass er sich offen zu seinen Gefühlen bekannte, selbst wenn diese unerwidert blieben. Jemand, der verloren hatte und trotzdem zufrieden war, lächeln konnte.
"Hm, ich glaube, ich sollte noch ein bisschen was arbeiten." beendete er das Gespräch.
"Okay." Ich stand auf und schaffte meine halbleere Teetasse in die Küche.
Im Herausgehen hörte ich noch: "... du kennst Menschen schon ziemlich gut ..."
"Ja", sagte ich voller Selbstbewusstsein. Ergänzte, um es zu relativieren: "Manchmal zumindest. Ich habe genügend kennengelernt. Und - Menschen lernt man nicht über Gespräche kennen. Die meisten reden vortrefflich. Da muss man schon beobachten wie sie handeln. Was glaubst du eigentlich, woher ich das Vertrauen genommen habe, bei dir zu klingeln? Ich war mir sicher, dass du mir die Chance zu einem Gespräch gibst. Und wir beide haben fast noch gar nicht miteinander geredet."
"Na gut, dann noch einen erfolgreichen Abend" sagte ich zu ihm. "Und danke."
Ich zog meine Jacke an, er umarmte mich zum Abschied. Ich wahrte Distanz.
Ich ging fröhlich beschwingt aus seiner Wohnung und hüpfte energiegeladen die Treppen herunter. Natürlich lag dort ein Teppich, auf dem ich ausrutschte und fast noch die restlichen Etagen herunter gefallen wäre, wenn ich mich nicht am Geländer hätte festkrallen können. Wäre ja auch zu schön, wenn ich nur geistigen Schaden aus der ganzen Geschichte ziehen würde.
Als ich aus Haustür trat, fragte mich eine Stimme: "Und, wie lief es?"
"Fantastisch! Okay, ich bin immer noch solo. Aber der Schlussstrich ist gesetzt. Times New Roman, Schriftgröße 72, fettgedruckt." scherzte ich.
"Na dann ist ja gut. Wollen wir gehen oder willst du noch bleiben?"
"Quatsch, hier finde ich sowieso nicht, das was ich suche. Gehen wir! Ich bin echt froh, dass du auf mich gewartet hast!"
"Klar, wir gehören schließlich zusammen!"
"Bis ans Ende aller Tage" sagte ich lachend.
Und dann stürzten sich mein Stolz und ich wieder ins Leben.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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