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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Die wahre Geschichte von Paris
© Erik Lehmann
Ich saß im Zug nach Frankfurt. Dort sollte ich meinen Anschlusszug nach Paris erreichen. Ich war spät dran. Ständig musste der ICE anhalten. Lange Wartepausen waren nichts Seltenes. Zehn Minuten oder länger verbrachte der Schnellzug vor nicht enden wollenden Baustellen. "Gleisarbeiten!" hieß es immer wieder, wenn man das Bahnpersonal nach den Gründen der Verzögerungen fragte, doch eigentlich hatten selbst die oftmals keine Ahnung, warum es nicht weiter ging. Dafür wurde man nur beiläufig angelächelt
und auf die neuen und weichen Sitze hingewiesen, die seit einem halben Jahr eingebaut waren, oder man wurde im Speisewagen mit einem Glas Orangensaft vertröstet, wenn man Glück hatte. Mir saß eine ältere Dame gegenüber. Sie hatte sich hinter ihrer Zeitung vergraben und versuchte jeden Blickkontakt zu vermeiden. Lang hielt sie es allerdings nicht hinter ihrer Zeitung aus. Sie faltete sie gereizt zusammen und drehte ihren Kopf zum Fenster, ohne mich auch nur bemerken zu wollen. Was ist aus den Menschen nur geworden?
Den Menschen, die sich früher noch Geschichten erzählten und Erfahrungen austauschten. Die sich gegenseitig halfen, Respekt voreinander hatten, ob nun alt oder jung. Die Menschen, die alle zusammen gelitten und alles wieder gemeinsam aufgebaut hatten. Sollte das nicht für die Ewigkeit sein, ein menschliches Zusammenleben, ohne abwertenden Blick und sinnlose Missachtung? Ich ertappte mich dabei, moralisch zu werden und versuchte die Gedanken, die mich irgendwie an meinen früheren Ethiklehrer erinnerten, aus meinem
Kopf zu bekommen. Ich machte das Klappfenster vom Abteil auf, ohne zu fragen, ob es sie vielleicht stören könnte. Sie zeigte keine Regung. Ich schaute mir die ältere Dame an und fühlte plötzlich eine unbegreifliche Abneigung. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. War sie hässlich, war sie uralt, war sie widerlich oder machte sie mir sogar Angst? Was war denn auf einmal mit mir los? Ich schaute hinaus auf den Gang. Die vorderen Abteile waren bestimmt noch nicht besetzt. Sollte ich vielleicht? Nein, sie
würde mich sofort durchschauen. Ich fühlte schon die ganze Zeit, dass sie mein Unbehagen wohlwollend zur Kenntnis nahm. Dennoch starrte sie unbeirrt nach draußen. Nun flogen auch meine Blicke hinaus in die verzerrte Landschaft. Schaute man sich die nähere Umgebung an, so sah man nur ein Wirrwarr und nichts schien geordnet und real. Schaute man dagegen in die Ferne, konnte man beinahe traumhafte Landschaften genießen und Vogelschwärme beobachten. Das erinnerte mich irgendwie an das Leben, an diese Weitblickigkeit,
wie meine Mutter es immer nannte, während sie versuchte, mir irgendetwas begreiflich zu machen.
"Wohin führt denn die Reise?"
Doch nun verstand ich es plötzlich. Im Zug sitzend, erkannte ich mit Leichtigkeit das, was meine Mutter mir jahrelang vergeblich beizubringen versucht hatte.
"Junger Mann, wohin führt ihre Reise?"
"Bitte was?" Ich war aufgeschreckt.
"Nach Frankfurt und von dort nach Paris." gab ich mit zittriger Stimme zur Antwort.
"Paris. Eine durchaus sehenswerte Stadt."
"Waren sie schon einmal in Paris?"
"Ja. Schon einige Male."
Und schon befanden wir uns in einem geradezu angenehmen Gespräch. Ich bereute meine schlechten Gedanken, die mir noch vor wenigen Minuten beim Anblick dieser älteren Dame durch den Kopf geschossen waren. Sie schien nett zu sein und sich um Einiges für mich zu interessieren.
"Ich werde dort einen Freund besuchen." verriet ich ihr.
"Einen Schulfreund?"
"Nein, mehr eine Urlaubsbekanntschaft."
"Ah." Sie wandte sich ab.
Was hatte sie erwartet? Das ich einen Schulfreund besuche? Ich konnte ja nicht wissen, was sie von mir hören wollte. Was tat sie denn auf einmal so beleidigt?
"Wäre es ihnen lieber, wenn ich einen Schulfreund besuchen würde?"
Sie schaute mich mit fragendem Blick an. Dann drehte sie sich wieder zum Fenster und starrte hinaus. Ob sie ins Nahe starrte oder in die Ferne? Ich wusste es nicht. Irgendwie wurde ich aus dieser Frau nicht klug. Lange hörte ich keinen Ton, nicht einmal Atem aus ihrem offen stehenden Mund.
"Ich habe vor kurzem erfahren, dass mein ehemaliger Schulfreund starb. Er war ein ansehnlicher Junge in alten Zeiten. Wir waren in der letzten Klasse sogar ineinander verliebt. Dann musste er an die Front. Als ich ihn nach Jahren wiedertraf, waren unsere Gefühle füreinander erfroren. So sehr, dass wir kaum zu sprechen wagten. Ich habe es nicht ausgenutzt. Ich habe unser Wiedersehen einfach nicht ausgenutzt. Und danach schrieben wir uns nicht einmal Briefe. Jetzt ist er gestorben und ich vermisse ihn plötzlich
wieder, als wenn er noch einmal an die Front müsste. Doch dieses Mal ist es gewiss, dass er nicht zurückkehren wird. Er fehlt mir."
Mit Tränen in den Augen saß sie mir gegenüber und wartete auf meine Stellungnahme. ‚Was muss ich antworten?' fragte ich panisch in mich hinein. Sollte ich sie bemitleiden und trösten? Wollte sie, dass ich ihr rate, nun wenigstens die anderen Bekanntschaften zu pflegen und aus diesem Fehler zu lernen? Für ein Trösten kannte ich sie zu wenig. Ich wollte nicht nach ihrer Hand greifen oder sie in den Arm nehmen, wie ich es mit meiner Mutter getan hätte. Ich wollte sie aber auch nicht belehren und einen auf "Tja,
da haben sie Pech gehabt, so was muss man sich eher überlegen!" machen.
"Ich werde versuchen meine Schulfreunde später so oft wie möglich zu besuchen und ich werde ihnen schreiben und kein Klassentreffen verpassen." sagte ich schließlich.
Sie schaute mich an. Eine Träne floss über ihre Wange und tropfte auf ihren grauen Mantelkragen. Ein unabsichtliches Lächeln fuhr über ihre Lippen, die rau und mit vielen Fältchen umgeben waren. Sie versuchte die Tränen zu überspielen und Genugtuung auszudrücken.
"Ja, tun sie das. Sie werden nie wissen, wann es zu einem Ende kommt."
"Sagen sie ruhig Tim zu mir."
Ein weiterer Hauch von einem Lächeln fuhr über ihr Gesicht. Ich wollte vom Trauerspiel ablenken und auch sie tat nun alles daran aufzuhören, sich vor einem so jungen und lebensfrohen Mann, der bald mit offenem Mund am Triumphbogen stehen würde, auszuweinen. Ich schloss das Fenster, als sie mit einem leichten Kopfnicken darauf deutete.
"Tim?" fragte sie und wischte sich die letzten Tränen unter den Augen weg.
"Ja, Tim."
"Ein schöner Name."
"Danke."
"Warum hat sie ihre Mutter so genannt?"
"Weil ihr Tim gefallen hat, schätze ich."
Die alte Dame schaute mich erstaunt an.
"Wie, nur aus dem Gefallen heraus?"
"Ja, warum nicht?"
Wieder dieser ungläubige Blick. Sie war sich sicher, dass ich da noch mehr wissen musste.
"Ich habe einmal ein Comicheft über diesen Detektiv und seinen Hund in ihren alten Kindheitskartons, wie sie sie nennt, gefunden. Diesen Tim und Struppi, eine belgische Geschichte glaube ich. Und als ich einmal den Trickfilm sah, setzte sie sich begeistert neben mich und schaute alles mit an. Vielleicht haben ihr diese Geschichten als kleines Mädchen gefallen. Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie gefragt, warum sie mich Tim genannt hat. Ich war einfach zufrieden mit meinem Namen."
"Vielleicht sollten sie ihre Mutter einmal danach fragen und sich nicht einfach nur damit zufrieden geben."
Ich war verwirrt, versuchte aber trotzdem überzeugt zu wirken.
"Gut. Sobald ich wieder nach Hause komme, werde ich sie fragen."
Ich schaute wieder aus dem Fenster und wusste nicht, ob sie das Gleiche tat oder mich betrachtete.
"Paris ist eine schöne Stadt." sagte sie schließlich.
"Ja?"
"Aber leider viel zu hektisch und voll gestopft mit Reisenden."
"Sie waren doch selbst genug eine Reisende, wenn sie schon oft dort waren, wie können sie es dann bemängeln?"
"Weil andere Leute sich die Stadt nicht richtig ansehen. Sie fahren wegen dem Eiffelturm dort hin, dabei gehört der gerade mal seit etwas mehr als hundert Jahren zu dieser Stadt, das hat mit Paris kaum etwas zu tun. Und dann wollen alle Kinder nur nach Notre Dame, weil sie dort diese komische Disneyfigur vermuten. Ist das Paris, ist es das wert?"
"Ich weiß nicht?"
"Kaum jemand kennt Die wahre Geschichte von Paris. Die wahren Gefühle und Ereignisse, die hinter den alten Mauern der Häuser und Kirchen stecken. Ein unheimlicher Wert geht da jeden Tag verloren, bald ist Paris nur noch zum Einkaufen oder wie sagt man heute, zum Shopping, da."
Ich blickte auf den Boden. Vielleicht glaubte sie, dass ich mich schämen würde. Dabei hatte ich gar keinen Grund mich zu schämen, ich wunderte mich nur, ob ich nicht auch so achtlos durch Paris gehen würde.
"Was ist Die wahre Geschichte von Paris?"
"Paris ist die Stadt der Liebe. Man soll sich in Paris verlieben. Sie sollten mit ihrer Freundin nach Paris fahren."
"Ich habe keine Freundin."
"Deswegen ist es immer noch die Stadt der Liebe. Man kann ja auch sein Leben lieben. Verstehen sie, es ist eine Stadt zum Leben, zum Genießen."
Ich nickte zögerlich, auch wenn ich kaum verstand, was sie mir klarmachen wollte.
Plötzlich mussten wir beide lachen.
"Worüber lachen sie?" fragte ich.
"Worüber lachen sie denn, Tim?" stellte sie die Frage zurück.
"Kennen sie das, wenn man irgendwo hingeht und man weiß nicht, was einen erwartet?"
"Ja, das kenne ich genau."
"Ich meine etwas wirklich Fremdes. Etwas, worüber man kaum Bescheid weiß. Etwas, wozu man keinen Bezug hat."
Sie schaute mich an.
"Ich dachte gerade an Die wahre Geschichte von Paris, die sie da erwähnt haben. Ob ich Die wahre Geschichte von Paris erleben darf oder werde ich sogar ein Teil davon sein?"
Sie wusste keine Antwort und schaute mich nur weiter an.
"Ob mir dort geholfen wird, oder werde ich mir selbst helfen müssen?"
"Nun ja, ich glaube eher Letzteres." gab sie nüchtern zu.
"Ach?"
"Tim, wissen sie, ich stelle mir jeden Tag die gleichen Fragen." Sie schaute mir tief in die Augen. "Jeden Tag. Immer wieder. Wird mir jemand helfen, oder werde ich selbst klar kommen müssen? Werde ich an einen besseren Ort kommen und was erwartet mich dort? Etwas, worüber ich nichts weiß und wozu ich überhaupt keinen Bezug habe? Etwas völlig Unerwartetes und Unaufhaltsames?"
Ich ließ von ihren Augen ab, weil ich genau wusste, worauf sie hinauswollte, aber das wurde mir zuviel. Ich hätte nicht wieder damit anfangen sollen. Regen zog auf. Ein leichter Nebel schlich sich über die Hügel heran und wurde immer dichter. Die Landschaften waren nur noch schemenhaft zu erkennen. Kleine Tropfen hingen an der Außenseite des Fensters und wurden sogleich von größeren vertrieben. Ich lehnte meinen Kopf ganz nah an das vibrierende Glas und schaute nach oben. Aus einem Nichts heraus fielen unerschöpflich
Wasserperlen, und eine glich der anderen. Bevor ich dem Ganzen etwas Schönes abgewinnen konnte, zog ich meinen Kopf zurück und schaute nun wieder zu ihr hinüber.
"Das Interessante ist nur, dass alles was ich als Wegweiser für Paris mithabe, sich auf diese Adresse beschränkt. Das ist nichts! Gar nichts! Ich fühle mich wie vor einer Mathearbeit, zu der ich mich nicht im Geringsten vorbereitet habe."
Ich reichte ihr den zerknitterten Zettel, auf dem mit dünnen Bleistiftstrichen eine unleserliche Adresse gekritzelt war. Sie griff danach, überflog die drei Zeilen und gab mir den Zettel mit Kopfschütteln zurück.
"Das stimmt nicht Tim. Sie haben mehr als nur diese Adresse!"
Ich schaute sie fragend an.
"Sie wissen von Der wahren Geschichte von Paris. Das ist die beste Vorbereitung überhaupt."
Fragend unterbrach ich sie: "Aber ich kenne Die wahre Geschichte von Paris doch gar nicht?"
"Eben, und das ist doch das Gute."
‚???' jagte es mir durch den Kopf und sie sah es mir an.
"Ich weiß, dass ich nichts weiß." sagte sie gelassen.
"Aha?" Ich ließ mich in den Sitz fallen und schaute hinaus. Die Tropfen flossen in lang gezogenen Fäden an mir vorbei.
"Ich komme gleich wieder." Sie nahm ihre Handtasche, die bis jetzt neben ihr auf dem Sitz gelegen hatte und ging. Ich schaute ihr einen Moment nach, ehe ich mich wieder den Tropfen zuwandte.
Sie kam nicht zurück.
Frankfurt kam näher. Der Regen verzog sich. Zweimal hatte sie die Möglichkeit gehabt auszusteigen und zweimal hatte ich vergeblich versucht ihren grauen Mantel unter den hektisch wimmelnden Menschen auf dem Bahnsteig auszumachen. Vielleicht würde sie auch in Frankfurt aussteigen, sie wusste ja, wohin meine Reise führte. Bestimmt hatte sie sich ein anderes Abteil gesucht. Ich ging den Gang entlang und warf immer wieder einen Blick in die Abteile. Sie waren wirklich immer noch so leer, wie anfangs. Waren nicht
eben erst unzählige Reisende aus dem Zug ausgestiegen, sollten die alle hier gesessen haben? Irgendwie kam es mir vor, als ob jeder versuchte, sich mir zu entziehen. Noch nicht einmal ein Kartenkontrolleur wollte bis jetzt meinen Fahrschein sehen. Eine sympathische Frauenstimme kündigte "Frankfurt Hauptbahnhof" an. Ich rannte zurück in mein Abteil, kramte sämtliche Sachen zusammen; auch ihre Zeitung, die noch dalag und schaute hinaus. Die Landschaften waren verschwunden und hatten sich den riesigen
Wolkenkratzern, die nun an mir vorbeirasten, unterwürfig ergeben.
Cédric Amar
27 Rue Copernic
75116 Paris
Ich hatte die Adresse im Kopf. Meine Hände suchten die Taschen nach dem kleinen knittrigen Zettel ab. Hatte sie ihn mir zurückgegeben? Ich wühlte in meinem Portmonee, dorthin hatte ich ihn zurückgesteckt. Nun war er nicht wiederzufinden. Noch einmal ließ ich die Anschrift durch meine grauen Zellen wandern und plötzlich hatte ich Angst, alles zu vergessen. Schon immer konnte ich Cédrics Adresse auswendig. Wir waren uns während eines Sommers in einem fünfwöchigen Camp für Austauschschüler an der Nordsee begegnet.
Er konnte ausgesprochen gutes Englisch für einen eingebildeten Franzosen. So kam er mir anfangs vor. Im Laufe der Zeit, verstanden wir uns dann Tag für Tag besser. In der Schule hasste ich Englisch und Französisch gleichermaßen. Durch Cédric hatte ich im folgenden Schuljahr in beiden Fächern meine Vierer auf jeweils eine Zwei verbessert. Als wir damals in unsere Busse stiegen, um, jeder für sich, die Heimreise anzutreten, steckte mir meine Reiseleiterin ein kleines schnell gefaltetes Stück Papier zu. "Von
Cédric." In letzter Sekunde hatte er die Adresse aufgeschrieben, während er seine zittrigen Knie als Unterlage benutzte. Auf der gesamten Heimreise hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil nicht auch mir der Einfall gekommen war. Den nächsten Tag machte ich mich sofort daran, ihm zu schreiben und ich lernte seine Anschrift auswendig, weil ich erkannte, dass die dünnen Bleistiftstriche schon damals zu verschwinden drohten. Tatsächlich war der Zettel wenige Wochen später kaum noch zu gebrauchen. Die Buchstaben
waren verwischt und hatten sich auf nimmer Wiedersehen in den Knickfalten verloren. Was hatte ich also plötzlich für eine Sorge um diesen sinnlosen nichtsnutzigen Zettel?
Ich setzte langsam einen Fuß vor den anderen und stieg die kleine, soeben von selbst ausgefahrene Treppe hinab, schob meinen Koffer vor mir her, zurrte den Gürtel meines Rucksacks enger und kostete die warme Großstadtluft. Und schon hatte ich sie alle vergessen: die alte Frau, den Zettel, Cédric und beinahe auch meinen Anschlusszug. "Paris, Bahnsteig 17. Aber das müsste auch auf ihrer Karte stehen." Ich schnappte meinen Koffer und rannte los. Der Bahnangestellte schaute mir verwundert nach. Und wenn
ich nun keine Lust hatte meine Karte zu suchen, dachte ich gereizt, bis jetzt war noch keiner auf die Idee gekommen mich nach ihr zu fragen! Ich stürmte auf Bahnsteig 17 und stolperte in den Zug. Hinter mir zog sich die kleine Treppe ein und die Tür schloss sich mit einem energischen Klicken. Mein Gepäck verstaute ich in einem leeren Abteil über dem Fensterplatz und machte mich auf den Weg zum Speisewagen. Ein junger Mann, vielleicht Mitte zwanzig, mit weißem Hemd und einer lächerlich wirkenden Fliege, wies mich
zu einem Tisch mit gelben Blumen. Ich setzte mich und spielte mit der Menage und dem glänzenden Besteck. Unter einer Serviette lag ein Brief. Ich schaute um mich, der Kellner war verschwunden. Langsam zog ich den Brief hervor und hinterließ ölige Fingerabdrücke auf dem Kuvert. Die wahre Geschichte von Paris war mit blauer Tinte darauf geschrieben.
"Sie war hier!" sagte ich erstaunt.
"Wer?"
Der Kellner stand mit wedelnder Speisekarte neben mir und neigte seinen Kopf, um die blaue Schrift zu lesen. Ich schaute zu ihm auf. Er nickte zufrieden.
"Er ist umgezogen. Machen sie den Brief auf, es steht drin!"
Mit diesen Worten kehrte er mir den Rücken zu und verschwand mit der wedelnden Speisekarte am anderen Ende des Waggons. Ich ging zurück in mein Abteil.
´ Cédric ist umgezogen. Er hat ihnen das nicht geschrieben. Er hat mich gebeten, es ihnen zu sagen. Ich kam nicht dazu, deswegen der Brief. Tim, machen sie sich keine Sorgen, sie werden ihn finden und fragen sie einmal nach seinem Deutsch, ich glaube er vernachlässigt es zu sehr. Alles Gute, Tereza Amar.`
Cédric konnte Deutsch? Davon hatte er nie etwas gesagt. Ich faltete das Papier, steckte es in den Umschlag zurück und brachte den Brief wieder in den Speisewagen. Der Kellner war nicht aufzufinden. Ich hob die Serviette, ließ den Brief darunter verschwinden und machte mich davon.
Am Bahnhof in Paris stand Cédric genau dort, wo die Tür sich öffnete und die kleine Treppe sich von selbst ausfuhr. An seiner Hand hielt er ein hübsches dunkelhaariges Mädchen. Sie passten gut zusammen. Cédric hatte sich kaum verändert. Auf seinem schmalen Gesicht zeigte sich immer noch das spitzbübische Lächeln von damals und seine Haare klemmte er nach wie vor hinter die Ohren.
"Willkommen in Paris." Er empfing mich mit einem festen Handdruck.
"Du kannst ja Deutsch?" tat ich erstaunt und warf einen Blick auf das dunkelhaarige Mädchen an seiner Seite.
"Darf ich dir Tereza vorstellen."
Ich machte große Augen.
"Du hast eine Schwester?" Ich schaute sie fragend an. "Tereza Amar?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Tereza Canet, meine Freundin." sagte Cédric und nahm mir den Koffer ab.
Mit perfektem britischem Akzent lief er voraus: "Come on, mom is waiting, she is getting excited seeing you."
"Seid ihr umgezogen?"
"Not at all!"
Ich bekam eine leise Ahnung und ein Lächeln lebte in mir auf.
"Du kennst nicht zufällig Die wahre Geschichte von Paris?"
"Was?"
"The true story of Paris."
"Ich hab dich schon verstanden, welche wahre Geschichte von Paris?"
"Ist schon okay."
Ich grinste, legte einen Arm um Cédric, den anderen um Tereza und gemeinsam sahen wir dem Zug hinterher, mit dem ich gekommen war.
"Was hast du eigentlich vor, Cédric? Doch nicht etwa Eiffelturm, Notre Dame und Shopping!"
Er winkte ab, Tereza lachte und es erinnerte mich irgendwie an das Leben.
Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.