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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Visitenkarte

© De Ginder


Die volle Blase weckte mich wie jeden Tag, da musste ich keinen Wecker stellen - dabei hatte ich ja gar keinen Wecker. Hinter der verdreckten Glasscheibe des Toilettenfensters tummelten sich ein paar Sonnenstrahlen. Wenn da nicht dieses Zittern, diese Unruhe und diese verdammten Stimmen gewesen wären, wäre es der richtige Tag gewesen, um ein Picknick zu machen. Hinten auf dem Fahrrad der Picknickkorb, hinaus in die Natur, an einen See vielleicht und sich hinfläzen wo es einem gefällt. Rippchen oder Hähnchen futtern und Schampus saufen. "Schampus saufen", hörte ich und drehte mich um, doch niemand war zu sehen. "Und ne Flasche Korn", sagte eine andere, etwas ältere Stimme. Verwundert drehte ich mich im Kreis, aber niemand war zu sehen - die Stimmen waren wieder da.
Das Zittern wurde immer schlimmer - ich zog mich an. Ich wühlte in meinen Hosentaschen und holte einen verkrumpelten Zehner heraus. Ich atmete auf. Nichts wie raus hier, dachte ich. Unten im Hof suchte ich mein Fahrrad, das ich gestern im Fahrradschuppen eingeschlossen hatte, so meinte ich jedenfalls. Aber weder Schloss noch Fahrrad waren auffindbar. So machte ich mich zu Fuß auf den Weg. "Beeil dich!", sagte eine junge Stimme und die ältere fügte hinzu: "Beil dich, die machen gleich zu". Meine Schritte wurden schneller, womöglich machten die wirklich gleich zu. Ich hatte keine Ahnung wie spät es war, meine Uhr war im Pfandhaus und den Pfandschein hatte ich im Suff für ein Bier und einen Kurzen hergegeben. Dreimal um die Ecke kam ich am Kiosk an. Die Alte hinter dem Schiebefenster mit der schiefen Kippe im Mund machte ein mürrisches Gesicht, so als bräuchte sie nichts zu verkaufen, dabei lebte sie doch von Menschen wie mir. Widerwillig zog sie das Fenster auf und fing an mich anzubaffen: "Wenn du kein Geld hast, Karl, dann hau gleich wieder ab!" - Stumm sah ich sie an. Diese blöde Ziege wusste nicht, dass ich nen Zehner hatte. "Streck der blöden Kuh die Zunge raus!", hörte ich die eine Stimme sagen, und "Stinkefinger, Karl". Die Stimme hatte Recht, diese Gewitterhexe bekam meinen Zehner nicht. "Aber zeig ihr den Zehner, wenn du die Zunge rausstreckt und den Stinkefinger zeigst", sagte die andere Stimme. Das machte ich dann auch und die Alte fluchte irgendwas und knallte die Scheibe zu. Ich musste lachen und meine Stimmen lachten lauthals mit mir, als würden sie neben mir stehen. War ich bekloppt oder so was? Ich sollte mal zum Arzt gehen, irgendetwas stimmte nicht mit mir, war mein Gedanke. Aber erst mal zum Aldi. "Aldi, Aldi, Aldi", feuerten mich die Stimmen an.
Der Weg zur Filiale des Aldi in der Glauburgstraße im Nordend war nicht weit und nach dem dritten Schluck hörte das Zittern auf und ich wurde ruhiger. "Hmm, das war gut", sagte die ältere Stimme und die Jüngere forderte: "Noch ein Schluck, Karl, hau rein". Und so haute ich rein, die halbe Flasche. Irgendjemand rülpste, ich war es nicht.
Ich hatte viel Zeit und so schlenderte ich mit meiner Alditüte zum Bethmann-Park, eine kleine Oase mitten in der City von Frankfurt. Ein japanischer Garten war das, wunderschön angelegt von diesem Banker Bethmann, aber ob der noch lebte, wusste ich nicht. Was ich wusste war, dass hier die Schachspieler zu finden waren. Bevor ich den Park betrat nahm ich noch einen tiefen Schluck, dann ging ich zielstrebig zum Freilandschach. Kein Mensch war da. War heute Feiertag, fragte ich mich. Ich setzte mich auf eine Bank und wartete. Ein weiterer Schluck wärmte mich, es war kühl diesen Morgen, oder war es schon dem Abend zu? Nein, es war bestimmt Morgen. Ich hatte jede Orientierung verloren. "Komm, wir machen ein Spielchen", sagte jemand zu mir. Ich drehte den Hals, doch niemand war da. "Komm, du Feigling, wir machen eine Partie", sagte die Stimme wieder. Da war also noch eine dritte Stimme, die mit mir sprach. Ich baute die Figuren auf. Zwei der vier Springer hatten ihre Pferdenase verloren und dem schwarzen König fehlte ein Teil seiner Krone. Ich zog einen weißen Bauern und eine Stimme sagte "Springer nach f6". Jetzt pendelte ich zwischen den weißen und schwarzen Figuren hin und her, zog einmal für mich und einmal für meinen imaginären Gegner. Er spielte gut, sehr gut. Mittlerweile trudelten die ersten Zaungäste ein. "He Karl, wetten, dass du gewinnst, wenn du gegen dich selbst spielst!", und dabei grinsten sie und einer machte eine Wischerbewegung mit der Hand über die Stirn. Unbeirrt spielte ich mein Spiel weiter. Die anderen wurden unruhig, wollten auch mal spielen. "Matt in drei Zügen", sagte die Stimme. Ich schaute auf die Spielfläche, konnte aber kein Matt erkennen. "Matt in drei Zügen", sagte ich zu den Umstehenden, "wer findet es?". Neugierig schauten sie drein, aber keiner fand eine Lösung. Nach einer Weile sollte ich ihnen das Matt zeigen, aber die Stimme sagte nix mehr. "Verdammt!", sagte ich lauthals. Die anderen fingen an zu lachen. "Spinner", hörte ich einen sagen, geht ja gar nicht. Ich räumte das Feld und setzte mich auf die Bank neben dem Spielfeld. Diese verdammte Stimme, dachte ich, will mich wohl verarschen. Sie blieb stumm. Ich nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, die sich langsam aber sicher leerte. Ich kramte noch einmal in meinen Hosentaschen, aber kein weiterer Zehner war zu finden, nur das Wechselgeld vom Aldi. Mein Magen knurrte und ich machte mich auf, um etwas Essbares zu suchen. So marschierte ich zielstrebig Richtung Konstabler Wache und Zeil.
Dort angekommen kaufte ich mir bei so einem Bratwurststand ein Bratwurstbrötchen mit Senf. "Satt?", fragte mich jemand. "Ja", antwortete ich instinktiv. Wieder war es eine der Stimmen, die mich gefragt hatte. Redete ich mit mir selbst? Wurden meine Gedanken zur Akustik? Ich wusste es nicht - ich sollte mal zum Arzt gehen, dachte ich. Ich hatte eh nix vor und so ging ich in die Reineckstraße, da war ich schon mal gewesen, als ich mir im Suff den Schädel aufgeschlagen hatte. Es war gar nicht weit bis dahin, denn es war eine Parallelstraße zur Zeil. "Was willste dann beim Doc?", hörte ich fragen und "bist doch kerngesund, Junge." Die Stimmen quasselten wild durcheinander, wie ich die Tür zur Praxis öffnete. Es war kaum zum Aushalten. "Schnauze!", brüllte ich laut. Die Sprechstundenhilfe schaute mich entgeistert an. Die Patienten, die im Flut saßen drehten die Hälse. "Tschuldigung", sagte ich zu dem Mädchen, "ich muss mal den Doc sprechen". "Darf ich mal Ihr Kärtchen haben!" Die Kleine schaute mich eindringlich an. "Was für ein Kärtchen?", fragte ich. "Na Ihr Krankenkassenkärtchen", sagte sie. "Oh, scheiße, das hab ich nicht dabei", entschuldigend hob ich die Achseln. Keine Ahnung wo das Ding gelandet war, es musste irgendwo zu Hause rumliegen. "Waren Sie schon mal bei uns?", fragte mich die Sprechstundenhilfe. "Ja, Frau Krankenschwester, ich war schon mal bei Ihnen. Iss aber schon ne Weile her." "Wie ist denn Ihr Name?", löcherte sie mich. "Karl", sagte ich. Sie schaute mich ungläubig an, dann schnallte ich es: "Karl Kleinschmitt, mit Doppel-T." Sie kramte erst in der einen Schublade mit Hängeordnern, dann in einer anderen. "Da haben wir Sie ja", sagte sie und fuhr dann fort: "Ja dann bekomme ich 10 Euro von Ihnen." Peng! 10 Euro hatte ich doch gar nicht. "Wofür denn 10 Euro?", wollte ich wissen. "Nach der neuen Gesundheitsreform sind bei einem Arztbesuch pro Quartal 10 Euro fällig, oder haben Sie die 10 Euro vielleicht schon bei einem anderen Arzt bezahlt?". So ein Quark dachte ich. " Nee, hab ich nicht". Das war doch keine so gute Idee gewesen mit dem Arztbesuch. "Haun wir ab", sagte eine Stimme und eine andere fügte hinzu: "Nix wie raus hier!". Es war mir etwas peinlich und mit einem "Ich komm später noch mal" verdrückte ich mich. Die Blicke der Wartenden begleiteten mich hinaus. Im Hausflur leerte ich den Rest der Flasche Korn, die Flasche stellte ich in eine Ecke, die Tüte packte ich ein. Ich ging zur Zeil zurück. Etwa in der Mitte der ewig langen Zeil befindet sich so ein Springbrunnen. Da konnte man sich schön hinsetzen, die Leute beobachten und mit anderen Schnapsnasen plaudern. Da waren immer so ein paar Penner, die kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Ich hatte ja noch eine Bude. Auch wenn das Sozi-Amt die Miete bezahlte, aber eine eigene Bude hatte ich schon noch. Und ich achtete auch peinlich genau drauf diese Miete vom Sozi nicht zu versaufen, denn die Bude wollte ich auf keinen Fall verlieren, denn dann wäre ich so wie die hier gewesen, heimatlose Penner, die wie Ratten in Löchern hausten. Gut, ich geb's ja zu, einen Monat war ich schon im Rückstand mit der Miete, aber nur einen, ehrlich.
Das Scheiss-Gelaber hier kotzte mich an und ich marschierte Richtung Altstadt. Am Römer setzte ich mich wieder. Ich döste vor mich hin. Ich hatte weder Kohle noch ne Pulle, was wenn das Zittern wieder kommen würde? Die Stütze gab's erst in ein paar Tagen. Geschäftig hasteten die Menschen an mir vorbei. Japanische Touristen machten Fotos. Rentner tankten die Junisonne. Ich war zwar kein Rentner, aber ich hatte genauso viel Zeit wie die. Wenn's meine alte Firma noch geben würde, dann würde ich nicht hier sitzen, dachte ich, dann würde ich jetzt mit dem Gabelstapler Fertigteile auf LKW´s laden. Aber meinen Gabelstapler fuhr jetzt irgend so ein Tscheche oder Koreaner oder was weiß ich wer und in welchem Land. Wir waren zu teuer, ham sie uns gesagt, dabei verdiente ich nur Acht-Euro-Fünfzig die Stunde.
"Durst!" - die Stimme weckte mich aus meinen Erinnerungen. "Gibt's denn hier nix zu saufen?" fragte die andere, die jüngere Stimme. Noch einmal durchwühlte ich alle Taschen, aber nicht mal ein Knopf war zu finden. Mit den wenigen Gehirnzellen, die mir noch nicht abgestorben waren, versuchte ich zu überlegen. "Was überlegst du so lange, Alter? Steh auf, ich zeig dir wo es Kohle gibt!" Die Stimme in meinem Kopf dirigierte mich. Ich war gespannt was sie mir zeigen würde. Es ging hinunter zum Eisernen Steg und rüber über den Main nach Sachsenhausen. Am Mainufer war Flohmarkt und jetzt wusste ich auch, was für einen Wochentag wir hatten: Es war Samstag, denn der Flohmarkt am Sachenhäuser Mainufer fand nur samstags statt. Hier hatte ich auch mal einen Stand, ein einziges Mal. Da hatte ich ein paar Sachen aus meiner Bude flüssig gemacht und Russen hatten mir einen Ring geklaut, den von meiner Oma, den ich geerbt hatte. "He, Alter, haste jetzt kapiert?", fragte mich die ältere Stimme. "Was?", fragte ich zurück. "Na, was die Russen können, kannst du doch schon lange!", kicherte die Stimme. Mein Lebtag hatte ich noch nix geklaut und ich hatte auch nicht vor zum Dieb zu werden. "Auf, Alter, die Gelegenheit ist günstig, schau dich doch mal um". Ich schaute mich um. Jede Menge alter Klamotten, neue Billigklamotten aus Korea oder sonst wo her, Schmuck, Münzen, alte Töpfe und neue, Bücher und Schallplatten. "Münzen, mein Lieber!", die Stimme dirigierte mich zu einem Stand. Doch die scheinbar wertvolleren Münzen waren sicher unter einem Glaskasten verwahrt. Und ich hatte auch gar nicht die Absicht hier zuzugreifen. "Auf mach schon, du Saftarsch", die Stimme klang ärgerlich. "wozu hab ich dich denn hierher geführt?". Die Menge scharte sich um den Münzstand. Ein Kunde begutachtete eine Münze. Plötzlich rannte der los und der Münzhändler hinterher. Darauf hatten seine Kumpane nur gewartet und griffen flink unter den Glaskasten und zack weg waren sie. Nur ich stand noch immer vor dem Stand und rührte mich nicht. "Jetzt aber zackig", trieb mich die Stimme an, "die Gelegenheit kommt nie wieder." Doch ich konnte nicht. Ich war, auch wenn mir der Glaube gänzlich abgängig war, getauft und christlich erzogen worden. Du sollst nicht stehlen, so hieß doch das fünfte Gebot, oder war es das sechste? Während ich mich umdrehte und zurück zum Eisernen Steg ging, hörte ich den Händler fluchen, der den jungen Burschen nicht erwischen konnte. Was wird der erst fluchen, dachte ich, wenn der merkt, dass die seine Vitrine leergeräumt haben. "Feigling, Feigling", witzelten die Stimmen, es waren wieder mehrere, "wie sollen wir jetzt was zum Saufen kriegen?", fragten sie mich. Ich ging wieder hinüber in die Altstadt. In den schmalen Fußgängergassen wirbelten die Menschen durcheinander. Drüben stand die Heilsarmee in ihren blauen Uniformen und sang sich die Kehlen wund. Penner saßen in ihren dreckigen Klamotten auf dem Boden und warteten auf mildtätige Gaben. "Dann hock dich halt auch hin, du Penner!", sagte eine der Stimmen, und eine andere fügte hinzu: "Wird dir jetzt nix anderes übrigbleiben, du Penner". Langsam kam ich mir wirklich wie ein Penner vor, nix mehr druff uff de Press, wie die Hessen sagen, wenn einer pleite ist. Ich fingerte einen Plastikbecher aus einem Mülleimer und machte mich auf zum Paulsplatz. Vor der Paulskirche hockte ich mich hin, stellte den Becher vor meine Füße, legte den Kopf auf die Brust und döste so vor mich hin, dann nickte ich ein. Unsanft geweckt wurde ich, als ein Stiefel meinen Knöchel traf. Ein höllischer Schmerz war das. Ich schlug die Augen auf und schrie "Verdammt, was soll das?" Vor mir vier Beine, die zu zwei Glatzen gehörten: "Arbeitsfaules Pack", sagte der eine und der andere fügte hinzu: "Die Gaskammern wurden zu früh zugemacht". Die Köpfe der beiden verdeckten teilweise die Sonne und ich konnte ihre Gesichter nicht genau ausmachen, aber Glatzen waren es. "Seid wann wird samstags gearbeitet?", fragte mich eine meiner Stimmen. "Seid wann wird samstags gearbeitet?", fragte ich die beiden. Sie legten eine halbe Gedenkminute ein, dann trat einer der beiden gegen meinen Plastikbecher, so dass ein paar Münzen umhersprangen, sie hauten ab, diese Kerle mit den Springerstiefeln. Rasch rappelte ich mich hoch und so weh mir auch mein Knöchel tat, so sammelte ich doch schnell die paar Münzen ein, die sich während meines kurzen oder auch längeren Schlafes gesammelt hatten. 3 Euro und 15 Cent waren es. Besser wie nichts, dachte ich. Ich säckelte die Münzen ein und stellte den leeren Becher wieder vor mich und ließ mir dir Sonne auf den Pelz brennen. Ich beobachtete die Menschen, die Touristen und die Mütterchen, wie sie an mir vorbei gingen, um ins Innere der Kirche zu gelangen. Verächtliche Blicke waren dabei und solche, die meinen Augen auswichen. Dann verdunkelte sich die Sonne schon wieder. Wieder stand jemand vor mir. Ein junger Mann griff in seine Jackeninnentasche und holte ein Kärtchen heraus. Er warf es in den Becher und sagte: "Wenn du mal Hilfe brauchst, ruf mich einfach an!" Dann verschwand er so schnell wie er gekommen war. Ich fingerte das Kärtchen heraus. Und auf dem stand JESUS. Ich drehte das Kärtchen um, aber da stand gar nix. "Idiot", dachte ich, "hast ja nicht mal deine Telefonnummer draufdrucken lassen." Ein 5 Euro-Schein wäre mir in dem Augenblick lieber gewesen, als so ein Jesus auf einem Kärtchen. Wohl wusste ich, um wen es sich handelte bei diesem Jesus, von meiner christlichen Erziehung her, aber der blieb für mich nur eine Figur in der Geschichte. Ich steckte das Kärtchen weg. "Du musst die Leute anlabern", sagte die junge Stimme von vorhin zu mir und die ältere fügte hinzu "sitz hier nicht dumm rum, mach sie an!" Ich stand vorsichtig auf und humpelte ein paar Schritte näher an die Eingangstür, hielt den Besuchern meinen Becher hin. Achtlos gingen sie hinein, die meisten, nicht alle - ich meine, sie gingen schon alle hinein in die Kirche, aber die meisten gaben mir nichts. Plötzlich packte mich eine Hand am Ärmel. Ich drehte mich um, sah gerade noch einen Glatzkopf und dann spürte ich auch schon einen Schlag in der Magengegend, Ich sackte zusammen. Die zwei Kerle von vorhin waren zurückgekommen. "Du bist ja immer noch hier", sagte einer der beiden, dann bekam ich einen Tritt. Sie traktierten mich mit weiteren Fußtritten. Ich schrie vor Schmerzen und in meiner Not rief ich "Jesus, hilf mir". - "Aufhören! Sofort aufhören!" - Eine fremde Stimme, eine menschliche, ging dazwischen und die Kerle ließen ab von mir und verschwanden. Mir tat alles weh, der Bauch, der Knöchel, der Oberarm, ein Backenknochen. Die Stimme entpuppte sich als Priester, jedenfalls erkannte ich das an dem Kollarhemd, das er anhatte, so ein schwarzes Hemd, mit einem weißen kleinen Teil oben in der Mitte. Ich setzte mich auf meine vier Buchstaben. "Geht's?", fragte er mich. "Geht schon", sagte ich. Er reichte mir ein Taschentuch und dabei deutete er auf mein Gesicht. Blut lief mir die Backe herunter. Ich legte das Tuch auf eine Wunde am Jochbein, dann stellte ich mich auf die Füße. "Komm, Bruder", sagte er zu mir, "Du hast nach Jesus gerufen, jetzt wird dir auch geholfen werden". Er führte mich in ein Pfarrhaus, jedenfalls nahm ich an, dass es ein solches war. Dort wusch ich mein Gesicht und bekam ein Pflaster verpasst. So wie es aussah war nichts gebrochen. Aber meine Hände fingen an zu zittern, ich brauchte Stoff. Das bemerkte auch der Priester. "Hast du ein Alkoholproblem?", fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf: " Kein Problem, sind nur die Nerven." Er holte aus einem Schrank eine Flasche Wein und zwei Gläser heraus und schenkte ein. Ich trank das Glas in einem Zug. Das Zittern verschwand, aber mein Gegenüber verstand, dass ich doch ein Problem hatte. Er fing an von Jesus zu erzählen und dass er Menschen benutze, um Menschen zu helfen. Er gewann mein Vertrauen und ich erzählte ihm einen Teil meiner Lebensgeschichte. Er fragte mich schließlich, ob ich eine Therapie machen wolle. Sicher wollte ich das, nur wie? Der Priester führte ein Telefongespräch, dann versprach er, sich bei mir zu melden, meine Adresse hatte er von mir bekommen. Er entschuldigte sich, denn er hatte noch wichtige Termine, und so stapfte ich von dannen. In der Stadt traf ich zufällig einen alten Kumpel, der mir 20 Euro lieh, weil ich ihm versprach, die am Montag, wenn ich meine Stütze hätte, gleich zurückzuzahlen. Die Stimmen meldeten sich wieder, denn sie wussten, jetzt gab es was zu saufen. Aber irgendwie, als ich diese Visitenkarte in meiner Jacke griff, sie rausholte und laut "Jesus" sagte, verstummten die Stimmen. Natürlich ließ ich mich voll laufen und torkelte so langsam heim, aber sobald eine dieser frechen Stimmen ansetzte was zu sagen, sagte ich "Jesus" und zack war Ruhe im Busch. Das funktionierte hervorragend.
Ein paar Tage später, ich kam gerade vom Einkauf und verstaute ein paar Flaschen Hochprozenter im Kühlschrank, klingelte es an der Tür. Der Priester war es und notgedrungen musste ich ihn hereinlassen, denn es war mir sichtlich peinlich, wie unordentlich es bei mir aussah. Mich störte es ja nicht, aber Fremden musste es schon auffallen, wie meine Wohnung "eingerichtet" war. "Ist bei dir eingebrochen worden?", fragte mich der Priester. Ich blickte mich um. Es sah wirklich so aus, als ob jemand meine Schränke durchwühlt hätte und alle Sachen auf den Boden geschmissen worden wären. Ich wurde verlegen. Der Priester wartete nicht lange auf eine Antwort und sagte: "Ich habe eine Stelle für eine Entziehungskur für dich." Dann wollte er wissen, ob mir die Sache mit der Kur ernst sei, und es war mir ernst. Er gab mir einen Zettel mit einer Adresse, bei der ich mich in drei Tagen melden sollte. Bevor er sich verabschiedete, drückte er mir eine Bibel in die Hand. Drei Tage waren ausreichend, um die Vorräte, die ich mir gerade gekauft hatte, aufzubrauchen, denn es sollte nichts zurückbleiben. Und immer, wenn sich eine Stimme in meinem Kopf meldete, sagte ich nur "Jesus" und Ruhe war. Auch bei der Therapie, die ich tatsächlich machte, versuchten sich die Stimmen mitunter zu melden, aber mein "Jesus" verscheuchte sie und je länger die Kur dauerte, desto seltener wurden ihre Versuche mich anzuquatschen. Dafür bekam ich von meinen Mitkumpanen den Spitznamen Jesus, weil ich den Namen ab und zu aussprach. Das machte mir aber nichts weiter aus, damit konnte ich leben. Ich las und lese immer öfter in der Bibel, wobei mir die Visitenkarte mit dem Wort JESUS als Lesezeichen dient. Ich hab mein Leben wieder in den Griff bekommen und bin bis auf den heutigen Tag trocken geblieben, sonst hätte ich diese Geschichte hier nicht aufschreiben können.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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