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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Bubers Albtraum
© Olaf Weyer
Professor Unlot vom Institut für Desintegrative Zahlenforschung in Augsburg, wehte mir voraus über die Treppe. Zwei Stufen, auch mal drei nehmend, versuchte ich es ihm gleich zu tun. Das blasse Neon brannte mir in den nachtgewöhnten Augen und etwas Vorsicht war schon geboten, denn der Regen war nicht eben sparsam auf meine Schuhe geprasselt. So warf das Quietschen meiner Sohlen auf dem farblosen Linoleum eine solch eigenartige Stimmung auf das atemlose Gesicht meines Professors, dass ich für eine nicht mehr festzumachende
Weile in meinen Wagen zurückversetzt war, in dem ich eben noch besorgt zum Institut eilte. Gewiss, ich redete mir ein, dass es allein die Neugier war, die mich hierher trieb, die Neugier allein und nichts sonst, die der gehetzte Anruf des Professors in mich gepflanzt hatte, und die nun wucherte und wuchertet wie ein wildes Unkraut. Tatsächlich schien es mir nun, als würde die Nähe des Professors, der sich mir durch seine riesigen Schritte immer weiter entzog, als würde diese Nähe mit feinsten Schlingpflanzen
in jede Faser meines Herzens greifen, ohne dass ich sagen konnte, ob sie mir das Blut abschnüren oder mich vorantreiben wollte. Und doch, es war keine Neugier, eher eine leise, stille Angst, die mich vorwärts scheuchte. So sehr ich auch um den Verstand des Professors bangte - der Anruf hatte genügend Anlass dazu gegeben und war nur Höhepunkt einer Kette von Unbennenbarem - spürte ich doch, dass meine Furcht eine viel größere war. Aber nicht etwa so, wie vielleicht nun mein Schatten an der Wand auf Schritt und
Tritt nicht von mir ablassen wollte, war dieses warnende Nagen, es war, als ob es mir nur indirekt galt, so wie wenn dieser Schatten einem anderen gehört hätte, einem beliebigen, einem jeden und doch niemanden. Ja, man hätte mir in dieser Sekunde meinen Schatten wegreißen können und es wäre ohne Bedeutung gewesen, hätte ich nicht gewusst, dass dieses einen jeden Menschen, den Menschen als Gattung, die ganze Menschheit betreffen würde. Der Professor schien mir die Gedanken vom Gesicht abzulesen und warf mir ein
gehetztes Lächeln zu, das unmissverständlich zu sagen schien, dass ich ganz recht hätte, dass das, was ihm widerfahren sei und nun gleich mir widerfahren würde angesichts unserer Wenigkeit unbedeutend wäre, wenn es nicht an den fundamentalsten Grenzen rührte, die einen jeden betreffen. Ja, das Lächeln, das gehetzte Lächeln war eindeutig, denn dieses Verbindende, dieses uns-zum-Menschen-machen, es schien nivelliert und diese Nivellierung war noch nicht zu Ende gebracht, hatte uns erst ihren ersten Schlag versetzt
und kroch immer weiter, wie Wellen auf einem Wasser, in das man einen Stein geworfen hatte. Der Professor musst diesen Steinflug geahnt haben, seit Wochen, ja Monaten, und als derjenige der ihm in diesem Teich der Menschheit am nächsten war, würde ich als nächstes von den Wogen, die zwar sanft, aber doch unerbittlich waren, bekrochen werden. Plötzlich wurde ich gewahr, dass wir nicht mehr liefen, ja, dass wir standen, standen in jenem Raum, vor dessen Betreten der Professor mich die vergangenen Monate gehindert
hatte. Immer wieder hatte ich protestieren wollen, hätte ich nicht gespürt, dass der Professor mich nur schützen wollte. Nun standen wir hier, der Professor hatte seinen Schutz aufgekündigt, ich blickte genau ins Angesicht des bislang Unbekannten und begriff sofort. Nein, nicht gleich sofort, denn zuerst war mir, als wüsste ich weshalb der Professor mich eingeweiht hatte, war mir, als ob ER es nun war, der meinen Schutz wollte. Aber nein, vor dem hier, vor diesem Etwas, gab es keinen Schutz, so wenig wie der
Schatten sich vor brennendem Licht zu schützen verstand. Nein, der Professor hatte aus der puren Verzweiflung gehandelt und dieses Etwas, so grauenhaft es auch seine Leere nun in mir verbreitete, vermochte für den Bruchteil einer Sekunde, die fundamentalste Nähe zu diesem Professor empfinden machen, zu dem Professor als Menschen, zu ihm als das, was uns ungeahnt gemein sein lässt, über alle Unterschiede und Barrieren hinweg. Aber das Etwas vor uns, ich spürte es gleich, die Besegelung mit ihm, ließ dieses Gemeinsein
für alle Zeiten erlöschen. Meine Augen fielen in die des Professors und eine Erwartung sagte mir, dass ich zornig darüber sein würde, was er mir mit der Offenbarung angetan hatte, doch nichts dergleichen. Die Rechnung auf der Tafel griff tiefer in mein Herz als es die Schlingpflanzen vermocht hatten und mit dem Verlust war selbst der Zorn nur Hülse ohne Frucht und schließlich selbst verloren. Ja, selbst schon das Lächeln, das ich vorhin noch beim Professor gesehen hatte, offenbarte sich mir als reine Physiognomie,
reine Mechanik des Körpers, ohne jeden menschlichen Inhalt, den nur ich dahinein projiziert hatte. Dagegen die Rechnung auf der Tafel war unwiderruflich, sie atomisierte mich, spaltete das unspaltbare und machte nicht nur die Erinnerung jedweden Zusammenhangs zunichte. Die Rechnung war eindeutig, so sehr, dass sie bei mir schon durch die tägliche Begegnung mit dem früheren Professor gewirkt haben musst. Zwei leere, bezugslose Nichts standen davor. Ein Arm, ausgestreckt, ein Hörer, umschlossen, die Nummer, irgendwer.
Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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