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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Ich bin so geworden
© Elisabeth Klar
Ich bin so geworden, wie ich bin, aber nicht aus denselben Gründen wie die Anderen. Zu glauben, dass ich mich derart verändert habe wegen der Macht oder des Rausches oder der Angst, hieße mich miss zu verstehen. Nein, das waren die Gründe der Anderen, ich habe mich ihnen angeschlossen, aber ich war ihnen immer fremd, wir haben uns nie verstanden. Was ist es, was ich geworden bin? Vielleicht, ich sage einmal, die Welt ist eine Höhle. An der Decke klammern sich Fledermäuse an, nur ohne Flügel, na ja, Mäuse eben.
Der Boden ist weit entfernt, hart und scharf, den Fall überlebt man nicht. Aber jede der Mäuse wird fallen. Irgendwann werden sie zu müde, oder ein Sturm fegt durch die Felsen, oder sie beißen sich gegenseitig die Füße ab. Am Schluss kommt immer der Fall, der Schrei und am Boden der Tod. Ich bin eine Flattermaus geworden, eine Maus mit Flügeln, eine Fledermaus eben. Aber nicht aus Angst vor dem Tod. Im Gegenteil, es ist die Liebe zum Tod, dass Interesse an ihm, das mich zu meiner Verwandlung geführt hat. Wenn
wir uns an der Decke festklammern, erfahren wir nichts von ihm, und eigentlich auch nicht, wenn wir uns fallen lassen. Wie bei einer Frucht, die am Boden zerplatzt, geht das so schnell, dass wir nur das Ergebnis sehen können, das Zerplatzen selbst entwischt uns, immer wieder. Lässt man sich aber Flügel wachsen, kann man hinunter gleiten, sich niederlassen, den kalten Stein unter sich spüren. Man kann ihn erkunden, analysieren, aufsteigen zur Decke, im Sturzflug sich fallen lassen, sich wieder fangen. Man kann
ihn genießen.
Wir Fledermäuse meiden das Licht. Wir meiden es nicht, weil es uns schadet, das tut es nicht, denn ob hell oder dunkel, sehen können wir ohnehin nichts, denn wir sind blind. Stattdessen haben wir andere Sinne, die das Auge vollständig ersetzen. Die Flügellosen, die sehen können, sind stattdessen im Dunkeln hilflos. Ich locke die Menschen in jene Gefilde, die unsicher und nebelig sind, in denen nicht nur meine, sondern auch ihre normale Sicht der Dinge versagt. Im Gegensatz zu ihnen habe ich aber gelernt damit
umzugehen, ich sehe die Welt anders.
Ja, die Wahrnehmung verändert sich. Wie schwangere Frauen öfter schwangere Frauen bemerken, so nehme ich die Gewalt wahr, überall, weil sie so sehr mit mir einhergeht. Ich denke nicht einmal ein besonders heraus stechender Störfaktor zu sein, ich bin ein kleines Element der allgegenwärtigen Gewalt, eigentlich harmlos sogar. Ich muss töten und am Leben, besonders am Tod der Opfer teilhaben, nicht quälen. Was ist Schmerz für mich von Interesse, was bringt es an Erkenntnisgewinn für meine Fragestellung? Die Menschen
aber haben etwas, das sie loswerden wollen. Ihre Angst und ihren Schmerz soll ein Anderer nehmen. Das ist der Grund, aus dem sie mich von all den Gewalttätigen am meisten hassen, obwohl ich längst nicht am gewalttätigsten bin. Aber genau genommen, wie könnte es auch anders sein, wo ich, im Gegensatz zu ihnen, fliegen kann, schweben, mich ausruhen, wovor sollte ich mich fürchten? Welche Angst sollten sie mir aufzwingen und was gibt es, womit sie mich verletzen können?
Ich lerne. Ich lerne viel über das Leben der Menschen, über ihre Angst und vor allem über das Ende. Ich versuche ihnen im Tod ganz nahe zu sein, mit der Hand am Puls, immer wieder den Aufprall zu beobachten, versuche ihn zu entschlüsseln. Irgendwann fing ich an, den Unterschied zwischen dem letzten Herzschlag und den anderen zu fühlen, ich begann ihn im Vorhinein zu erahnen, das Aufreißen der Schale wahrzunehmen. Ich erlebte den Fall so oft, dass sich die Wahrnehmung verlangsamte, plötzlich hatte ich alle Zeit
der Welt, im winzigen Moment des Sterbens zu schwelgen.
Ich denke jetzt gern an diese Zeit. Es war die schönste Zeit. Denn ab da fing es an, anders zu werden, sich umzudrehen. Die Wende war so unmerklich, so langsam, dass sie mich völlig überrumpelte. Es begann mit den Menschen. Ich hatte so lange nicht mehr Angst gehabt, ich vergaß allmählich, wie es ist, Angst zu haben. Was wusste ich davon, wie anstrengend es ist, sich fest zu halten, wenn ich mich immer am Boden ausruhen konnte? Ich verstand sie nicht mehr, ihre Gefühle nicht und nicht ihr ständiges Bemühen. Die
Menschen, fingen an, mich zu langweilen. Ihre Anstrengungen erschienen mir bedeutungslos, die Angst bedeutungslos, das Sterben, das Leben bedeutungslos und ewig wiederkehrend, sich ewig wiederholend. Was kümmerte mich ihre Seele, die ewig Gleiche, wie oft kann man ein Buch lesen, bis es jeden Zweck verliert?
Ich schwebte langsam auf den Boden, weil ich nachdenken wollte, ließ mich nieder auf meinem Verbündeten, und erkannte, dass ich längst vergessen hatte, was mich mit ihm verband. Ich saß auf den Felsen und wusste ganz genau, woraus er bestand, aber ich verstand nicht mehr, was ich damit anfangen sollte. Ich fühlte seine Struktur, aber nicht das, was ihn ausmachte. Ich wusste dass der Apfel saftig war, aber ich konnte ihn nicht mehr schmecken. Der Tod war ebenso bedeutungslos geworden wie das Leben. Ich hatte ihn
verloren.
Ich stecke in einer Sackgasse. Ich bin mit vollem Bewusstsein hineingegangen, aber ich komme nicht mehr heraus. Wie soll ich lernen zu fallen, wenn ich einmal wirklich gelernt habe, zu fliegen? Wen gibt es schon, der mich stürzen könnte. Die Luft ist weich und geschmeidig, gehorsam wie ein Kind, das nicht gelernt hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich habe alle Zeit der Welt. Schon in einem Moment habe ich alle Zeit der Welt. Und irgendwann in dieser Zeit fängt man sich an, Gedanken zu machen. Man glaubt…Ich glaube,
verstanden zu haben, was -zumindest meine- Ewigkeit sein könnte. Ich bin an einem Fluss gesessen, als mir der Gedanke gekommen ist. Es war einer jener Momente, in denen gerade gar nichts passiert. Ich wusste ganz genau, im nächsten Moment, würde wieder etwas geschehen, was ich beobachten, analysieren kann. Ich muss nur auf ihn warten.
Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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