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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Fall Weiß
© Andreas Peters
Wenn sie über Polen gekommen sind, wie wird es mit deinen Leuten gehen? Ich weiß, sagt Moise, du hast ganz recht, ich werd Ärger kriegen mit meinem Gott.
Aus "Mäusefest" von Johannes Bobrowski
Der 23. September hielt Einzug in das kleine Städtchen, fünfzig Kilometer von Warschau entfernt. Nach paar leichten Tankwagen und einer Kavalleriebrigade, von Panik ergriffen, rollten gemächlich Artillerie, Panzerdivision und Infanterie heran. Der abgedankte Mosche saß am Abendbrottisch. Die Bohnensuppe war lauwarm und dampfte kaum noch. Die Explosionen schaukelten den leeren Babywipper. An der gegenüberliegenden Tischkante duckte sich jedes Mal Miriam. Der Löffel fiel ihr aus der Hand, und die Suppe spritzte
aus dem Teller. Die beiden schlürften langsam wie durch einen Strohhalm, die Hälse eingezogen. Dämmerstunde. Die Dämmerung schlug zwischen ihnen eine Brücke.
"Mosche!"
"Ja, ischa."
"Hörst du's?"
"Ja, Liebste."
Viele sind's ihrer."
"Eine ganze Legion."
"Gegen Morgen erreichen sie Warschau."
"Dann sind wir frei. Vogelfrei."
Aus Daffke sagst du's."
"Nach meinem Dafürhalten."
"Balbierst überm Löffel."
"Bin schon satt."
"Abgedankt hat unser Leben."
"In Abrahams Schoß geht's weiter."
"Ich bin noch nicht soweit."
"Die da draußen helfen schon nach."
"Sei kein Baladin."
"Ich meine es Ernst."
Schweigesekunden kullerten tickend von der Wanduhr. Miriam verwandelte sich in ein Geißlein und versteckte sich im Uhrenkasten. Der Wolf kann sie nun ruhig suchen. Ihr Ballkleid zuckte am Nagel. Die Uhr war stehengelblieben. Balladeske Stimmung in der Küche. Vermischt mit Armeleutegeruch. Mosche schaute seine Balletteuse mit anderen Augen an. Sie starrte auf die Wand. Bis zum fußfreien Ballerinenkleid im Schwanenteich. So liebt er sie. Immer noch. Jetzt noch mehr. Im Hinterkopf Masurka.
"Mein lieber Schwan!" Er küsste die anämische Hand, die den Löffel wieder hielt. Sie schaute ihn mit großen Augen an.
Hinter der Tür ein Tiergeschrei.
"Armes Schwein!"
"Vielleicht die Geißmutter."
"Bileams Esel."
"Du machst mich ganz daselig."
"Den Schleier würde ich allzu gern austanzen."
"Du meinst das Ballkleid."
Ein Dämmerfalter verirrte sich im Raum. Dass Klopfen an der Tür beschwichtigte das rasende Herz. Eine Prise Höflichkeit in diesem Morsezeichen. Der Soldat kratzte mit den Stiefeln an der Türmatte. Zögerte einen Augenblick zwischen Tür und Angel. Zeigte die hohlen Hände und suchte mit Argusaugen die Küche ab. Das siebte Geißlein wurde eins mit dem Uhrzeiger. Der Soldat erblickte das Waschbecken, daneben die Gießkanne. Mosche reichte ihm das Wasser. Das Wasser spielte, plätscherte, spritzte über blassflaumige Hände.
Die Finger planschten wie zehn Kinder im Schwanensee. Wasser verwandelte sich in Wein. Der Wein wurde alsbald wieder zu Wasser im Abflussloch. Der Soldat trocknete sich die Hände an den Hosen ab, nickte leicht, murmelte so etwas wie "danke!" und verließ den Raum. Mosche starrte die leicht angelehnte Haustür an. Miriams Blicke und Gedanken verließen den Wanduhr, lehnten sich über den Fenstersims. Die letzten Soldaten verließen das Städtchen Go'ra Kalwaria. Die ersten erreichten die Vororte Warschaus.
Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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