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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Kasper und ich

© Thommi Baake


Ich war vier Jahre alt und die Geschichte, die ich jetzt erzähle ist meine erste Erinnerung überhaupt. Wie gerne hätte ich als erste Erinnerung etwas Schöneres gehabt, z.B. zum ersten Mal nicht nur eine Kugel Eis zu bekommen, sondern drei oder ein ganzes Spaghettieis. Oder der Zeitpunkt, an dem ich länger als 30 min. Fernsehgucken durfte: Sesamstraße, Rappelkiste.
Welches geheimnisvolle Erlebnis prägte mich damals für mein ganzes Leben?
Meine Eltern gingen mit mir ins Kasperltheater. Plakate kündigten es an: Der Kasper kommt. Mal wieder kam er in die Stadt. Und normalerweise freuten sich die Kinder darauf.
Ich muss allerdings gestehen, dass ich noch nie etwas vom Kasper gehört hatte.
Lag es daran, dass sich meine Eltern nie richtig für Kultur interessiert hatten? Sonst saßen sie nur Zuhause und sagten: "Hier ist es doch am Schönsten!" Nur einmal in ihrem bisherigen Leben kamen sie in die Nähe von Kultur, als sie in ihrem einzigen, ungewollten Urlaub im Nachbarort, den sie geschenkt bekommen hatten, in einer Pension neben einem Theater wohnten.
Einer der Schauspieler wohnte wohl in dieser Pension. Am zweiten Abend des Urlaubs schenkte er meinen Eltern Freikarten für eine moderne Inszenierung von "Die Weiber von Windsor". Meine Mutter beschrieb es einmal am Telefon als eine FKK - Inszenierung, eine große Schweinerei. Mein Vater fand es wohl ganz in Ordnung wie er einem Arbeitskollegen mitteilte, der daraufhin Karten besorgte und sich am gemeinsamen Kegelabend mit meinem Vater heimlich die ganze Spielzeit über "Die Weiber von Windsor" anschaute. Meine Mutter bekam es irgendwann raus und seither mieden sie Kultur.
Doch zurück zum Samstag nachmittag, als ich vier Jahre alt war.
Eine Nachbarin schenkte meinen Eltern drei Freikarten fürs Kasperltheater, wahrscheinlich aus Mitleid, denn ich hatte die elterliche Wohnung in den kurzen vier Jahren meines Lebens ganze dreimal verlassen. Beim ersten Mal war ich aus dem Fenster gefallen (zweiter Stock, seither habe ich diese Kopfschmerzen), dann rannte ich einem Zeugen Jehovas hinterher, der gerade eine feurige Bibellesung in unserem Flur gehalten hatte (ich dachte nur raus von Zuhause) und beim dritten Mal versuchte mich unser Briefträger aus Mitleid in seiner Posttasche mit nach draußen zu schmuggeln, was ihm aber nicht gelang.
Nun ging es also tatsächlich zum Kaspertheater. Wir fuhren mit dem Bus zum Festplatz unseres kleinen Städtchens und überall gafften uns Leute an, die nicht wussten, dass meine Eltern ein vierjähriges Kind hatten. Beim Festplatz angekommen standen wir vor einem großen Zelt und ich hatte eine unglaubliche Angst.
Ohne Schwierigkeiten kamen wir ins Zelt. Doch was sich mir da bot erfüllte mich mit großem Entsetzen: So viele Kinder, vor allem so viele laute Kinder, hatte ich noch nie gesehen. Dazu laut tönende Musik: Ruckizucki, Heile heile Gänssche und andere Karnevalhits im Hammond Orgel Sound. Nie habe ich diesen Sound ganz aus meinem Kopf bekommen. Manchmal noch wache ich nachts auf, schweißgebadet, und verfluche den berühmtesten aller deutschen Hammond Orgel Spieler Franz Lambert.
Im Zelt weinten, schrieen die null bis vierjährigen und schauten apathisch auf die Bühne. Und ich mittendrin. Ich wollte auf den Schoß meiner Mutter klettern, doch sie sagte: "Nicht Kind, mein Rock bekommt doch Falten". Erst Jahre später erfuhr ich, dass meine Mutter damals nur Faltenröcke trug.
Mein Vater wehrte mich mit den Worten ab: "Junge, du bist doch schon vier".
Also rutschte ich vor Angst unter den Bankteil der Biertischgarnitur. Dort traf ich einige andere Kinder, alle schlafend. Ein guter Einfall, dachte ich und schlief sofort ein. Was ich übrigens immer tat, wenn ich Angst hatte.
Plötzlich hörte ich eine Stimme: "Tritratrullala, tritratrullala, der Kasperle ist wieder da. Hallo, liebe Kinder, seid ihr auch alle da, dann schreit mal alle laut Hurrah!" "Hurrah", tönte es aus Hunderten von Kinderkehlen. Es wurde ruhig im Zelt, man hätte ein Menschenhaar fallen hören können. Doch plötzlich bölkte Kasper mit einer verzerrten, tiefen Stimme los als hätte er keinen Kehlkopf mehr:
"Ihr könnt euch Euer Hurrah an die Backe schmieren, ich finde euch nämlich zum Kotzen, meint ihr, ich mache diesen Job gerne?" Er lachte hämisch: "Ich brauche nur die Kohle, letztendlich musste ich Grethel heiraten und sie hat mir ein Kind angedreht, die alte Schlampe Sie will nur teure Klamotten, Autos, Schmuck etc.
Wir wohnen bei der Großmutter, die viel zuviel Miete von mir verlangt. Ich hasse meinen Job. Ewig lacht ihr über mich und sagt mir alles nach, was ich euch vorsage.
Und dann auch noch so was" Kasper machte die Kinder, seine Zuschauer aufs unflätigste mit einer hässlichen Babyimitationssprache nach: "Vorsicht Kasper, da kommt der böse Zauberer, oder Achtung Kasper der Räuber Hotzenplotz! Verdammt, das sind meine besten Kumpels. Und wisst ihr, wen ich überhaupt nicht mag? Den bescheuerten, dämlichen Seppel, der nichts kapiert, der jede Mission zum Scheitern bringt. Ich habe die Schnauze voll die Prinzessin zu retten, den Hund vom König zu finden, gegen das Krokodil zu kämpfen, ewig meine Kaspermütze zu schwenken, mich bei euch anzubiedern, euch zu unterhalten.
Ich hasse euch, ihr elendes Gewürm, ihr zu kurz geratenen Erwachsenen, ihr nach Popcorn stinkenden kleinen Ratten!!! Jetzt räche ich mich." Er zückte eine harmlos aussehende, kleine Kettensäge und machte sie knatternd an.
Sie röhrte so laut, wie man es einer so kleinen Kettensäge nie zugetraut hätte. Er machte sich an die Requisiten und zerkleinerte sie mit einem Genuss, wie es nur einer tun kann, der noch nie eine Kettensäge benutzt hat und ihr sofort verfällt.
Er zersägte die ganze Bühne und auch Grethels und Großmutters Köpfe mussten dran glauben. Die Kinder und selbst die Erwachsenen schrieen voller Entsetzen. Die ersten wollten fliehen, aber der Räuber Hotzenplotz, der Zauberer und das Krokodil hatten die Eingänge des Zelts verschlossen. Unter dem Schreien der Hexe, die sich inzwischen auch eingemischt hatte und auf ihrem Besen über den Zuschauern kreiste, und dem wilden Rufen der Zuschauer näherte sich Kasper mit seiner gezückten Kettensäge dem entsetzten Publikum.
Er schaltete einen Gang höher und kam auf meine Eltern zu.
Plötzlich schrie ich "Nein, tu das nicht!" und... erwachte. Alle im Zelt schauten auf mich und meine Eltern. Mir schien es, als hätte ich dort zehn Minuten gestanden und alle hätten mich angegafft. Der Puppenspieler war inzwischen vor die Bühne gekommen mit Tränen in den Augen, und sagte zu mir:
"Junge, warum möchtest du nicht, dass der Kasper die Grethel küsst?" Ojemine, was sollte ich darauf sagen? Ging ich doch eben noch davon aus, dass ich gleich ohne Kopf nach Hause gehen musste.
Heute hätte ich genau gewusst was man einem flennenden Puppenspieler sagen soll. Aber damals war ich war vier Jahre alt, als ich anfing zu sprechen und absolute Stille im Zelt einkehrte: "Ich glaube Grethel ist noch nicht so weit sich zu binden, die Beziehung zu Kasper erachte ich als eher oberflächlich und Kasper ist für mich der ewige Filou." Sämtliche Unterlippen, sämtlicher Zuschauer klappten nach unten. Ich verließ unter grummelnden Kommentaren, wie "Ja, der Kleine hat Recht, so habe ich das nie gesehen", das Zelt und meine Eltern. Was aus mir geworden ist? Nun, ich bin Puppenspieler geworden.
Aber nicht irgendeiner, ich spiele meinen Traum nach, in dem Stück "Die Nacht der lebenden Kasperpuppen". Vielleicht komme ich auch mal in eure Stadt.
"So, und nun sagt Tchühüss! Na los wird's bald? Oder muss ich erst meine Kettensäge rausholen? Hahahahaha!!!!!



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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