Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Gegenüber unbekannt

© Barbara Fiedler


"Ist hier noch frei?" Überrascht sehe ich aus meinem Buch auf. Neben mir steht ein Mädchen und zeigt lächelnd auf den freien Sitz neben mir. "Ja" antworte ich, indem ich meinen Rucksack auf den Boden stelle und ans Fenster rücke. "Danke."
Ich mustere sie aus den Augenwinkeln heraus um mir einen Eindruck zu verschaffen. Wahrscheinlich ist sie in meinem Alter. 15, 16 vielleicht 17?
Mit einem lauten quietschen fährt der Zug genau in dem Moment los, in dem sie etwas zu mir sagt.
"Wie bitte? Ich habe kein Wort verstanden." frage ich nachdem der Zug fährt. "Wo willst du hin?" wiederholt sie. "Stuttgart", antworte ich knapp. Was will sie nur von mir?
"Spielst du Mau Mau?" Ich schaue wieder auf und lege mein Buch beiseite. Anscheinend hat meine kurze Antwort sie nicht abgeschreckt. "Ja."
Fröhlich holt sie Skat Karten aus ihrem Rucksack, mischt und teilt aus. "Du fängst an," bietet sie mir großzügig an. Schweigend spielen wir eine Runde.
"Was machst du in Stuttgart? Arbeitest du da?" "Ich gehe ins Planetarium," und gleichzeitig frage ich mich warum ich ihr das sage oder was sie das angeht. "Das wird bestimmt toll. Das Planetarium macht immer wunderbare Vorführungen. Ich heiße Melanie" fährt sie fort während sie die Karten neu austeilt. Ich schaue sie an und lächle zurück, während ich meine Karten aufnehme und die erste ausspiele, frage ich mich noch immer, was sie denn nun von mir will. Was will sie bloß von mir? Hier sitzen noch mindestens 20 andere Personen im Abteil. Sucht sie gerade einen neuen Freund oder ist sie jetzt nur so freundlich um mich später auflaufen zu lassen?
"Ich steige auch in Stuttgart aus. Allerdings gehe ich in die Landesbibliothek." reist sie mich aus meinen Überlegungen. "Was suchst du?" versuche ich höflich zu bleiben. Während wir weiter spielen erzählt sie begeistert von ihrem Referat weswegen sie heute recherchieren geht. Sie soll für Geschichte die Bevölkerungsentwicklung in Baden Württemberg im Laufe der letzten Jahrhunderte recherchieren. Im Unterricht soll sie ihre Ergebnisse präsentieren und Fragen beantworten. Sie freut sich schon darauf und will logischerweise gut informiert und vorbereitet sein.
Als wir uns wenig später auf dem Bahnhof trennen habe ich ein komisches Gefühl im Magen, das ich nicht deuten kann. Sehr viel später fällt mir ein, dass ich mich nicht einmal vorgestellt habe. Oh je. Und dabei habe ich wirklich versucht höflich zu sein. Die Vorführung im Planetarium nimmt mich ganz gefangen. Doch nach der Vorführung übernimmt Melanie wieder die Herrschaft über meine Gedanken.
Sie hatte mich spontan angesprochen, und zum Karten spielen eingeladen. Das hatte ich noch nie erlebt. Obwohl ich überrascht war habe ich mich doch gefreut. Ich habe es genossen mit ihr zu spielen und zu reden. Das war so viel schöner als schweigend neben einander zu sitzen, sich zu langweilen oder zu fragen wie man den anderen in ein Gespräch verwickeln könnte.
Gedankenverloren gehe ich durch die lärmenden Menschen, die in der Bahnhofshalle herumstehen, in Richtung Bahnsteig. Quietschend hält weiter rechts ein überregionaler Zug als ich den Bahnsteig betrete. Mein Zug ist schon da und ich marschiere entschlossen auf ihn zu. Und wieder schleicht sich Melanie in meine Gedanken, kaum das ich sie daraus verbannt habe. Sie hat mich wohl doch mehr fasziniert als ich mir eingestehen will. Schade, dass ich Melanie nicht mehr wieder sehen werde. Ich hätte mich gerne für mein unhöfliches Verhalten entschuldigt. In Gedanken versunken gehe ich durch die überfüllten Abteile und suche nach einem freien Platz. Warum fahren heute so viele mit? Sonst ist hier nicht halb so viel los. Hoffentlich bekomme ich noch einen Sitzplatz.
"Hallo" ertönt es hinter mir und ich drehe mich abrupt um. Da sitzt Melanie. Ungläubig starre ich sie an. Was für ein Zufall! Völlig perplex bringe ich kein Wort heraus und so starre ich sie weiter an. "Komm, setz dich. Dann spielen wir weiter. Heute Morgen ging es ja unentschieden aus." Noch immer stehe ich völlig starr im Gang als sie ihre Aufforderung mit Nachdruck wiederholt. "Jetzt setzt dich schon her! Die anderen wollen vorbei." "J - Ja." stottere ich und setzte mich neben sie. "Entschuldige bitte, ich war heute Morgen nicht sehr höflich zu dir. Ich heiße Jan." stelle ich mich vor und fühle mich gleich viel besser, nachdem ich mich nun entschuldigt habe. "Schön dich kennen zu lernen Jan," meint sie. "Das heute Morgen macht nichts. Ehrlich." Lachend teilt sie die Karten aus und ich stimme mit ein. Seltsam. Noch nie habe ich mich so gefreut jemanden wieder zu sehen. Jemand Fremdes. Ich weiß nichts von ihr außer ihrem Namen.
"War deine Recherche erfolgreich?" frage ich um zu erfahren, wie ihr Tag war.
Wir spielen und gleichzeitig erzählt sie mir ausführlich, wie viele verschiedene Dokumente sie gefunden hat und wie viele sie nicht lesen konnte weil sie die alte Schrift nicht entziffern konnte.
"Sprichst du immer fremde Leute an und lädst sie aufs gerade Wohl zum Karten spielen ein?" werfe ich während einer Pause ein. "Ja." "Warum?" erwidere ich, denn ich verstehe es nicht. Aus welchem Grund spricht man fremde Leute im Zug an? Nur um mit ihnen Karten zu spielen? "Jan, es ist lustig mit dem Sitznachbarn Karten zu spielen. Auf jeden Fall besser, als neben jemand zu sitzen und ihn die ganze Zeit verstolen zu mustern oder aus dem Fenster zu sehen und zu hoffen das der andere dich anspricht. Selbst schweigendes spielen macht Spaß. Und man begegnet vielen interessanten Menschen." "Und jeder spielt mit, nur weil du ihn einlädst?" versuche ich meine Zweifel auszudrücken. "Nein," versetzt sie ernsthaft. "Obwohl immer einpaar ablehnen, spielen die meisten mit. Wohl weil ihnen sonst die Zeit zu lang wird." "Stimmt. Und du hast mit deiner unverblümten Haltung Personen anzusprechen noch zu keinem Zeitpunkt schlechte Erfahrungen gemacht?" Und prompt beschert mir diese Frage einen befremdeten Blick von ihr. "Nein. Weshalb? Sollten sie? Ich mache ja nichts Illegales." lacht sie los. "Aufdringlich oder ausfallend ist noch niemand geworden, wenn du das meinst. Wobei ich dich darauf hinweisen sollte, dass ich meist erst einmal überrascht und ungläubig angeschaut werde. Doch sobald meinem Gegenüber klar ist, dass es mir Ernst ist wird mitgespielt. Selten sieht man jemand wieder aber trotzdem bleibt die Erinnerung an eine schöne Reise mit einer interessanten Bekanntschaft."
Auf dem Heimweg lasse ich meinen heutigen Ausflug Revue passieren. Den ganzen Abend sinniere ich über Melanies Einstellung nach. Die Idee hat etwas. Auf jeden Fall habe ich durch sie Melanie kennen gelernt. Besser ausgedrückt, sie hat mich kennen gelernt. Ich hätte sie nie angesprochen. Nur weil sie mich zum Karten spielen eingeladen hat kamen wir ins Gespräch. Das werde ich auch ausprobieren. Schließlich bin ich oft mit dem Zug unterwegs. Und lesen kann ich auch zu Hause.
Wieder einmal bin ich mit dem Zug unterwegs. Seit ich Melanie traf, habe ich ihre Art auf Menschen zuzugehen schon einige Male ausprobiert. Bislang hatte ich keinen Erfolg. Wahrscheinlich fehlt mir einfach die nötige Übung.
Ein älterer Herr der sich zu mir setzt unterbricht mich in meinen Gedanken. Ein Buch nehme ich schon lange nicht mehr mit, und so wage ich einen neuen Versuch.
"Guten Tag," begrüße ich höflich meinen neuen Sitznachbarn. Überrascht schaut er mich an. "Ebenfalls einen guten Tag," bekomme ich zurückhaltend zur Antwort. "Ich heiße Jan. Spielen Sie Mau Mau?" stelle ich mich vor.
Obwohl er mich ungläubig mustert nickt er und ich nehme meine Karten aus der Tasche.
Es wird eine schöne Fahrt. Melanie hatte Recht. Wir haben uns angeregt über das Theaterstück "Musik ist eine Waffe" unterhalten. Es war sehr interessant seine Meinung dazu zu hören, zumal er nach seiner Aussage selbst eine Hausbesetzung mit Rio Reiser erlebt hat. Es ist schon interessant mit wem man alles reist. "Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag," verabschiede ich ihn als er aussteigt. "Ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag. Und vielen Dank für diese gemütliche Reise. Selten habe ich eine Zugfahrt so entspannt verbracht." antwortet er und steigt aus. Wow. So ein schönes Kompliment. Ich werde es wieder versuchen. Und wenn aus keinem anderen Grund, dann um den Menschen die sich freuen möchten eine kleine Freude zu bereiten.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Blog-Empfehlungen Tiergedichte
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» Tiergedichte «««
»»» HOME PAGE «««