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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Mörder und der andere Junge
© Thomas Krause
Er kam zum ersten Male in meine Praxis. Ein kleiner Mann von vielleicht
60 Jahren. Er hatte sich mit einem Brief angekündigt. Das war damals noch nicht so unwahrscheinlich wie es heute klingt. Heute, da ich seine Geschichte endlich aufschreiben möchte, heute, da ich selbst ein alter Mann von beinahe 80 Jahren bin.
Damals hatte ich gerade erst meine Praxis eröffnet, ich wohnte aus Kostengründen im Besucherwartezimmer, oder ließ die Besucher im Wohnzimmer warten, wenn es etwas zu warten gab, denn meine wenigen Patienten gaben sich nicht die Klinke in die Hand und wollten auch lieber nicht gesehen werden, kamen also meist erst wenn der Vorgänger gegangen war.
Der Mann kam herein, gab mir kurz die Hand und setzte sich auf den Rand des Stuhles, der vor meinem Schreibtisch stand. Zunächst dachte ich, dass er das alte Sofa nicht vertrauenswürdig fand, das ich für Patienten notdürftig neu hatte beziehen lassen. Aber auch der Stuhl, auf dem ich saß, hätte ihn wohl nicht glücklicher gefunden. Also blieb ich sitzen und goss mir meinen einzigen Luxus, einen weiteren Becher Kaffee ein. Ich schob ihm einen zweiten Becher hin und er griff gierig danach, ohne zu trinken. Wohl
um sich an etwas festhalten zu können. Nicht zum Wärmen, denn auch im Winter war es in der Stadt nicht unangenehm kalt, ich hatte sie nach klimatischen Gesichtspunkten ausgesucht.
Ich ließ ihm einige Minuten, die ich ihm nicht berechnen würde, schließlich hatte ich genügend Zeit, ich gab ihm die Zeit, Vertrauen zu fassen, und mir die Zeit zu lernen. Vielleicht hielt er mich für den Marlowe unter den Psychotherapeuten, ein Vergleich, der mir damals durchaus angenehm gewesen wäre. Jedenfalls fing er von selbst zu sprechen an. Er sagte frei heraus, dass er Schuldgefühle habe. Ein guter Anfang, auch wenn der Psychologe die Analyse gern selbst trifft. "Schuldgefühle?" "Ja, Schuldgefühle.
Ich habe ihn nicht getötet." Es ging gut weiter. Er sagte nicht viel, aber was er sagte war mehr, als das, auf das man uns in Harvard vorbereitet hatte. Gut, man hatte uns auch nicht darauf vorbereitet, mittellos in einer Kleinstadt in Kalifornien zu sitzen, als Patienten hauptsächlich mittellose europäische Emigranten. "Sie haben ihn nicht getötet?" "Nein, ich habe den kleinen Jungen nicht getötet. Obwohl ich das Bedürfnis hatte, ihn zu töten." "Und das macht Ihnen Gewissensbisse?"-
"Ja. Ich hätte ihn töten müssen." - "Sie hatten das Bedürfnis zu töten?" - "Nein. Ich hatte das Bedürfnis, ihn zu töten. Ich hatte nie davor das Bedürfnis zu töten. Ich war ja kaum älter." - "Hatten Sie danach wieder das Bedürfnis zu töten?" Ich wollte ihm das Gefühl geben, was er mir sagte, sei so normal wie der vergebliche Wunsch, das Rauchen aufzugeben. Oder das Koffein, dachte ich verbittert. "Ja, immer wieder, aber nur mich selbst. Ich bin Pazifist, müssen Sie
wissen. Ich wollte mich töten aus Selbsthass, weil ich ihn nicht getötet hatte. Ihn selbst zu töten, war zu spät, als ich bemerkte, ich hätte ihn wirklich töten müssen."
Ich erwähnte schon, der Mann schien mir um die 60 zu sein. Er sprach davon, dass er nicht viel älter als der Junge gewesen war. Was war das für ein Mensch, der nach über 40 Jahren ein Schuldgefühl mit sich herumträgt, weil er einen Menschen nicht getötet hatte " Auf den ersten Blick war er netter älterer Mann, einer, der vielleicht im Stadtpark Schach spielt und den älteren Fräuleins Bücher mitbringt. Natürlich hatte ich in den Zeitungen Fotos gesehen von den Naziverbrechern, viele von denen sahen auch aus,
wie sich eine texanische Braut den Schwiegervater gewünscht hätte.
Wir hatten 1945, der Krieg im Pazifik war noch in vollem Gange, der in Europa gerade zu Ende und ich einer der ersten, die zurückgekehrt waren aus Deutschland, der Heimat meiner Großeltern. Aber unter den vielen Europäern, die in die Staaten gelangt waren, waren zu diesem Zeitpunkt die Opfer der Nazis oder der anderen Diktaturen noch unter sich, die Nazis, deren Kenntnisse die amerikanische Regierung nutzen wollte, waren noch nicht da. Dass es sich um einen unentdeckten Spion handelte, wollte ich auch nicht recht
glauben.
Außerdem, das alles hätte nicht etwas erklärt, was sich vor über 40 Jahren in seiner Jugend abgespielt hatte.
"Wollen Sie mir etwas über den Jungen erzählen " Kannten Sie ihn?"- "Nein, damals kannte ich ihn nicht. Er war ein Junge aus der Nachbarschaft, vielleicht 8 oder 9. Ich war 14." Ich sagte nichts. "Und ich wollte ihn töten", fügte er nach einer Pause hinzu. "Sie waren in der Pubertät." Ich überdachte meine Worte. "Hatten Sie sexuelle Motive, fühlten Sie sich zu ihm hingezogen?"
Ich muss zugeben, die Frage in dieser Deutlichkeit war trotz Freud zu jener Zeit noch etwas ungewöhnlich. Doch ich wollte ihn überrumpeln. Und wenn nicht, ein verhinderter Mörder, der sich deshalb bedauert, wenn es das war, wollte ich ihn nicht so sympathisch finden wie er eigentlich auf mich wirkte.
Er schaute mich an, beinahe mitleidig, wie mir schien.
"Nein, ich hatte kein solches Motiv wie sie es mir unterstellen. Ich wollte ihn nicht leiden sehen, ich wollte kein Geld, er kam aus eher ärmlichen Verhältnissen. Ich habe von ihm geträumt, er hat mir angst gemacht. Immer wieder habe ich von einem kleinen Jungen geträumt, bin schweißgebadet aufgewacht und hatte fürchterliche Angst, auch dann noch, als ich den Alptraum als solchen erkannt hatte. Der kleine Junge ließ mich in den Träumen quälen, mich und viele andere auch, er erschien mir als eine Art Teufel,
der sich als Junge verkleidet hatte, um sein böses Werk umso ungestörter ausüben zu können. Es wurde mit jedem Traum schlimmer. In dem letzten Traum, den ich hatte, sagte er zu mir, während ich vor Schreck erstarrt vor ihm stand, ,töte mich, dann ist Dein Alptraum zu Ende, töte mich".
Und dann, im Traum hat man manchmal Kräfte, die man im Leben leider nicht hat, und dann stürzte ich mich auf ihn und tötete ihn im Traum. Danach habe ich für lange Jahre nicht wieder von ihm geträumt."
Ich entspannte mich. "Aber das Sie im Traum jemanden getötet haben, der Sie im Traum tyrannisiert hat, das ist doch nicht schlimm. Der Junge in Ihrem Traum war ein Phantasiegebilde, das nichts mit dem Jungen zu tun hatte.
Und Sie im Traum nichts mit Ihnen."
Trotzdem hatte ich das Gefühl, nicht richtig zugehört und etwas außer Acht gelassen zu haben. Aber vielleicht hatten mich auch meine Kriegserlebnisse und die Erzählungen einiger Emigranten, die ich im Haus meiner Eltern kennen gelernt hatte, nur etwas überempfindlich gemacht für Schuld, Wahnsinn, Gier oder schlichte Gemeinheit.
Und richtig. Es gab noch etwas. "Nein", sagte er, "so einfach komme ich nicht weg. Nach diesem letzten Traum hatte ich das Gefühl, dass es richtig sei, diesen Jungen zu töten. Und ich hatte das Bedürfnis dazu, ich wollte ihn töten. Ich war nur zu feige. Und wissen Sie, warum " Ich wusste nicht, wie ich es den andern erklären sollte. Wie erklärt man, dass man einen kleinen Jungen töten musste " Niemand würde mir glauben. Ich war zu feige. So viel zu meiner Schuld. Ich kann sie nicht wiedergutmachen."
Ich verstand immer noch nicht.
"Wissen Sie", sagte er, "ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich Ihre europäischen Wurzeln kenne. Ihnen kann ich die Wahrheit sagen, ohne sie sagen zu müssen:
Ich stamme aus Braunau am Inn."
Daraufhin erhob er sich, lächelte mir freudlos zu und ging.
Er kam dann nie wieder und ich habe auch nie wieder etwas von ihm gehört.
Und das war die Geschichte des Mannes, der den kleinen Adi H. aus Braunau am Inn nicht getötet hatte.
Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.