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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Manche Tage sind eben doch (nicht) anders
© Heiko Seelbach
Für Justus gipfelte der gesamte Sinn seiner Existenz, und übrigens auch die eines jeden anderen, darin, einen vernünftigen Beitrag zum Bestehen der Gesellschaft zu leisten. Und den wesentlichen Beitrag zu diesem Bestehen sah Justus im täglichen Erfüllen eines Berufes, dem, wenn es nach Justus gehen würde, ein jeder nachzugehen habe.
Also gut, es gab da vielleicht die ein oder andere Ausnahme. Wenn zum Beispiel jemand behindert war, oder krank, oder eine Mutter, die ihre Kinder erziehen musste. Das waren Gründe, die Justus akzeptierte, wenn jemand nicht den geforderten Beitrag leistete. Aber was machte dieser Penner da in der Fußgängerzone. Was war denn dessen Beitrag zur Gesellschaft? Etwa den Menschen, die an ihm vorbeigingen ein schlechtes Gewissen zu machen. Was sollte das? Arme, pflichtbewusste Bürger auf dem Weg zur Arbeit oder nach
Feierabend in eine solche Situation zu bringen. Ihnen das Gefühl zu vermitteln, sich schlecht fühlen zu müssen, weil es ihnen gut ging. Mit welcher Berechtigung tat dieser Parasit das, fragte sich Justus immer wieder, wenn er achtlos vorbeiging und ihn mit Verachtung im Blick streifte.
Sich auf unseren Rücken festkrallen und an unseren schlechten Gewissen den ausgemergelten Leib voll saugen. Galt es denn schon als Existenzberechtigung, auf ein Schild zu schreiben, man habe Hunger? Sollte das der Beitrag zur Gesellschaft sein? Nicht nur das Auge der Menschen zu beleidigen, sondern auch noch nach deren Geld zu trachten - ja es ihnen praktisch zu stehlen?
Jeden Tag, wenn Justus an dem gehassten Penner vorbeikam, kroch eine kalte Hand seinen Nacken hinauf und quetschte sein Gehirn zusammen, dass seine Hände sich zu Fäusten ballten und seine Fingernägel in die Handballen bohrten. Von Justus würde dieser Strauchdieb niemals etwas bekommen, außer vielleicht einer kräftigen Abreibung, aber wer wollte sich schon die Finger an so einem Subjekt schmutzig machen. Manchmal hatte Justus das Gefühl diese Ungerechtigkeit einfach nicht mehr auszuhalten und hätte dem Penner
am liebsten seine Aktentasche auf dem Schädel kaputtgeschlagen. Immer und immer wieder darauf eingedroschen, dann hätten ihm andere schon geholfen, es hieß doch immer, wenn es um Zivilcourage ging, dass erst einmal jemand den Anfang machen musste.
Justus schloss die Faust fester um den Griff der Aktentasche und blickte in die Richtung dieses faulen, dreckigen Lumpenhaufens. Es war Sommer und der Schweiß in seinen Handflächen ließ den Griff etwas rutschig werden. Wie immer saß der Penner mitten in der Fußgängerzone unter dem Vordach von C&A, wo er die Möglichkeit hatte, die meisten Menschen betroffen zu machen, da Sommers wie Winters viele redliche Bürger durch die Einkaufszonen schlenderten und beim Anblick dieser traurigen Gestalt keine richtige Lust
mehr hatten, ihr Geld in den Geschäften auszugeben.
Noch ein paar Meter, dann wäre Justus in Reichweite. Heute hatte er gerade die rechte Laune, da er einige Überstunden hinter sich hatte bringen müssen, während der Herr Penner sich den ganzen Tag lang die Sonne auf den ausgemergelten Bauch scheinen ließ. Das konnte so nicht weitergehen. Seine Muskulatur straffte sich und Justus holte während der letzten drei Schritte mit dem Aktenkoffer aus.
"Da bist du ja, Peter." Der Penner schaute zu den Glastüren des C&A, wo ein kleines Mädchen, dessen Haar leicht im warmen Luftzug des Eingangs wehte, seinen Namen gerufen hatte. Justus schwenkte den Koffer so, dass es aussah, als würde eine etwas exzentrische Person, die den Koffer in der Hand vergessen hatte, auf die Uhr schauen und glitt an dem Mädchen vorbei in das Bekleidungshaus. Drinnen tat er so, als betrachte er die Damenoberteile eines Kleiderständers und beobachtete die Situation vor dem
Geschäft. Sah wie sich das Gesicht des Penners zu einer hämisch grinsenden Grimasse kräuselte.
Das Kind half Peter, seine Habseligkeiten zusammen zu packen und nahm ihn bei der Hand als sie davongingen. Ohne lange zu zögern, folgte Justus ihnen in einigem Abstand. Er wollte wissen, was das zu bedeuten hatte. Und außerdem wartete zu Hause sowieso niemand mehr auf ihn, seitdem seine Eltern vor einigen Jahren gestorben waren.
Seine Eltern, das (!) waren Vorzeigebürger gewesen. Beide hatten gearbeitet, bis sie 63 waren und hatten sich immer um Justus gekümmert. Manchmal durfte Justus, als er noch klein war, seinen Vater sogar auf der Arbeit besuchen, bis sie schließlich irgendwann jeden Morgen gemeinsam zur Arbeit gingen. Der Vater in den Betrieb und der Sohn in die Verwaltung. Die Mutter putzte im Krankenhaus und brachte immer nachmittags pünktlich das Essen auf den Tisch, sobald Vater und Sohn von der Arbeit nach Hause kamen, damit
sie alle gemeinsam essen konnten. Sie mochte es, wenn sich die Familie jeden Tag traf und über alles reden konnte, was seit dem Frühstück passiert war. So hatte ihre Mutter das auch immer gemacht. Und irgendwann einmal, so hoffte sie, würde Justus eine Frau finden, die sich genauso um ihn kümmern würde.
Über zwanzig Jahre lang hatte Justus diese Frau nicht gefunden und auch als die Eltern schon in Rente waren, aßen sie immer noch alle gemeinsam, sobald Justus von der Arbeit kam. Es war nicht so, dass Justus nicht nach einer Frau gesucht hätte. Es gab schon Zeiten,, in denen er sich nach der Nähe und Berührung eines schönen Mädchens sehnte. Das war vor allem dann, wenn er abends alleine vor dem Fernseher saß und zuschaute, wie sich innerhalb von nicht einmal zwei Stunden Dramen abspielten, an deren Ende meistens
der Held einer Geschichte die Frau abbekam, in die sich Justus auch schon verliebt hatte. Genauso einsam, wie an den vielen Fernsehabenden, fühlte sich Justus auch, wenn er auf dem Heimweg nach der Arbeit durch den Park kam, sich hin und wieder auf eine Bank setzte und beim Zeitungslesen junge Pärchen beobachtete, die eng umschlungen auf den Wiesen lagen und sich gegenseitig mit Zärtlichkeiten verwöhnten. Und dann waren plötzlich beide Eltern innerhalb von nicht einmal zwei Jahren nacheinander gestorben, bevor
sie 70 waren.
Fernsehabende und Park waren gleich geblieben. Nur das Essen gab es seitdem meistens eine dreiviertel Stunde später, weil Justus ja nun selber kochen musste. Aber heute würde sich die Küche wohl noch etwas länger gedulden müssen. Schließlich war Justus auf der Spur dieses Asozialen, der wer weiß was mit dem kleinen Mädchen anstellen konnte.
Nachdem sie die Fußgängerzone durchquert hatten, blieb der Penner und das Mädchen an einem Softeisstand stehen, wo die Kleine zwei Tüten bestellte.
Justus schaute sich die Auslage eines Buchladens an und sah, wie sich die kalte Masse in den Waffeln kunstvoll wie türkische Zwiebeltürme erhob. Wut schäumte in ihm auf, als das Mädchen einige Münzen über die Theke reichte und eine Eistüte ihrem Begleiter in die Hand drückte, der genüsslich seine Zunge darin vergrub. Sie schlenderten weiter, wobei die Kleine allerdings immer einen Schritt voraus war und am Arm des Penners zu ziehen schien als sei sie in Eile. Natürlich schien der Penner keinen Sinn für Pünktlichkeit
zu haben. Die Art, wie er sich von dem Mädchen ziehen ließ, wie er dafür sorgte, dass sie in Zeitnot kam, regte Justus auf. Das passte ins Bild. Zu nichts nutzen, der Gesellschaft zur Last fallen und dann auch noch andere in den Sumpf des Asozialen ziehen, in diesem Fall sogar ein wehrloses Kind, was die Sache noch schlimmer machte.
Sie kamen an den Rand des Parks und gingen hinein. Justus kannte diesen Weg.
Er ging ihn jeden Tag, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Wäre noch kein Beton erfunden gewesen, dann hätte Justus jahrelange Heimkehr wohl schon einen Pfad hinterlassen. Jetzt folgte er dem ungleichen Paar in eine andere Richtung. Bäume säumten vereinzelt den Weg und standen auch in kleinen Gruppen auf den Rasenflächen, um den Spaziergängern beim Ausruhen Schatten zu spenden. Vögel zwitscherten ohne Unterlass in den unterschiedlichsten Melodien, dass man meinen konnte, man spaziere durch einen Dschungel.
Ab und zu hörte man Kinderlachen und sah wie sich ein ganzer Schwarm Vögel schwarzen Wolken gleich erhob.
Sie näherten sich einem Anwesen am Rande der Anlage, dessen großen Garten man vom Park aus gut einsehen konnte. Von dort her war das Kinderlachen gekommen. Unzählige kleine Personen liefen hier durcheinander, spielten Fangen, warfen sich Bälle zu und quiekten dabei glücklich. Als der Penner mit dem Mädchen den Garten betrat, wurde es noch lauter und schnell bildete sich eine fröhliche Traube um die beiden. Justus setzte sich außerhalb auf eine Bank und versuchte sich einen Reim auf das zu machen, was er da sah.
Das war also das Waisenhaus. Hierher hatte sich Justus noch nie verlaufen.
Warum auch. Was sollte man schon in einem Waisenhaus zu suchen haben, wenn man kein Kind adoptierte oder dort arbeitete.
Und was um alles in der Welt glaubte der Penner hier verloren zu haben.
Immer mehr Kinder ließen ihre Bälle oder Stöcke oder Stelzen einfach liegen, hörten auf sich gegenseitig zu fangen oder Seil zu springen und schlossen sich der wachsenden Schar um diese in Lumpen gehüllte Person an. Justus musste an eine Geschichte denken, die ihm seine Mutter immer vorgelesen hatte, als er selbst noch ein Kind gewesen war. Die mit den Ratten in der Stadt und dem Flötenspieler, der die Kinder entführt hatte. Am Ende, als alle Kinder im Berg verschwunden waren, hatte seine Mutter immer ganz ernst
gefragt "Also Justus, was sollst du dir merken?" Und Justus, dem diese Geschichte immer unheimlich gewesen war, hatte dann pflichtbewusst geantwortet, dass er nie mit fremden Leuten mitgehen sollte.
Aber hier war kein Berg. Und die Kinder verschwanden auch nicht. Sie gingen nur mit diesem Fremden an eine Tischgruppe in dem großen Garten und setzten sich alle um ihn herum. Frauen kamen aus dem Haus, brachten Körbe mit Brot und Tabletts mit Flaschen darauf. Der Mann nahm die Gaben entgegen und verteilte sie an die Kinder. Danach begannen alle mit dem Essen und ließen Peter, der irgendetwas zu erzählen schien, dabei nicht aus den Augen. Gerne hätte auch Justus gehört, warum die Kinder alle so gebannt den Worten
lauschten. Aber er war zu weit abseits.
"Er soll damals als Schiffbrüchiger an den Strand gespült worden sein." Justus zuckte heftig zusammen und für einen Moment verkrampfte sich seine
Brust- und Bauchmuskulatur. Er hatte nicht gemerkt, wie sich ein altes Mütterchen neben ihn auf die Bank gesetzt hatte. Jetzt starrte er sie an, als ob er daran zweifelte, dass sie tatsächlich da war. Ihr Gesicht hatte tiefe Furchen und ihre Haut erinnerte an Leder. So wie Haut nur wurde, wenn man bei Wind und Wetter draußen arbeitete. Sie blickte Justus nicht an. "Man weiß nicht genau, ob er wirklich auf einem Schiff gearbeitet hat, da er sein Gedächtnis verloren hat." Justus starrte die Frau weiterhin
an.
Eigentlich hätten ihm tausend Fragen durch den Kopf gehen müssen, die er dieser Alten hätte stellen können. Aber da war nur statisches Rauschen und das Bild dieser Frau. "Aber er erinnert sich noch an so viele Geschichten von der See, dass er seit Jahren hier immer das Glanzlicht für die Kinder ist." Justus schaute wieder in den Garten. Die Alte schien Recht zu haben.
Während die Kinder mit vollen Backen kauten und tranken, hingen sie mit großen Augen an den Lippen des Erzählers. Justus wollte nun doch hören, woher das Mütterchen diese Dinge wusste und woher sie diesen Peter kannte.
Aber als er sich ihr zuwandte, konnte er nur noch sehen, dass sie auf ihren Stock gestützt einen Pfad entlang ging und im Wald verschwand.
Justus lehnte sich zurück und schaute mit verklärtem Blick in den Garten und merkte nicht, wann Peter und die Kinder gingen. Er blieb einfach auf der Bank sitzen und dachte nach. Auch als es schon dämmerte, saß er noch da und überlegte, bis er schließlich aufstand und nach Hause ging. Sogar beim Kochen grübelte Justus weiter. Er ließ den Fernseher ausgeschaltet und schlief schlecht ein.
Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.