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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die zweite Heimat

© Corinna Dicks


"Sam, pass auf!!!"
Irritiert drehte Sam sich zu ihrem Vater, der wild gestikulierend hinter dem großen, eisernen Tor stand.
Dann hörte sie die Schreie der Arbeiter, sah die weit, über ihren Köpfen kreisenden Schlagstöcke und spürte, dass irgendetwas nicht stimmte.
Als der Erdboden zu beben begann, wusste sie, dass sie in Gefahr war. Ihr Vater rüttelte schreiend am Tor und die Arbeiter sprangen über die Zäune, die das Gehege umschlossen.
Sam folgte den angsterfüllten Blicken der Umstehenden und dann drang das ohrenbetäubende Trompeten eines Elefantenbullen zu ihr durch. Das riesige Tier galoppierte mit hoch erhobenem Rüssel auf sie zu, seine kleinen, schwarzen Augen fixierten ihre zierliche Gestalt. Nur noch ein paar Meter, bis er sie erreichte. Zehn Meter ... neuen ... acht ... und Sam hatte sich noch immer keinen Millimeter gerührt. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihr Vater endlich den passenden Schlüssel gefunden hatte, das Tor aufschloss und hindurchstürzte. Doch er verlor ihre Aufmerksamkeit wieder, denn der Elefant stieß ein zweites markerschütterndes Brüllen aus. Jetzt hatte er das kleine Mädchen direkt vor sich. Er stemmte die Hinterbeine in den Boden und reckte seine imposante Gestalt in die Luft.
Sams Augen weiteten sich und nun drang die Panik, die ihren Körper schon vor einer ganzen Weile gefangen genommen hatte, zu ihrem Gehirn durch. Sie fühlte den kalten Schweiß auf ihrer Haut, die zitternden Beine, die unter ihrem Körper nachzugeben drohten und die trockene Zunge in ihrem Mund, der sich öffnete, um einen spitzen Schrei freizulassen.
Sam wirbelte herum, doch ihre Beine gehorchten nicht. Statt sich endlich von der Stelle zu bewegen, knickten sie ein und Sam fiel zu Boden. Sie war erst vier Jahre alt und hatte noch nicht gelernt, was man in einer solchen Situation tun musste. Deshalb folgte sie einfach ihrem Instinkt und blieb reglos liegen.
Der Elfantenkörper über ihr kam näher. Vor Sams Augen begannen schwarze Punkte zu tanzen, als die dicken, tonnenschweren Vorderbeine rechts und links neben ihrem kleinen Kopf auf den heißen Sand aufschlugen. Ihr Blick verschleierte sich. Das Braun des aufwirbelnden Staubs wurde allmählich zu tiefem Schwarz.
* * *
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Sam aufwachte. Die Hitze hatte sie geweckt, denn zu dieser Jahreszeit fühlte man sich in Kenia, selbst nachts, wie in einem Backofen. Ihre Unterwäsche war schweißgetränkt, doch das war Sam gewöhnt.
Müde schwang sie ihre Beine aus dem Bett und zog sich an. Dann warf sie einen kurzen Blick aus dem Fenster. In der Ferne stand eine Herde Elefanten, die im Schein des Mondes trügerisch klein wirkten. Sam lief ein Schauer über den Rücken. Sie mochte keine Tiere, die höher als bis zu ihrem Knie reichten.
Sie ging in die Küche, wo ihre Mutter das Frühstück zubereitete.
"Guten Morgen, Samantha, wie ich sehe, kannst du auch nicht schlafen."
"Es ist zu heiß," antwortete Sam und steckte ihren Kopf in den Kühlschrank.
Ihre Mutter lachte. "Man sollte meinen, dir würde dieses Klima nichts mehr ausmachen. Immerhin lebst du hier, seit du zwei Jahre alt warst und jetzt bist du neunzehn."
Sam gähnte und öffnete eine Wassermelone. "Ist Dad schon wach?"
"Natürlich, er fütterte die Zebras. Tu mir bitte den Gefallen und sag ihm bescheid, dass das Frühstück fertig ist."
Sam sah ihre Mutter an. "Ich? Aber..."
"Das ist doch kein Problem," fiel Frau Jakob ihr ins Wort. "Er wird auf der großen Weide sein."
Sam seufzte. Sie versuchte nicht noch einmal, Einwände zu erheben, sondern verließ mürrisch das Haus.
Am Horizont erschienen die ersten Sonnenstrahlen, während Sam über die Farm lief. Ihr Herz schlug schneller, als sie die Antilopen, Giraffen, Rinder und Pferde in ihren Gehegen sah. Jedes Mal, wenn sie an den Tieren vorbeiging, fing ihre Fantasie an, verrückt zu spielen. Bilder tauchten vor ihren Augen auf, wie die Antilopen plötzlich in Panik ausbrachen, den Zaun übersprangen und sie niedertrampelten oder ein Pferd auskeilte, in dem Moment, wenn sie genau dahinter stand. Und wie jedes Mal, wenn ihr diese Gedanken kamen, fragte sich Sam, warum ihr Vater Tierarzt werden musste, der ausgerechnet im afrikanischen Busch seiner Arbeit nachging und mithalf, Tiere auszuwildern, die in Gefangenschaft aufgewachsen waren.
Unbewusst beschleunigte Sam ihre Schritte. Erst als sie das Gatter des Zebrageheges erreichte, blieb sie stehen. Sie konnte ihren Vater sehen, doch um ihn zu rufen, war er zu weit weg. Sie versuchte zu winken, aber auch das brachte nichts.
Sam seufzte. Laut fluchend öffnete sie das Gatter, schlüpfte hindurch und schloss es sorgfältig wieder hinter sich.
Ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, als sie den viel zu langen Weg zu ihrem Vater zurücklegte.
Sie machte weite Bogen um die Zebraherden, die in der freien Wildbahn vor ihr geflohen wären. Diese Zebras jedoch, waren an Menschen gewöhnt und ließen sich daher beim Grasen nicht stören. Trotzdem unterdrückte Sam den Drang, loszurennen, denn solch plötzliche Bewegungen hätten selbst die zahmsten Tiere aufgeschreckt und dann hätte Sam in einer weitaus größeren Gefahr geschwebt, als sie es jetzt schon tat.
Ihr Vater war dabei, ein großes Wasserbassin zu füllen. Da sich einige Zebras um ihn versammelt hatten, blieb Sam in gebührendem Abstand stehen und rief: "Dad, Mom schickt mich, das Frühstück ist fertig."
Herr Jakob sah überrascht auf. "Oh, guten Morgen. Welch eine Ehre, dass du mich abholst. Hast du deine Angst vor großen Tieren überwunden?" Auch ohne Sams Antwort: "Ich mache das bestimmt nicht freiwillig," wusste er, dass es nicht so war.
Sie gingen zusammen zurück und nur dicht an ihren Vater gepresst, überstand Sam den Weg mitten durch die Herde.
"Weißt du, dass du früher einmal auf einem Zebra geritten bist?" bemerkte Herr Jakob, als sie auf das Farmhaus zukamen.
"Damals hatte ich auch noch nicht die Bekanntschaft mit Elefantenfüßen gemacht," konterte Sam.
"Aber ein Elefant ist doch etwas ganz anderes. Außerdem ist das lange her."
"Huf ist Huf. Ob vom Elefant oder Zebra, beides kann schmerzhaft, wenn nicht sogar tödlich sein."
Sie betraten die Küche und Sam war froh, dass ihre Mutter einen Brief auf den Tisch gelegt hatte, der ihren Vater vom Thema ablenkte.
"Was ist das?" fragte er.
"Ein Brief," meinte Frau Jakob unnötigerweise.
"Das sehe ich selbst. Von wem ist er?" Doch er wartete die Antwort nicht ab, sondern riss den Umschlag auf. "Von den Dornfelds."
Sam ließ das Brötchen sinken, das sie grade im Begriff war, aufzuschneiden. "Von Claudia, meiner Brieffreundin?"
"Nein," ihr Vater schüttelte den Kopf, "von ihren Eltern."
"Aber was wollen sie von dir?"
Herr Jakob legte den Brief zur Seite und runzelte die Stirn. "Sie wollen dich einladen, über den Sommer zu ihnen zu kommen."
Vor Staunen klappte Sam der Mund auf. "Nach Deutschland? Sie wollen, dass ich den Sommer in Deutschland verbringe?"
Ihr Vater nickte. Er schien nicht sonderlich begeistert zu sein. Auch Frau Jakob machte ein besorgtes Gesicht.
"Wow, das ist super," freute sich Sam und sprang auf. "Ich muss sofort in mein Zimmer. Ich hab gar keine Klamotten für kalte Tage. In Deutschland ist das Wetter ja ziemlich unbeständig." Erst jetzt registrierte sie die Blicke ihrer Eltern und die Euphorie, die sie gepackt hatte, verschwand. "Ihr erlaubt es mir doch, oder?"
"Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist," begann ihre Mutter. "Wir kennen diese Leute überhaupt nicht."
"Aber..."
"Außerdem solltest du dich in dieser Zeit um deine Bewerbung fürs Studium kümmern. Du hast dir noch immer keine Uni ausgesucht."
"Das kann ich auch von Deutschland aus machen."
"Trotzdem," Herr Jakob schüttelte nachdenklich den Kopf.
"Das könnt ihr doch nicht erst meinen," rief Sam verzweifelt. "Ihr dürft mir die Reise nicht verbieten. Das ist meine Chance, endlich auch mal etwas anderes zu sehen, als karges Land, glühende Hitze und stinkende Rindviecher."
"SAMANTHA," rief ihr Vater empört, "wie redest du denn?"
"Ist doch wahr," schrie Sam, die von der Heftigkeit ihres Ausbruchs selbst überrascht war. "Ich bin Deutsche, weiß aber nicht, wie mein Heimatland aussieht. Ich habe nie etwas anderes gesehen, als Afrika und ihr wollt mir nicht einen einzigen Sommer Zuhause können."
"Das hier ist dein Zuhause," entgegnete ihr Vater ebenso heftig.
"Ist es nicht! Wir sprechen ja nicht mal die Landessprache fließend." Sam drehte sich um und rannte in ihr Zimmer. Es ist so unfair, dachte sie wütend. Ein paar Wochen Urlaub ist doch wohl nicht zu viel verlangt.
Im selben Augenblick trompetete ein Elefant irgendwo in der Steppe und sie zuckte zusammen.
Als zwei Stunden später der Hunger sie wieder in die Küche trieb, waren ihre Eltern nicht mehr da.
Frau Jakob hatte das Essen auf dem Tisch stehen gelassen und half ihrem Mann vermutlich grade dabei, die restlichen Tiere der Farm zu füttern.
Sam war das nur recht. Sie hatte sich vorgenommen, ihren Eltern aus dem Weg zu gehen und mit Ignoranz zu zeigen, was sie von deren Entscheidung hielt.
Da sie eine sehr dickköpfige Person war, schaffte sie es, eine ganze Woche zu schweigen und machte erst wieder den Mund auf, als ihre Eltern das Thema letztendlich noch einmal ansprachen.
"Warum willst du unbedingt nach Deutschland?" wollte Herr Jakob wissen, obwohl die Antwort auf der Hand lag.
"Weil ich es noch nie gesehen habe?"
"Aber es ist wirklich kein sehr schönes Land," erklärte Frau Jakob. "Die Sonne scheint nur selten, es ist kalt und meistens sind die Menschen schlecht gelaunt."
"Die Dornfelds bestimmt nicht," entgegnete Sam, "und ich möchte Claudia persönlich kennen lernen, nicht nur durch ihre Briefe."
Ihr Vater seufzte resigniert. "Also gut, wir können dich ja nicht ewig auf der Farm festhalten."
"Wirklich?" Sam sprang auf, warf übermütig ihren Stuhl um und umarmte ihre Eltern. "Danke, danke, danke." Dass ihre Mutter Herrn Jakob einen unbehaglichen Blick zuwarf, entging ihr dabei.
So kam es, dass drei Wochen, nachdem die Einladung der Dornfelds in Kenia eingetroffen war, ein Flugzeug auf dem Frankfurter Flughafen landete, aus dem eine junge Frau mit glänzenden Augen und rasendem Puls ausstieg.
Obwohl ihre Eltern ihr viel über die Unterschiede zwischen Afrika und Europa erzählt hatten, war Sam, die nur die weite Steppe Afrikas kannte, erstaunt, wie wenig freies Land es in Deutschland gab. Aus dem Flugzeugfenster hatte sie die unzähligen, winzigen Häuser sehen können und die Autos, die in langen Schlangen auf den Straßen standen.
Dann war das Flugzeug auf die Landebahn gerollt und nun stand sie inmitten einer riesigen Menschenmenge, die mit ihrem Gepäck durch die Flughafenhalle eilte.
Sam stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute sich um. Sie kannte Claudias Gesicht von Fotos und da die Dornfelds versprochen hatten, sie abzuholen, hielt sie nach der einzigen Person Ausschau, die sie in diesem merkwürdig fremden Land kannte.
"Sam, Sam hallo," kam es plötzlich von irgendwoher.
Sam drehte sich einmal um sich selbst und erblickte drei Gestalten, die auf sie zugelaufen kamen.
Claudia, die sie freudig umarmte, sah genauso aus, wie auf den Fotos. "Zum Glück, wir habend ich doch noch gefunden. Wir hatten schon befürchtet, dass wir dich zwischen den ganzen Leuten übersehen."
"Gut, dass ich so groß bin," lachte Sam. Sie gab Claudias Eltern die Hand und war gespannt auf das, was sie außerhalb des Flughafengebäudes erwarteten würde.
Es war wirklich ein schöner Sommertag. Es war heiß, aber nicht so tropisch feucht, wie in Afrika.
Während Herr Dornfeld Sams Koffer trug und alle vier zum Auto gingen, war Sam ganz damit beschäftigt, Claudias unzählige Fragen zu beantworten und selbst welche zu stellen.
Das Auto war sehr komfortabel, etwas, was Sam gar nicht kannte. Auch das Haus, das sie wenig später betraten, war groß, geräumig und voller technischer Geräte. Natürlich waren solche Dinge wie Fernseher, CD-Player und Internet für Sam nichts Neues, doch in dieser Umgebung kamen ihr diese Dinge viel moderner vor.
"Du schläfst mit in meinem Zimmer," verkündete Claudia.
Die Dornfelds hatten extra ein zweites Bett aufgestellt und als Sam in ihrer ersten Nacht darin lag, konnte sie vor Aufregung kein Auge zumachen.
Da das Flugzeug erst am Spätnachmittag in Deutschland gelandet war, war Claudia nur wenig Zeit geblieben, um Sam die Stadt zu zeigen. Deshalb hatten sie sich damit begnügt, durch die nahegelegenen Straßen zu schlendern und sich bis tief in die Nacht mit Claudias Eltern zu unterhalten. Sam war erzählt worden, dass ihre Brieffreundin, genau wie sie selbst, in diesem Jahr die Schule beendet hatte und sich für eine Universität bewerben wollte. Doch im Gegensatz zu ihr, wusste Claudia schon, welche es ein sollte.
Der Lärm auf den Straßen wurde nicht weniger. Inzwischen war es drei Uhr Morgens und Sam wunderte sich, wie viele Menschen um diese Zeit noch unterwegs waren. Sie dachte an Kenia, an das Land, das Nachts unter dem klaren Sternenhimmel friedlich ruhte. Doch die ungewohnten Motorengeräusche, die Sam im Moment umgaben, waren nicht etwa störend, nein, sie gaben ihr eine gewisse Sicherheit. Obwohl ihr Deutschland fremd war, der Krach und die Hektik ungewohnt, so fühlte sie sich dennoch wohl, denn sie wusste, dass kein plötzliches Brüllen der Steppentiere, kein Trompeten, Muhen oder das Scharren von Hufen, sie aus ihrem Schlaf reißen würde. In diesem Land brauchte sie keine Angst zu haben, noch einmal unter die Füße eines Elefanten zu geraten und diese Erkenntnis ließ sie beruhigt ihre Augen schließen.
Der nächste Tag begann so, wie Sam es sich erhofft hatte.
Nach einem langen, ausgiebigen Frühstück schleppte Claudia sie durch die Stadt. Es gab Geschäfte, in denen man alles kaufen konnte, was mit Geld zu bezahlen war. So etwas kannte Sam nicht und am Nachmittag hatte sie drei riesige Tüten zu tragen, in denen zwei Jeans, fünf T-Shirts und ein paar Schuhe steckten. Als Abschluss dieses Einkaufmarathons, lud Claudia sie zu einer Pizza ein und sie begannen, sich über ihr Studium zu unterhalten.
"Ich möchte gerne Archäologie studieren," sagte Sam, "aber es ist nicht einfach, in Afrika eine gute Hochschule zu finden, die diesen Studiengang anbietet."
Claudia nickte. "Das kenne ich. Ich will auf Lehramt studieren, aber die einzige Universität die auch Griechisch lehrt und die mir gefällt, ist in Bayern."
"Wow, wie kamst du denn ausgerechnet auf Griechisch?"
"Ich bin eine Zeit lang in Griechenland zur Schule gegangen," erklärte Claudia. "Das war ein Austauschprogramm unserer Schule und mir hat die Sprache gefallen."
"Dann wirst du also ende diesen Sommers nach Bayern ziehen," erkannte Sam.
"Ich denke schon. Vielleicht werde ich mir die Uni vorher noch einmal in natura anschauen - nur um ganz sicher zu gehen."
"Wie wäre es, wenn wir das zusammen machen? Ich würde zu gerne mal nach Bayern."
Claudia überlegte kurz. "Klar, warum nicht. Ist mir sowieso lieber, nicht alleine bis zum Weißwurstäquator fahren zu müssen."
Die beiden lachten und fingen an, Pläne zu schmieden.
Es würde sicher ein Abenteuer werden, denn sie einigten sich darauf, diese Reise quer durch Deutschland per Bahn zu unternehmen - vorausgesetzt, die Dornfelds waren einverstanden.
Als das Thema beim Abendessen zur Sprach kam, bedachte Frau Dornfeld ihre Tochter mit einem genervten Blick. "Das haben wir doch schon besprochen. Wir möchten nicht, dass du so weit wegziehst, Claudia. Such dir eine Uni, die hier in der Nähe liegt."
"Ach Mutter, ich will mich doch nur informieren und wenn wir zu zweit sind, kann uns überhaupt nichts passieren. Außerdem möchte Sam gerne mal Bayern sehen und wann wird sie wohl das nächste Mal nach Deutschland kommen? Jetzt ist die einmalige Gelegenheit."
Sam nickte bekräftigend.
"Mir ist gar nicht wohl bei dem Gedanken," schaltete sich Herr Dornfeld ein. "Zwei Mädchen, ganz allein mit der Bahn unterwegs."
"Ich habe auch den Weg von Kenia bis hier her unbeschadet überstanden," sagte Sam.
Herr und Frau Dornfeld sahen sich lange Zeit schweigend an. Dann, nach mehr als zehn Minuten, erklärten sie sich widerwillig einverstanden.
"Deine Eltern haben sich nicht grade so angehört, als wüssten sie, dass der Umzug nach Bayern für dich schon beschlossene Sache ist," meinte Sam, die nach dem Essen mit Claudia durch die Stadt schlenderte. Es war Wochenende und Sam wollte unbedingt ins Nachtleben eintauchen. Sie verbrachten die Zeit in diversen Discotheken, dessen laute Musik gar nicht so einfach zu übertönen war.
"Na ja, sie denken, ich bin immer noch ein kleines Kind und sie können über mein Leben bestimmen." Claudia zuckte die Achseln. "Aber ich bin volljährig und wenn ich in Bayern studieren will, dann werde ich das tun. Ich habe mich schon vor Wochen heimlich dort beworben und bin sogar angenommen worden. Das einzige Problem ist nur, wie bringe ich das Mutter und Vater bei."
Darauf hatte Sam leider keine Antwort. Die Frage nach der geeigneten Universität stand ihr noch bevor, aber sie wollte sich jetzt nicht damit auseinandersetzen. Viel zu sehr genoss sie die Tage in Deutschland und je länger sie sich in Frankfurt aufhielt, desto weniger konnte sie nachvollziehen, warum ihre Eltern damals ausgewandert waren. Kenia war ohne Zweifel ein wundervolles Land - das Wetter war beständig, die Menschen freundlich, doch es war noch in seiner Entwicklungsphase. Es gab nicht den Fortschritt, den Deutschland zu bieten hatte und es gab Wildtiere, die einen bei lebendigem Leib auffraßen oder zertrampelten, wenn sie die Chance dazu bekamen. Die Wochen vergingen und Sam wurde bewusst, wie wohltuend es war, morgens aus dem Haus gehen zu können, ohne vorher vom Fenster aus zu kontrollieren, ob alle Gehege sicher verschlossen waren.
Als für Sam die letzte Urlaubswoche anbrach und sie mit Claudia nach Bayern fuhr, hatte sie noch immer keinen einzigen Blick in die Broschüre möglicher Universitäten in Afrika geworfen. Sie schob diese Aufgabe vor sich her, wie ein lästiges Übel. Jeden Tag nahm sie sich vor, sich endlich damit zu befassen, obwohl in ihrem Unterbewusstsein schon längst eine ganz andere Möglichkeit mit einem ganz anderen Problem aufkeimte.
Bayern war eine tolle Stadt. Auch Claudia hatte sie noch nie gesehen. Entgegen aller Vorurteile, waren die Menschen ganz normal gekleidet. Nur einzelne Frauen und Männer trugen Dirndl und Lederhosen.
Für jemanden, der das Hochdeutsch gewohnt war, war es eine enorme Umstellung, plötzlich von Bayrisch umgeben zu sein. Manchmal sprachen die Leute mit so starkem Dialekt, dass Sam und Claudia sich fühlten, als wären sie im Ausland. Als sie einen walrossbärtigen Mann mit Federhut und Spazierstock nach dem Weg zur Universität fragten, erklärte er ihnen bereitwillig und sehr genau, wo sie langgehen mussten. Nur leider halfen die Wortfetzen, die Sam und Claudia meinten zu verstehen, nicht viel und so fragten sie sich durch, bis sie eine einigermaßen brauchbare Wegbeschreibung zusammengebastelt hatten.
"Gut, dass hier wenigstens hochdeutsch geschrieben wird," sagte Claudia, die nur mit Hilfe der Straßenschilder nicht völlig orientierungslos war.
"Ich find's super," freute sich Sam. "Während deines Studiums wirst du ein Wörterbuch brauchen."
Claudia schnitt eine Grimasse und bog um die nächste Straßenecke. Auf einmal blieb sie wie vom Donner gerührt stehen und sperrte den Mund auf. In einiger Entfernung erhob sich vor ihnen ein riesiges rostrotes Gebäude. Es sah aus wie eine Burg aus dem letzten Jahrhundert mit so großen, parkähnlichen Rasenflächen, dass man darauf bequem die Fußballweltmeisterschaft hätte austragen können. Auch Sam war sprachlos. Noch nie hatte sie etwas prachtvolleres gesehen.
"Die Uni," flüsterte Claudia, "wir haben sie gefunden."
Sie gingen über die Anlage, an unzähligen Studenten vorbei, die auf dem Rasen in der Sonne oder zwischen Bäumen saßen, sich unterhielten oder in Bücher vertieft waren.
Es kam ihnen vor, als würden sie dem Gebäude kaum näher kommen, aber irgendwann gelangten sie doch zum Eingang und passierten die große, weit geöffnete Flügeltür. Im Innern war es dunkel und es dauerte seine Zeit, bis sich Sams und Claudias Augen daran gewöhnten.
Die Eingangshalle bestand aus dunklem Holz und grau-schwarzem Marmor, die sich über die Treppe, bis in die Gänge zogen.
Während Claudia diesen majestätischen Baustiel auf sich wirken ließ, schnappte Sam sich eine Broschüre, die vor der Tür des Sekretariats auslag. Sie folgte ihrer Freundin durch das Gebäude und überflog den Informationsteil.
Plötzlich stockte sie. "Claudia, wusstest du, dass man hier auch Archäologie studieren kann?"
Auf dem Weg zurück zum Hotel war Sam sehr schweigsam. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken.
War es denn möglich? War es das, was sie wollte? Wie würden ihre Eltern reagieren? Ihr blieb nicht mehr viel Zeit, um sich zu entscheiden.
In der Nacht konnte sie nicht schlafen. Es würde viele ihrer Probleme lösen, überlegte sie, aber war die Entfernung nicht zu groß?
Sam wälzte sich in ihrem Bett hin und her und kurz bevor ihre Augen letztendlich vor Müdigkeit zufielen, traf sie eine folgenschwere Entscheidung.
Der Tag der Abreise war gekommen.
Sam stand mit Claudia in der Flughafenhalle, nachdem sie eingecheckt hatte.
"Schade, dass du schon wieder gehen musst," sagte Claudia traurig. "Es wäre schön gewesen, wenn wir noch zusammen zurück nach Frankfurt gefahren wären."
"Ich weiß. Aber hey, ich komme ja bald wieder."
Claudias Miene hellte sich auf. "Jaaaa, ich kann's immer noch nicht glauben, dass du das wirklich machen willst."
Sam seufzte. "Ich auch nicht, aber ich weiß, dass es das Richtige ist. Seit ich mich dafür entschieden habe, fühle ich mich viel ruhiger und nicht mehr, wie ein zielloses Stück Treibholz."
Der Lautsprecher knackte und eine Stimme kündigte Sams Flug an.
"Ich halte dich wegen der Wohnung auf dem Laufenden und du sagst mir bescheid, wann du wieder nach Deutschland kommst." Claudia kämpfte eine Träne nieder, dann umarmten sie einander.
Als das Flugzeug wenig später abhob und Deutschland bald unter einer dicken Wolkendecke verschwunden war, begann Sams Magen zu rebellieren. Sie hatte weder Flugangst, noch etwas Falsches gegessen. Dieses, schon fast chronische Symptom, gehörte seit fünfzehn Jahren zu ihrem täglichen Leben. Doch zum ersten Mal, nahm Sam es nun bewusst wahr, denn zum ersten Mal, war es für eine kurze Zeit verschwunden gewesen.
Es war ein Zeichen der Angst. Eine Angst, mit der Sam gelernt hatte zu leben. Eine Angst, von der sie wusste, woher sie kam, es aber nie geschafft hatte, sie zu bezwingen.
Damals war alles angefangen. Damals, als ein tonneschwerer Elefantenbulle sie fast zertreten hätte und nur von ein paar beherzten Arbeitern und ihrem Vater daran gehindert worden war.
Seit diesem Vorfall wusste Sam, wie gefährlich Tiere sein konnten und kein Versuch ihrer Eltern, sie vom Gegenteil zu überzeugen, hatte ihre Meinung geändert.
Jede Minute, die sie auf der Farm verbrachte, war wie ein Käfig. Ein Käfig aus dünnen Papierstreifen, die im nächsten Augenblick zerreißen konnten und sie den Zähnen und Hufen der Wildtiere preisgab.
Sie hätte nie gedacht, diesem lähmenden Gefühl jemals entkommen zu können, doch sie erinnerte sich noch gut an ihre erste Nacht bei den Dornfelds. Es war so beruhigend gewesen, so gefahrlos und befreiend. Nie hatte sie besser schlafen können, war entspannter oder fröhlicher gewesen, als in den letzten Wochen.
Sam vermisste ihre Eltern, ihre Freunde in Kenia und sogar ein wenig die Monotonie, aber sie fühlte sich niemals richtig wohl oder heimisch, denn die Angst war dort ihr ständiger Begleiter.
So flog sie nun nach Afrika, mit einer schweren Aufgabe im Gepäck. Zum einen, musste sie den Tieren der Steppe wieder gegenübertreten und zum anderen, hatte sie ihren Eltern zu erklären, dass sie sich endlich an einer Universität einschreiben wollte - und zwar in Deutschland.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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