Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Pflastersteine

© Andrea Linz-Schlippe


Es bestand kein Zweifel mehr: sie war eine Art Ersatz für Robin, seine Freundin zu Hause. Sie hatte es instinktiv gespürt. Was nun? Normalerweise müsste sie sich auf der Stelle empört, naserümpfend von ihm distanzieren, trennen. Sie musste reagieren. Musste sie? Sie wollte einfach nicht. Es war nicht mehr möglich. Schon zu sehr hatte sie sich auf ihn eingelassen. Sie war ihm tatsächlich auf den Leim gegangen und klebte fest. Er bereits zu ihrer Droge geworden. Ihre Nase hatte schon zu tief in den dunklen, vom Regen nassen Locken gesteckt, hatte zu viel vom Geruch des Wollpullis und der Seife eingeatmet und wollte nicht mehr darauf verzichten, wollte immer mehr davon. Ohne Rücksicht auf mögliche Konsequenzen.
Sie entschied sich fürs Weitermachen. Das Leben ging weiter, webte jeden Tag neue bunte Fäden.
Gut, sollte er sich eben bei ihr Trost holen, wenn seine weit entfernte Freundin mal wieder längere Zeit nicht geschrieben hatte. Sie überging allzu großzügig die Tatsache, dass er deren Existenz mit keinem Wort erwähnt hatte. In absehbarer Zeit musste er ja sowieso wieder zurück zu ihr, zu dem Ort, wo sich sein Hauptleben abspielte. Irgendwo in ihrem Herzen war es ihr auch ganz recht so. Eine zeitlich klar umrissenen Beziehung, Nähe und Intensität auf Zeit. Das schien ihr ein brauchbares Modell für ihr Leben zu sein.
Alles hatte sich über die Musik ergeben. Er spielte so schön, dass sie einfach immer dabei sein und zuhören wollte, seine Nähe suchte und es zuließ, dass die Musik ihren Weg allmählich in ihr Herz fand. So war es einfach gekommen, dass sie ein Paar wurden.
Eines Tages berichtete ihre Freundin, Tim hätte auf einem Fest mit einer anderen Frau geschmust. Sie entschied, es einfach zu ignorieren, es zu übergehen. Es gelang ihr so gut, dass sie die Kunde nicht beunruhigte, auch nicht insgeheim, im Stillen. Ja, sie vergaß sie komplett. Bis zu der Nacht, als es ungeduldig an seine Tür klopfte. Sein Name wurde sehnsuchtsvoll, kummervoll ausgesprochen, das Klopfen verzweifelt wiederholt. Er antwortete zögernd, er sei bereits im Bett. Doch kein Wort von ihrer Anwesenheit, sie war gelähmt, kein Wort kam ihr über die Lippen, keine Bewegung entfloh ihr, war wie erstarrt, etwas was zerbrochen und daran gestorben, sie fühlte nichts, spürte nichts. Nach einer langen Ewigkeit - draußen war es schon lange wieder still geworden - erhob sie sich taumelnd vom Bett und setzte sich in Richtung Stuhl in Bewegung. In der Dunkelheit des Zimmers fischte sie nach ihrem Hemd, schweigend. Niemand versuchte sie daran zu hindern, ja geschweige denn aufzuhalten. Es wurden Worte gesagt, die rechtfertigen sollten, warum er Interesse an der anderen gezeigt hatte, was die andere offenbar ermuntert hatte, so weit zu ihm vorzudringen. Sie fühlte nichts, was sie dazu brachte zu antworten, wortlos kleidete sie sich fertig an. Sie entgegnete nichts zu ihrer Verteidigung. Sie erinnerte sich an nichts Weiteres mehr bis sie draußen in der dunklen Kälte ging über den Hof mit den unebenen überdimensional großen Pflastersteinen. Irgendwie gelangte sie in ihr dunkles Zimmer, beließ es im Dunklen, legte sich hin, verbat sich zu fühlen, zu denken, wollte nur ruhen.
Solche Erinnerungen ließen sich nicht einfach abschütteln wie Regentropfen von einer Regenjacke. Nun war sie diesem Mann nach Jahrzehnten wieder begegnet. Ihre Wege hatten sich auf den unübersehbaren Weiten ihres Berufsfeldes gekreuzt. Als Lektorin eines Verlages hatte sie gerade die Arbeit eines Kollegen übernommen, der plötzlich erkrankt war. Ein Manuskript hatte er ihr besonders ans Herz gelegt. Als sie den Namen des Verfassers las, erschrak sie unwillkürlich und ihr Herz begann laut zu klopfen. Sie fing sich jedoch bald wieder und überlegte, wie sie sich nun weiter verhalten könnte. Da sie sich ihrem Kollegen gegenüber verpflichtet fühlte, schied die Möglichkeit, das Manuskript einfach irgendwie unter den Tisch fallen zu lassen, von vornherein aus. Dann siegte eine bestimmte Neugier in ihr. Mein Gott, sie war doch längst eine abgeklärte, erwachsene Frau geworden, die die Ereignisse von damals gut verkraftet und restlos verarbeitet hatte. An das Loch, in das sie damals gestürzt war, erinnerte sie sich nur noch vage. Auf ihre E-Mail zur Kontaktaufnahme hin hatte er sich überrascht und erfreut gemeldet. Als der vereinbarte Termin näher rückte, an dem sie mit ihm die Modalitäten und Voraussetzungen zu einer möglichen Veröffentlichung besprechen sollte, registrierte sie eine wachsende innere Unruhe. Tage vorher zerbrach sie sich schon den Kopf darüber, welches Kostüm sie tragen sollte. Sie schalt sich deswegen, denn diesmal saß sie am längeren Hebel, er wollte etwas von ihr und war daher auf ihre Gunst angewiesen und nicht umgekehrt.
Rein äußerlich hatte er sich kaum verändert mit Ausnahme seiner Haare. Seine ehemals lange herrliche Haarpracht trug er nun kurz, die Locken hatten sich geglättet und ihre Fülle hatte sich merklich reduziert. Er war schlicht ergraut. Er wirkte auf sie vorsichtig, zurückhaltend und ein wenig farblos. Überraschend bald gab er vor, zu einem weitern wichtigen Termin eilen zu müssen. Ein wenig kopfschüttelnd nahm sie dies zur Kenntnis.
In den folgenden Wochen stellte sich heraus, dass er mit ihren Änderungsvorschlägen weitgehend einverstanden war, wo nicht, entwickelte sich eine überaus lebendige und bereichernde Diskussion, die sich erfreulicherweise bald weit über das beruflich abgesteckte Thema hinaus entwickelte. Schon lange hat sie einen dermaßen regen Gedankenaustausch vermisst. Nun konnte sie es sehr genießen, diesen Schlagabtausch mit einem ihr ebenbürtigen Partner.
Nach einer Verabredung zu einem Kinofilm - ihrer beider Hobby, in dem sich berufliches und privates Interesse ideal mischten - geschah es dann: wie selbstverständlich fanden ihre Lippen zueinander. Der Zufall wollte es, dass das kleine Café, in dem sie sich noch kurz stärken wollten, bevor jeder wieder zu sich nach Hause fuhr, dieselben Songs als Hintergrundmusik aufgelegt hatte, wie er sie damals auf seiner Gitarre zu spielen pflegte. Alles war verzaubert. Es erwuchs nun ein Miteinander, welches mehr war als nur eine Affäre.
Dieses Hochgefühl, Glücksgefühl vor ihren Treffen, die Nähe, das Streicheln seiner Hand über ihre Wange, sie fühlte es, hörte es gleichzeitig, das unbeschreiblich lebendige Gefühl ihrer Lippen, so als lerne sie sie jetzt erst richtig kennen. So als wache sie erst richtig auf, erkenne erst jetzt viele Möglichkeiten, die ihr bisher nicht zugänglich waren. Sie lebte auf
diese Treffen hin und genoss ihr Aufleben. Sie war ein einziges Konglomerat aus Wärme, Glück, Lächeln, Zufriedenheit, Erfüllung.
Für ein langes Wochenende waren sie aufs Land gefahren und genossen ihre gemeinsame Zeit in einem ruhigen Gasthof. Abseits vom Stadtrummel war es die reinste Erholung und so erlaubten sie sich nach dem späten Frühstück noch einmal in die Federn zu schlüpfen. Sie dösten vor sich hin, als sich im Flur energische Schritte näherten und jemand einen Schlüssel in das Schloss ihrer Zimmertür zu stecken versuchte. Halb aus den Augenwinkeln registrierte sie, dass Tim sich erschreckt aufrichtete und sie mit ängstlichen Augen ansah. Ihr war klar, dass es sich nur um ein Missverständnis handeln konnte und dass sich jemand in der Tür geirrt haben musste. Gleichzeitig schmeichelte ihr der Eindruck, dass sie ihn vor der bösen Welt draußen schützen müsste und sie fühlte sich auch stark und mächtig. "Hier ist bereits belegt", rief sie mit lauter, fester Stimme. Die Leute draußen murmelten eine Entschuldigung und zogen sich zurück.
Sie fühlte sich stark und mutig, war stolz auf ihre schnelle Reaktion, darauf, dass sie nicht gelähmt war und erschrocken so wie er.
Er würde wieder nicht zu ihr stehen. Doch das war ihr gleichgültig. Sie war nicht auf ihn angewiesen, sie brauchte ihn nicht unbedingt, um zu leben.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Attraktivitätsforschung «««
»»» Haarausfall «««
»»» Schmetterlinge «««
»»» Schmetterlinge «««
»»» Pusteblumen «««
»»» Wintergedichte «««
»»» Wintergedichte «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Naturgedichte «««
»»» Liebesgedichte «««
»»» HOME PAGE «««