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Halluzis auf der Siegerstraße oder Wie ich die Welt doch nicht rettete

© Ingo J. Freitag


1986 war für mich ein Jahr mit vielen Ungewissheiten. Auf nichts konnte ich mich mehr verlassen. Nicht einmal auf das Horoskop in der Bild-Zeitung.
Das dumme Muckelvieh, auf das ich mein letztes Geld gesetzt hatte, blieb einfach in der Startbox stehen. Ich Idiot hatte natürlich auf Sieg getippt und dafür meine wertvolle Leergutsammlung aufgelöst. Es sah ganz danach aus, als ob ich mir mal wieder eine bezahlte Arbeit suchen müsste.
"Was haben Sie denn bisher so alles gefahren, Herr Massanek?", fragte der Spediteur.
"Alles was die Bundeswehr zu bieten hat". Die damit verbundenen Schadensmeldungen erwähnte ich lieber nicht.
"Vor allem ist es mir wichtig, dass ein Fahrer zuverlässig und sicher fährt. Der letzte Fahrer hat drei Unfälle gebaut. Das kann ich mir nicht mehr leisten."
Ich merkte natürlich sofort, dass ich hier am richtigen Platz war und schob die Frage hinterher, was denn kohlemässig so rüberkäme.
"80 Mark pro Nacht, sechs Mal die Woche, direkt auf die Kralle, Karl. Ich darf Dich doch Karl nennen?"
Wenn er noch ´nen Zwanni drauflegte, durfte er mich Charly oder sonst wie nennen. Aber dafür war er dann doch zu geizig.
41 Kunden pro Nacht... wären für eine Nutte eine stolze Zahl gewesen. Doch meine Kunden waren 41 Supermärkte. 41 mal Anhalten, Aussteigen, Be- und Entladen.
Die Nachtschicht war hart. Ich wurde Träger der "Goldenen Tablette am Bande" der internationalen Pharmaindustrie und schlief nur am Ende des Monats. Mein übermüdetes Hirn gaukelte mir Trugbilder vor. Die Straßen änderten unerwartet ihren Verlauf.
Ich war kurz davor endgültig abzuschnappen, aber ich befand mich wieder auf der Siegerstraße. Was ich auch anpackte... mir gelang einfach alles.
Immer um Mitternacht trat ich meinen Job an. Arbeitete "schwarz" bis in den Morgen und ging dann zum Frühstück ins "Jubs", dem Treffpunkt aller ernsthaften Alkoholiker und Zocker zwischen Westerholt und Wanne-Eickel. Am frühen Nachmittag hatte ich dann in der Regel den Amateuren die Kohle abgenommen und fuhr zu einem der legalen Buchmacher, um ein paar ebenso legale Wetten abzuschließen. Ich setzte nur auf Pferde. Meistens auf Platz, selten auf Sieg. Fußball hatte mich dagegen nie interessiert. Abends legte ich mich für zwei bis drei Stunden aufs Ohr. Nur Mittwochs und Freitags versuchte ich mein Glück direkt an der Trabrennbahn. Und ich kann euch sagen, ich kam mir vor wie ein mittelalterlicher Alchimist: Ich konnte aus Scheiße Gold machen.
Nach nur drei Monaten fuhr ich einen goldfarbenen Cadillac Fleetwood mit Autotelefon. Dabei ging ich aber weiterhin zweigleisig vor: vertraute einerseits auf das Gesetz der Serie und fuhr andererseits nachts weiterhin den Truck.
Immer wenn ich die Karten aufnahm, den Wettschein ausfüllte oder einfach nur einen Parkplatz suchte, wurden meine Hände von einer wohligen Wärme durchströmt... und alles wurde gut. Bis zu jenem verschneiten Samstag, dem 28. Februar 1987.
Ich hatte gerade den schweren Diesel angelassen um von der matschigen Laderampe eines EDEKA-Marktes wegzukommen, als mitten aus dem Nichts ein spärlich beleuchtetes, schwarzes Oldtimer-Cabrio vorbeiröhrte. Offen! Darin saß ein junger Mann mit Piratengesicht im schwarzen Anzug. Ich konnte seine lange, dunkle Mähne im Fahrtwind flattern sehen. Offensichtlich war ich doch nicht der einzige normale Mensch hier. Es gab noch Hoffnung für dieses Land.
Da tauchte im Lichtkegel meiner Scheinwerfer eine grauhaarige Frau im weißen Umhang auf und breitete ihre Arme aus. Etwa so, wie ein übernächtigter Angler, der von einem legendären Fang erzählen will. Na ja, Angeln entspannt, kolossal... dachte ich noch, da saß die Alte auch schon neben meinem Six-Pack.
"Folge dem Cabrio!", sprach die weiße Frau mit brüchiger Stimme.
"Warum sollte ich das tun? Und: Finger weg von meinem Bier". Da verstand ich keinen Spaß.
"Schnell, er darf nicht entkommen.", drängelte die Alte.
"Sieht das hier wie ein Taxi aus? Hab ich meinen Laster zahnsteinfarben angemalt, oder was?"
"Du musst ihn einholen, bevor er wieder in die Unterwelt abtaucht!"
Der Motor war wohl zu laut und ich hörte nicht recht.
"Den Piraten einholen? Mit meiner Bananenschaukel?"
"Nur du kannst ihn aufhalten und die Welt retten!"
Mit theatralisch besorgter Miene versuchte sie mich einzulullen. Die suchte sicher eine billige Mitfahrgelegenheit.
Die Schnepfe sonderte erlesene Flüche ab und ich sah, dass ihr ein Schneidezahn fehlte. Noch nie hatte ich jemanden mit Zahnlücke so deutlich fluchen hören. Und schon setzte sich mein Laster in Bewegung.
Ich stieg auf die Bremse, doch nichts geschah.
Wir wurden immer schneller. Es schien fast, als ob mein LKW über die Straße schwebte. Und schon sah ich das Cabrio wieder vor mir. Allmählich wurde ich wirklich sauer.
"Halt die Schleuder an oder es setzt was, Olle."
"Das bin ich gar nicht!", protestierte die Alte. "Das bist du selber, der den Wagen fährt. Denn in Wirklichkeit willst du die Welt doch retten. Das sind deine inneren Kräfte!"
"Innere Kräfte? Die verspüre ich nur auf dem Scheißhaus!", gab ich zurück. Ich glaubte der Alten kein Wort.
"Natürlich hast du innere Kräfte. Du hast doch wohl nicht geglaubt, du hättest eine Glückssträhne oder eine Goldene Serie", keifte sie. "Du bist Auserwählt!"
"Auserwählt? Jeder nur ein Kreuz, oder wie?" Ich hatte die Schnauze voll, bis oben hin voll. "In einer Stunde habe ich Feierabend. Das Wochenende gehört mir. Mir allein... von Samstagmorgen bis Sonntagabend."
Schweren Herzens schnappte ich mir den Six-Pack und ließ ihn über ihrem linken Ohr zerschellen. Andechs Doppelbock. Sieben Prozent. Das haute rein.
Wie ein kaputter Klappstuhl flog die alte Zicke durch die sich wie von Geisterhand öffnende Beifahrertür heraus und verschmolz mit dem Schnee.
Seit diesem 28. Februar 1987 habe ich nie wieder Glück gehabt. Meistens finde ich noch nicht einmal einen Parkplatz.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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