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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Brunnensitzung

© Brigantine


Wieder mal nach einer halben Ewigkeit fuhr ich auf meinem Fahrrad ziellos durch die Stadt. Die roten Ampeln ignorierte ich dabei fast vollständig und nahm anderen Verkehrsteilnehmern rücksichtslos die Vorfahrt. Wütende Blicke und hastige Formulierungen folgten diesen Aktionen. Aber was scherte mich das.
Einige Minuten war ich mittlerweile unterwegs, als meine Augen den Brunnen streiften. Ich überlegte, mich hier für eine Weile niederzulassen. Das Wetter lud auch mehr oder weniger dazu ein. Der Gedanke behagte mir und darum hielt ich nach einem freien Fleckchen Ausschau. Dabei fiel mein Blick auf verschiedene Gruppen, die den Brunnen auch für sich entdeckt hatten. Punks, Obdachlose sowie Touristen bevölkerten diesen Ort scharenweise.
An einer Seite erspähte ich eine freie Stelle, die ich auch gleich okkupierte. Das rege Treiben der hetzenden Meute, die sich ständig zu erneuern schien, hielt für einige Sekunden mein Interesse in Atem. Mit einer Zigarette zwischen meinen Lippen kehrte ich wieder zu den Ereignissen, der vergangenen Tage zurück. Auf einmal hörte ich eine Stimme neben mir und blickte auf. Ich schaute in das Gesicht eines Mannes, der mir eine Obdachlosenzeitung verkaufen wollte. "Auch das noch!", dachte ich bei mir. Mit einer abwehrenden Geste und den Worten "Nein danke.", versuchte ich den Typen loszuwerden. Es half nicht. Ich kramte in meiner Geldbörse nach ein paar Münzen und hielt sie ihm hin. Mehr gab es bei mir eh nicht zu holen. Der Typ wehrte ab. Stattdessen setzte er sich ohne Aufforderung neben mich. Verblüffte starrte ich ihn für ein paar Sekunden an. Mit einem gewissen Unbehagen im Nacken blieb ich auf meinem Platz wie angeklebt sitzen.
Die Zeit verrann und keiner gab einen Laut von sich. Einigen Minuten später begann ich mir wieder eine Zigarette zu drehen und bot auch meinem Nachbarn den Tabak an. Er lächelte mich freundlich an und nahm die Packung in Empfang.
"Warum bist du so traurig ?" wollte er nach ein paar Minuten schweigsamen Abbrennens der Zigaretten wissen. Er wiederholte seine Frage noch einmal. Ich schaute ihn an. "Woher willst du wissen, dass ich das bin!" Er drückte seine Zigarette aus und sagte in ruhigem Ton: "Es sind deine Augen." Es wurde wieder still. Während des kurzen Aufblickens hatte ich ein paar kleine Details bei ihm ausmachen können. Die rief ich mir jetzt wieder ins Gedächtnis. Viel war ja nicht hängen geblieben in dem kurzen Moment der Betrachtung. Groß war er nicht, sein Gesicht zeigte einige tiefe Falten und seine Haare hatten schon reichlich graue Anteile.
"Übrigens ich heiße Kurt.", hörte ich ihn auf einmal sagen.
Ich kam mir in die Ecke gedrängt vor. Eine Aussage bedingt die nächste, dementsprechend wäre ich jetzt am Zug. Ich mag meinen Namen nicht, nie habe ich mich recht mit ihm identifizieren können. Warum auch. Im Zeitalter des Worldwildweb, kann man ja gut seine Anonymität wahren. So lernte ich auch meinen letzten Freund kennen. Die Pheromone überschütteten meinen Körper beim ersten realen Treffen. Und sie blieben, bis er mich vor ein paar Wochen ins Nichts katapultierte. Jetzt sitze ich hier, fern von mir selber neben einem Menschen, der mir vor ein paar Sekunden seinen Namen anvertraute.
Ich holte tief Lust und flüsterte: "Lena."
Ab und zu kamen Leute vorbei, denen man ansah, dass sie schon eine Weile auf der Strasse lebten. Einige von ihnen grüßten Kurt kurz und gingen dann ihrer Wege. Nur einer kam direkt auf ihn zu. Er saß im Rollstuhl und war äußerst schmächtig. Irgendwie erinnerte er mich an eine legendäre Person aus meinem Heimatort. Jedes mal kurz vor den großen Sommerferien bekamen wir eine Belehrung von unserer Lehrerin. Sie beendete ihre Unterweisung stets mit dem Rollstuhlfahrer, der sich mit gerade mal 15 Jahren selbst darein manövriert hatte. Ein Kopfsprung in ein Baggerloch unbekannter Tiefe, und seitdem eine abschreckendes Beispiel für unüberlegtes Machoverhalten in einer Kleinstadt. Über die Jahre hinweg vergaß man, in welchem See es passiert war. Alle waren sich nur sicher, dass es irgendwo in der Nähe gewesen sein musste.
Wieder kramte ich meine Tabakutensilien hervor und reichte sie weiter. Es war wie ein vertrautes Ritual. Verstehen ohne Blick- und Tonwiedergabe.
"Iccchh braaauche Gggeeld!", gab der Neue in der Runde von sich. Sein Gesicht verzerrte sich mit jedem Wort, das er aussprach, aufs Neue. Die Wörter kamen nur stoßweise zum Vorschein und waren kaum verständlich. "Keine Zeit!", gab mein Nachbar von sich, "das siehst du doch!".
Damit gab sich der Ankömmling nicht zufrieden und blieb dort stehen, wo er gerade war. "Gggib mmimir eeine Kkikippe!"
"Habe keine Eigenen!" konterte mein Nachbar.
Die Augen, der Person, die unser kleines schweigendes Duett störte, schienen aus den Augenhöhlen herauszutreten. Irgendwie schien in ihm eine Spur von Eifersucht aufzukeimen. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich ihn unauffällig. Er fuchtelte mit seinen Armen hilflos in der Luft herum und gab wütende Töne von sich. Der Rollstuhl wippte dabei leicht auf und ab. Mein Nachbar stand auf und ging hinter den Rollstuhl. Kurz kramte er in einem dort befestigten Beutel und legte ihm etwas auf den Schoss.
Ich konnte einen OTTO- Katalog ausmachen und kurz darauf ein Gesicht darüber mit einem breiten zufriedenen Lächeln.
"Tja ja, jeder hat sein spezielles Beruhigungsmittel.", kommentierte Kurt die Verwandlung unseres Gegenübers und ließ sich wieder auf dem Brunnenrand nieder.
Ich war baff. Wie kann man sich mit ein paar bunten Bildchen zufrieden geben? Warum klappte das bei mir nicht. Seit Wochen vielleicht schon seit Jahren suche ich nach etwas, das mein Leben wieder bunter werden lässt.
"Was für eine Sorte Wein magst du eigentlich?". "Rot und trocken", gab ich mechanisch von mir. Kurt stand auf und sagte kurz: "Bin gleich wieder da!" Inzwischen war die Sonne hinter den Häusern verschwunden und ich begann leicht zu frösteln. Ich bemerkte zum ersten Mal, dass mein Magen sich regte. Viel hatte ich ihm in den letzten Tagen nicht dargeboten. Nicht mal ein Kleinkind hätte sich damit zufrieden geben wollen. Über meinen Körper konnte ich mich eigentlich nicht beklagen. Er funktionierte mein Leben lang tadellos. Nur den Raubbau, dem ich ihn in der letzten Zeit ausgesetzt hatte, nahm er mir sehr übel. Oft fehlte mir die Kraft einen Schritt vor den anderen zu machen. Das Fahrrad blieb deswegen häufig nutzlos in der Ecke stehen. Das machte mir arg zu schaffen. Normalerweise brauchte ich meine tägliche Tour von 15 km. Doch daran war in meinem jetzigen Zustand nicht zu denken. Heute schaffte ich es mal nach Ewigkeiten wieder an einer Käsestulle zu knabbern. Meine Geschmacksknospen reagierten zwar auf diese Aktion wieder mal mit totaler Ignoranz, aber zu mindestens fühlte ich mich wieder ein wenig in der Lage dazu, eine kleine Pedaltour zu machen.
Keine Ahnung wie viel Zeit verstrichen war, bis auf einmal eine Flasche vor meinem Gesicht hin und hergeschwenkt wurde. Meinen Körper erfasste bei dem Anblick des Weines eine leichte Vorfreude. Doch dann schoss mir ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf. Ich war so pleite im Moment. Die letzten Münzen aus meiner Geldbörse hatte ich ja weggegeben. Das kleine Glücksgefühl schien sofort wieder im Keim zu ersticken.
"Meinst du, ich verdiene so schlecht auf der Strasse, dass ich nicht mal jemanden einladen kann!", streute Kurt in meine Gedankengänge ein. Er hebelte schnell den Korken aus der Flasche und goss das Getränk in zwei Plastikbecher. Nach ein paar Schlücken durchströmte meinen Körper ein wohliges Gefühl. Die letzten Tage hatte ich mir täglich mit irgend einem billigen Fusel den Kopf zugedröhnt. Ich wollte die Häuserblocks der realen Welt um mich herum einstürzen lassen, am liebsten für immer. Doch jeden Morgen, wenn ich wieder die Augen aufmachte, war sie so präsent wie vorher. Was für ein Scheißgefühl und das tagaus, tagein.
Kurt begann leise von seinem Leben zu berichten. Seine Stimme hatte etwas, was meinen Unrat an Gedanken hinfort spülte. Langsam wie ein ruhiger Fluss sah ich die Bilder wie kleine Boote davonschwimmen. Obwohl alle schwer beladen waren und dementsprechend Tiefgang hatten, wirkten sie, als ob sie die ganze Zeit nur darauf gewartet hatten, endlich ihre Fahrt antreten zu können. Es war der Startpfiff, der ihnen die ganze Zeit die Abfahrt verwehrt hatte.
Manchmal komme ich auf meinen Wegen durch die Stadt an dem Brunnen vorbei. Und jedes Mal ist mein Blick auf der Suche, nach der Person, die mir dabei geholfen hatte, meine kleinen Segelboote endlich zu Wasser zu lassen. Ab und zu sehe ich ihn noch in Gedanken neben mir sitzen und höre seine sanften Worte, von einem wirklich zerfurchten Leben ...



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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