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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Fund

© Niklas Ganz


Im September wurde Niklas achtundsechzig Jahre alt. Seit achtundvierzig Jahren arbeitete er als freiberuflicher Programmierer. Am Abend seines Geburtstags sah er im Flughafenshuttle auf dem Weg nach Hause neben seinem rechten, am Morgen auf den Fuß geschäumten Schuh etwas liegen, das wie ein Buch aussah. Ein Buch war ihm schon lange nicht mehr untergekommen. Er bückte sich und hob es auf. Es war schwer. "Ewige Wiederkehr" prangte in antiken Goldlettern auf dem ledernen Deckel. Niklas vergaß auf die Nachrichten am halblichtdurchlässigen Shuttlefenster, schlug das Buch auf und blätterte darin.
"Erstes Kapitel. Wie Sie in der Zeit reisen können soviel Sie wollen. Die einzig wahre Theorie" verhieß es. Wenn es wahre Unterlagen zur "Ewigen Wiederkehr" gibt, so müssen sie jetzt schon existieren. Das ist doch klar, fand Niklas, und ein Stich in seinem Hinterkopf begleitete den Gedanken. Er blätterte weiter. Da stand etwas Fettgedrucktes. "Die neue Struktur, der Lebenskreis, kann sich selbständig durch Raum und Zeit bewegen." Dem Theoriekapitel folgten praktische Anleitungen.
Niklas las das Buch in der Nacht zu Ende. Es sollte ihn eine Abfolge von Handlungen an bestimmten Orten und Zeiten auf die richtige Umlaufbahn bringen, auf die Wiedergeburtschleife. Diese Handlungen bestünden für ihn darin, war denn das Buch speziell für ihn geschrieben worden, wunderte er sich, in seinen sieben Leben sieben mal seinen Tod zu erleben, dann würde er auf die Wiedergeburtumlaufbahn gelangen. Erst dort sei es von der Theorie her möglich, den von Natur aus offenen Lebensfaden zu einem geschlossenen zu verknüpfen, das heißt, mit diesem passiere das auf der Wiedergeburtumlaufbahn ganz von selbst. Wenn einmal Anfang und Ende des Lebensfadens zusammengeschlossen waren, dann handle es sich um eine neue Lebensstruktur, die in einer weiteren Dimension Freiheitsgrade habe.
Vermutungen über diese weitere Dimension habe es schon in Urzeiten gegeben und gibt es immer noch. In den Religionen. Auch sie ließen die Menschen Regeln befolgen, damit sie später einmal die Neue Dimension erreichten, in der sie sich außerhalb von Raum und Zeit bewegen können würden. Es war sehr viel auf einmal, und Niklas rieb sich wiederholt die Augen.
‚Die Formeln verstehe ich nicht. Aber ich will einfach nur das Gelesene befolgen. Es ist hier wie in den Religionen, man muss an der richtigen Stelle mit dem Fragen aufhören.' Durch die richtige Kurve in der Raum-Zeit-Bahn würden sich als erstes die Knoten, die sich in seinem Lebensfaden gebildet hatten, solange dieser unbeeinflusst in der Welt getrieben war, lösen. Erst ein entknoteter Faden ist lang genug, um zum Lebenskreis zu werden, der die Neue Eigenschaft in der Neuen Dimension besitzt. Ist aber doch ganz plausibel. Dennoch sei erst der Neue Lehrer darauf gekommen. Es gab bisher nur wenige Ausnahmen, Zufälle, sie wurden als Wunder angesehen, Menschen besaßen von Haus aus ihren Lebenskreis. Nun, er selbst würde nicht auf ein Wunder warten, sondern diese Gelegenheit nutzen und handeln. Man wusste bis heute nicht, wie der Neue Lehrer seine Theorie hatte entwickeln können. Der Autor des Buches hielt es daher auch für einen Zufall, dass der Neue Lehrer die richtigen Formeln entdeckt hatte.
Am nächsten Vormittag programmierte Niklas wie immer seine Reisecomputer-Interfaces. Seit etwa zwei Jahren waren Traumreisen der große Hit. Er hat auch schon Traumreise-Schulungen gehalten. Das würde er gern wieder tun. Seit der Trennung von seiner Jugendliebe Julia lebte er in Wohngemeinschaften. An diesen schätzte er die Um- und Aufbruchsstimmung, die vorübergehende Komponente. Die meisten seiner wechselnden Mitbewohner waren ewige Studenten, keine normalen Büroleute, die zehn Stunden weg wären. So sah man sich auch tagsüber. Die interdisziplinäre Sichtweise durch verschiedene Studienfächer der Mitbewohner hielt ihn lebendig. In einer Pause sah Niklas seinem liebsten Mitbewohner Gustav beim Frühstück zu. Dann stand er auf.
"Ich gehe kurz nach draußen." Gustav nickte.
Nieder stand die Sonne. Niklas besah die langen Schatten auf dem Boden. Dann fiel ihm eine blinkende Aufschrift in einiger Entfernung auf und er entzifferte sie. "Briefe hier billigst. Zehn Stück noch günstiger." ‚Wer will denn Briefe kaufen? Das Geschäft kenne ich nicht.'
Während er hinging, schoss es ihm durch den Kopf ‚Ich bin in der Zukunft.
Durch das Buch.' Hatte das Lesen im Buch bewirkt, dass er jetzt in ein anderes seiner sieben Leben gelangt war? Wenn es aber so einfach war, die Bedingung aus dem Buch zu erfüllen, wenn es von selbst passierte, würde er bald schon Zeit reisen können, sooft und wohin er wollte.
Nach einigen Minuten war er beim Briefgeschäft, die Tür ging auf, Pfeile führten nach rechts. Eine weitere Tür glitt zur Seite, das Rollband war zu Ende. Niklas stieg aus und ging hinein. Alles war in Schwarzweiß gehalten.
Ein Schwarzgekleideter begrüßte ihn und fragte, an welche Art Briefe er gedacht hätte. "Möglichst alte", verlangte Niklas. "Die ältesten, die wir lagernd haben, sind Kostbarkeiten aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts", bot der Verkäufer an. "So alt müssen sie nicht sein", meinte Niklas, "zwanzigstes Jahrhundert reicht." "Einen Moment, bitte." Der Verkäufer sprach zur Wand, die eine Auswahl an Brieftypen des zwanzigsten Jahrhunderts anzeigte. "Welche Art Briefe bevorzugen Sie?" "Ja, das ist eigentlich egal." "Wir können selbstverständlich eine Persönlichkeitsstrukturanalyse machen", schlug der Verkäufer vor. "Gut, wenn Sie wollen. Was muss ich tun?" Der Briefverkäufer deutete in die Ecke des Zimmers. "Bitte, nehmen Sie Platz." Niklas setzte sich in ein Sofa, dessen Lehne sich mit ihm sogleich tief nach hinten senkte. Er blickte an die Decke und dachte an das Zauberbuch. "Und schon kann es losgehen", äußerte der Verkäufer. Eine Kuppel kam von hinten und klappte über Niklas' Kopf zu.
"Entschuldigen Sie", Niklas sprach es schnell aus, bevor sich das Gerät ganz schloss.
"Ja?" Der Mann beantwortete seine Frage nicht verwundert. Man schreibe das Jahr Zweitausendfünfzig.
Niklas kam aus dem Geschäft mit zwanzig Briefen in der Tasche. Er ging nach Hause.
"Wie spät ist es?" fragte er Gustav, der immer noch da saß. "Mittag." Gustav ließ sich stets Zeit beim Frühstücken. Niklas öffnete seine Tasche. Die Briefe. Er besah den obersten und erkannte ihn wieder. Es war eine Einladung eines Schulfreundes zu seiner Geburtstagsfeier gewesen. Das Fest würde er gern noch einmal erleben. Vielleicht war ihm das bald schon möglich mit Hilfe des Buches, des Zeitreisenbuches. "Ob man wiedergeboren wird nach dem Tod?" "Ich weiß nicht, ob ich das will", antwortete Gustav "aber vielleicht kann man sich dann nicht an sein voriges Leben erinnern, so wie ich mich jetzt auch nicht an ein früheres erinnere." "Ja. Vielleicht ist der Tod zum Vergessen der traurigen Erlebnisse, die sich im Leben angesammelt haben, notwendig." Aber er, Niklas, hatte gestern das Buch gefunden. Er, Niklas würde neue, vielfältigere Lebenswege ergründen. ‚Nur für mich allein', soviel stand fest. ‚Zuerst. Und es irgendwann später Gustav beibringen.
Vielleicht.'
Niklas fuhr zu einem seiner Kunden. ‚Vielleicht ist es kein Zufall, dass gerade ich als Traumreisen-Entwickler das Buch gefunden habe', überlegte er, als er am Magnetschwebebahn-Bahnhof stand. ‚Ich teste meine Traumreisen oft selbst. Von Reisen aus kann man besonders gut Zeitreisen antreten, vermutete er. Herkömmliche Reisen könnten als Anlaufstrecke für Zeitreisen fungieren.
Wenn ein Zug kommt, vibrieren zuerst die Schienen. Lange Zeit schon bevor man ihn sieht. Dann taucht er aus der Ferne auf und in den Gesichtern der Wartenden. Ich war auch eine Schiene. Dann habe ich das Buch gefunden.'
Niklas stieg ein, ein Fensterplatz war frei. Die Landschaft floss vorbei. Er hatte Gustav einmal erzählt, dass er glaube, Zeit existiere nur subjektiv für die Menschen, und Bewegungen seien daher nur etwas Scheinbares. "Die so genannte Wirklichkeit ist bestimmt zu wenig für die Menschen. Und die Phantasie, die Vorstellungskraft, die über die Wirklichkeit hinausreicht, ist wiederum bestimmt nicht nur zum Probleme Lösen in der realen Welt gedacht, denn dazu allein wäre sie wohl zu schade" hatte Gustav geantwortet.
‚Wenn es klappt, dann überdenke ich mein Leben ganz neu, ganz von vorne', dachte Niklas ‚Ich glaube, es war nur Unsinn, was ich bisher getan habe.' Er blätterte wieder im Zeitreisenbuch. "Es gibt ein Großes Jahr, das immer und immer wiederkehrt", las er. ‚Ja, und dann werde ich radikal alles das zerstören, woran ich festgehalten habe, wenn es sich nicht als sinnvoll herausstellt. So etwas muss gehen. Halte ich an etwas fest, schnell zerstöre ich es in Zukunft. Das soll mein Prinzip sein. Denn nur was ich zerstört habe, macht Platz für Neues, das sich erst aus der Summe alles Alten entwickeln kann und daher besser sein muss als alles Vorhergegangene zusammen.' "'Und wie kam ich auf die Große Weisheit? Die Tiere sagten sie mir'", erzählte der Neue Lehrer im Buch. "'Wir wollen nicht immer wieder das gleiche Leben zur gleichen Zeit leben, wie Zarathustra es uns verkündet hat', sprachen die Tiere, ‚das wäre ja immer wieder nur das gleiche Leben zur gleichen Zeit.' Ich wanderte daher zur Höhle, in der Zarathustra hauste, suchte ihn auf und frug ihn: ‚Du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft.
Kannst du uns auch sagen, wie Tiere und Menschen auch zu anderen Zeiten und in verändertem Zustande wiederkehren könnten?' ‚Nein, das kann ich nicht', antwortete Zarathustra. ‚Solange ich lebe wird das nicht möglich sein.'
Darum tötete ich Zarathustra und so endete seine Macht." Dann ging der Neue Lehrer viele Jahre auf Reisen, um seine Weisheit zu vervollständigen. Später kam er in die Höhle zurück und gab seine Vollständige Weisheit an die Menschen und Tiere weiter, las Niklas. Er erzählte ihnen, wie das Leben aller Organismen vor sich ging, in allen Wirklichen Dimensionen. Und dann erklärte er ihnen in einer langen Rede, wie sie zu anderen Zeiten in verändertem Zustand wiederkehren könnten. Die Menschen staunten darüber sehr und verehrten den Neuen Lehrer genau so, wie sie früher Zarathustra verehrt hatten.
Es war mit den Zeitreisen wie mit diesem Vexierspiel, das ihm Gustav einmal geborgt hatte. Eine Eule mit Ringen, die man befreien musste. Die Lösung war immer da, aber nicht jeder konnte sie sehen. Dennoch ist sie für alle gültig. Er schaffte es erst nach zwei Tagen, die Ringe zu befreien, aber immerhin hatte er nicht gleich aufgegeben und es zusammengebracht. Gustav sagte übrigens auch über die Relativitätstheorie aus der Physik, dass sie im Prinzip einfach sei. Als Gustav ihm damals Gleichungen daraus zeigte, verstand Niklas aber gar nichts. Daraufhin hatte Gustav gescherzt, "Wenn du nicht einmal das verstehst, wie willst du dich dann mit Zeitreisen und diesem Zeug beschäftigen wollen?" Aber Niklas hatte entrüstet entgegnet, diese wären etwas ganz anderes. Er war sich zwar nicht sicher, ob Gustav nicht doch recht hatte, doch sein Interesse nahm in keiner Weise ab.
Abends spazierte er im Stadtpark herum. Gedankenverloren fand er einen Weg, der zu einer Holzbrücke über einen Fluss führte. Hier bin ich noch nie gewesen, stellte er fest. Während er über die Brücke schritt, erfasste ihn ein starker Windstoß, er musste sich am Geländer festhalten und dagegen ankämpfen, zurückgetrieben zu werden. Auf der anderen Seite war alles ruhig.
Eine Heidelandschaft lag da. Als er das kleine Häuschen sah, wusste er, wohin er zu gehen hatte. Er stieß die Türe auf. Warmer Dampf stieg ihm entgegen. Sie stand da. "Julia, du?" rief er aus. "Wo bist du gewesen?" "Überall. Ich muss zur Höhle, kommst du mit?" Sie nickte und er nahm ihre Hand. Draußen war es nebelig und dunkel für den Spätnachmittag. Die feuchten Büsche glänzten, das Gras war weich und nass. Sie überquerten die kleine Wiese und traten in den Wald ein, sprachen kein Wort. Die alte Vertrautheit hatte sich eingestellt, trotz ihrer langen Trennung. Nun schritten sie in die Alte Zeit hinein. Diese kreisförmige Zone befand sich mitten im Wald. Im Zentrum der des Jahres 557 lag die Höhle, die im Buch als Ausgangspunkt der Idee der Neuen Wiedergeburt beschrieben worden war.
Niklas und Julia erreichten den Höhleneingang. Der Nebel war dichter geworden, Rauchschwaden kamen aus der Öffnung. Vor dem Eingang, in einem kleinen, von Felsen überdachten Halbrund, kauerten drei Männer auf dem Lehm, Schafhirten, die sich grob gewobene Decken übergeworfen hatten. Einer der Männer schien zu schlafen, die anderen flüsterten. Eine kleine Mahlzeit war vor ihnen ausgebreitet. Niklas verspürte sofort Hunger, als er Käse und Brotklumpen sah. Als sie herankamen, blickten die Männer auf, begrüßten ihn mit Verbeugungen und bedeuteten ihm, sich zu ihnen zu setzen. Er erhielt sogleich zu essen und zu trinken. Julia blieb abseits stehen. Niklas bemerkte, dass sie nun ebenfalls in Decken und Lumpen gekleidet war, und auch er selbst hatte sich beim Überschreiten der Zeitgrenze verwandelt.
Niklas trat in die Düsternis ein. Die rissigen Wände warfen den Schein eines Feuers schwach zurück. Durch einen engen Gang gelangte er in eine Dom-artige Erweiterung der Höhle. Das Summen der dort am Boden kauernden Gestalten verstummte. Sie hoben ihre Blicke und sahen Niklas an, als ob sie ihn schon erwartet hätten. "Willkommen!", hob einer von ihnen an und die anderen fielen ein, ihm dies zuzurufen. Es folgte ein längeres Singen.
Einzelne trugen ihren Teil vor und der Chor antwortete. Es klang wie ein Heiliges, lang schon gesungenes Ritual und fügte sich in die Höhle ein, sodass Musik, Licht, Gedanken und Menschen eine Einheit waren. Niklas freute sich. "Männer", sagte er, "heute will ich Euch von der Neuen Wiedergeburt erzählen und Ihr sollt es hernach allen weitergeben". Die Männer staunten, sahen einander an und murmelten. Sie glaubten noch an die alte Ewige Wiederkehr, die vor langer Zeit Zarathustra verkündet hatte. Einer der Männer entzündete in einer Opferschale Gewürze. Niklas roch den Duft des Zimtes heraus, den er liebte. ‚Wo Zimt ist, fühle ich mich zuhause', er atmete tief ein. Und er fing zu predigen an. "Zarathustra predigte Euch von Angramanju und Ahura Masda. Ich aber erzähle Euch, Awesta, unser Heiliges Buch, wird durch mich Neu geschrieben werden. Männer! Hört, was ich Euch sage."



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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