Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Das Patenkind

© Maike Grau


Als Katja mir vor Jahren die Patenschaft für ihr erstes und bisher einziges Kind antrug, habe ich keine Sekunde gezögert. Ich wäre sogar beleidigt gewesen, wenn sie mich nicht gefragt hätte. Denn Katja war damals meine beste Freundin und ist es noch heute. Ich weiß gar nicht, was ich ohne Katja machen würde. Natürlich habe ich noch Einwände gebracht, dass von mir keine christliche Erziehung zu erwarten sei und all das. Aber Katja hat nur abgewinkt, die Augen gerollt und etwas von "alter Heidin" gemurmelt. Sie selber ist nämlich, als sie Tom heiraten wollte, schnell wieder in die Kirche eingetreten und konnte darum auf die Service-Leistungen "Hochzeit" und "Taufe" zurückgreifen. Na gut, das muss jeder selber wissen.
So eine Patenschaft ist keine üble Sache. Sie erfordert nicht viel, und man genießt einen minimalen Kontakt zu Kindern, ohne die Arbeit zu haben. Zur Taufe schenkte ich Nicki ein goldenes Kettchen, zum ersten Geburtstag eines von diesen monströsen, Töne von sich gebenden Spielzeugen aus buntem Plastik, zum zweiten Geburtstag ein Bibel-Bilderbuch (die christlichen Werte waren damit endgültig abgehandelt), zum dritten Geburtstag einen ökologisch geprüften Holzbauernhof. Danach wurde ich zu den Geburtstagen nicht mehr eingeladen, denn die Ehe mit Tom war kaputt, und er bekam vorläufig das Kind.
Tom war - ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll - das, was ich als einen Proll bezeichne. Das war ein echter Unterschied zwischen Katja und
mir: Ich schaute auf gut sitzende Anzüge und modische Krawatten, und Katja schleppte Typen aus dem Fitness-Center an, die ich mit der Feuerzange nicht hätte anfassen mögen. Dieser unterschiedliche Geschmack ist in meiner Freundschaft mit Katja immer praktisch gewesen, weil wir uns dadurch nie in die Quere kamen. Sie nannte mich fröhlich einen ekelhaften Snob und goutierte weiterhin die Art Männer mit zu langem Haar im Nacken, mit gebatikten Trainingshosen, Muscleshirt, Kettchen und künstlicher Bräune, gerne genommen auch mit Tattoo auf dem Oberarm. Tom hatte ein keltisches Emblem auf dem Hintern (wie ich von Katja wusste) und sah unbestreitbar gut aus, auf prollige Weise eben. Helle graue Augen, Grübchen, markante Backenknochen, ein zu massiver, durch zu viel Training aus den Nähten platzender Brustkorb bei kleiner Statur, solariumsbraun, blondierte Haare.
Katja betete ihn an. Jedenfalls tat sie das, solange er Arbeit hatte. Als er seinen Job verlor, fingen die Probleme an, und ihr Interesse an ihm begann zu schwinden. Da sie in der Zeit kurz nach der Trennung in ihrem Reisebüro gerade ernsthaft anfing, Geld zu verdienen, überließ sie Tom dann das Kind.
Ich kann mir nur denken, dass ihn dies für ihren raschen Rückzug aus der Ehe und ihren überstürzten Wechsel in eine neue Beziehung entschädigen sollte.
Vielleicht wollte auch ihr Neuer - hieß er nicht Mike, oder Marco? - nichts von dem Kind wissen. Verstehe das, wer will - sie hätte das Kind in der Obhut ihrer Eltern lassen sollen, statt es Tom zu geben.
Tom ist es jedenfalls zu verdanken, dessen bin ich mir sicher, dass Nicki jetzt mit zwölf ein kleiner Kotzbrocken ist. Sie wohnt seit drei Jahren wieder bei der Mutter, und ab und zu sehen wir uns. "Ey", sagt sie ständig.
Ey dies, ey das. Jedes dritte Wort ist "ey". Eine Angewohnheit, die mir fürchterlich auf den Geist geht. Nicki trägt abscheuliche rosa und orangefarbene T-Shirts mit Boarder- und Gangsta-Motiven drauf und hat sich schon mit acht Jahren die Ohren durchstechen lassen. Toms stahlgraue Augen hat sie zwar geerbt, aber in Kombination mit den weißblonden Wimpern ist das kein Gewinn. Sie könnte ein bisschen Mascara brauchen, aber für ein Schminkset zum Geburtstag war sie bisher noch zu jung. Meistens schaut sie gelangweilt und genervt drein, wickelt sich angelutschte rotblonde Haarsträhnen um die Finger und findet alles blöd, bis auf ein paar Sachen, die sie "Hammer" findet, die aber mich wiederum anöden: Eminem ist "Hammer", der Daniel aus ihrer Schule ist "Hammer", diese komischen japanischen Zeichentrick-Figuren - Mamba oder Manga oder so - sind "Hammer", BRAVO ist "Hammer." Zu ihrem letzten Geburtstag habe ich ihr darum Geld geschenkt, was sie freundlicherweise auch "Hammer" fand, bevor sie sich rasch wieder in ihr Zimmer verkrümelte.
Aktuell sehen wir uns täglich, denn Nicki wohnt jetzt für eine Woche bei mir. Ich bin die Babysitterin, während Katja mit einem Jeep durch die Wüste fährt. Katja ist eine richtige Trekking- und Outdoor-Tante geworden, weil ihr derzeitiger Freund Steven ein Australier mit einer Leidenschaft für Outback und Abenteuer ist und mit ihr "die Wüste er-fahren" möchte.
Plötzlich möchte auch Katja "die Wüste er-fahren". Allein der Ausdruck - mir wird ganz anders. Zum Glück ist sie trotzdem dieselbe Katja geblieben, und wenn Steven oder Ken oder wie er heißt nicht mehr aktuell ist, kann das Kapitel "Outdoor" auch wieder abgeschlossen werden.-
"Der Film war voll für'n Arsch", sagt Nicki.
Wir kommen aus dem Kino - ich habe in meiner Naivität gedacht, Nicki habe vielleicht Spaß daran, mit mir ins Kino zu gehen. Unglaublich, was Kinokarten jetzt kosten. In meiner Studienzeit war man mit ein paar Mark dabei, aber heute...
"Ach?" sage ich kühl. "Ich fand ihn gar nicht schlecht." "Voll langweilig, ey. Ich wusste sofort, wie es ausgeht." "So, das wusstest du also. Aber Matt Damon war doch nicht übel, oder?" sage ich kumpelhaft-anbiedernd, dabei kann ich Matt Damon mit seiner faden Aura eines Highschool-Lieblings und Baseball-Stars nicht ausstehen.
"Matt Damon ist auch für'n Arsch", sagt Nicki, und da sind wir uns ausnahmsweise mal einig. Ich bin aber trotzdem beleidigt, wegen der rausgeschmissenen Ausgabe der Kino-Karten und vor allem wegen meines Selbstbildes als tolle Patin, mit der man massenweise Spaß hat. Kann sie nicht wenigstens Matt Damon "Hammer" finden?
Wir sitzen auf dem Marktplatz. Ich habe zwei Portionen Fritten für uns gekauft, mit Ketchup und Majo. Als ich ein Kind war, waren Fritten für mich das Größte.
Nicki stochert auf ihrem Pappteller herum.
"Tom sagt, da ist Acrylamid drin", sagt sie.
"Du brauchst ja nicht davon zu essen", sage ich. "Keiner zwingt dich." "Davon kriegt man Krebs." Ich werde wütend und schäme mich gleichzeitig dafür. Das Schamgefühl macht mich noch wütender.
"Danke, jetzt hast du mir auch den Appetit versaut", sage ich und versuche, es wie einen Witz klingen zu lassen. Ich nehme ihr grob das fettige Schälchen aus der Hand und werfe es in den Mülleimer neben unserem Sitzplatz auf der Treppe.
"Kann ich lieber einen Cesar's Salad haben?" Ich stehe auf und wische mir die Hände an meinen Jeans ab. Hoffentlich hat meine neue Jacke nichts abgekriegt. "Klar, kein Problem. Sonst noch Wünsche?
"
Nicki wird plötzlich kleinlaut. "Mann ey, jetzt sei doch nicht gleich sauer.
" Darauf weiß ich nichts zu sagen. Wir gehen in einen dieser widerlichen Fastfood-Tempel, und sie bekommt ihren Cesar's Salad.
"Lass' lieber die Croutons weg, da ist sicher auch Acrylamid drin", sage ich gemein. Nicki sagt gar nichts mehr, aber sie schiebt die gerösteten kleinen Würfel an die Seite.
"Hat sich Mama eigentlich endlich gemeldet?" fragt sie plötzlich. Ihre Stimme ist dünn. Verdammt, natürlich vermisst das Kind seine Mutter. "Nein", sage ich. "Sie meldet sich bestimmt morgen aus dem Hotel. Vielleicht hatten sie einen Platten. Aber jetzt iss. So langsam ist Bettzeit für dich, und wir müssen den Bus erwischen." Ich fühle mich wie eine Versagerin. Das Kind meiner besten Freundin - warum kann ich nicht mehr für Nicki empfinden? Aber für mich ist sie inzwischen Toms Kind. Ein kleines nerviges Proll-Gör.
Natürlich verpassen wir den Bus. Nicki quasselt mich noch eine Weile voll mit den Zusammenfassungen ihrer Lieblingsfilme, dann wird sie still. Sie will mein Handy leihen und ihren Vater anrufen. Mein Handy findet sie Hammer. Kein Wunder, es hat eine Stange Geld gekostet. Die kleine Kröte weiß, was gut ist. Sie spricht mit ihrem Vater und reicht mir das Gerät dann weiter. Ein besorgter Tom ist dran, der sich Gedanken macht, weil Katjas Ankunft in der geplanten Etappe schon seit drei Tagen überfällig ist.
"Aber sag' dem Kind nichts", sagt Tom.
"Schon gut", sage ich. Ich werde mich hüten, das Kind mit unsinnigen Sorgen zu belasten.
Zuhause sitze ich noch auf dem dunklen Balkon und nippe an einem Martini.
Was für eine herrliche, verschwendete Sommernacht. Die Mischung aus Großstadtluft und dem Duft blühender Linden macht mich kribbelig und unzufrieden. Der Abend hat sich in keiner Weise so entwickelt, wie ich mir das vorgestellt hatte. Wäre ich gefragt worden, hätte ich heute mit Heiko ausgehen wollen, einer interessanten Neuentdeckung der letzten Wochen. Heiko arbeitet bei einer Werbeagentur, ist witzig, charmant, kennt die aktuellen Filme und Ausstellungen, trägt die richtigen Hemden und kann gut küssen.
Weiter sind wir noch nicht gekommen, aber dieser Abend hätte Abhilfe schaffen können. Nun werden wir warten müssen, bis Nicki wieder aus dem Haus ist. Bis dahin liegt mein Liebesleben auf Eis - soviel ist klar. Das Kind ist imstande, im falschen Moment an der Schlafzimmertür zu klopfen und nach einem Glas Cola zu fragen. Halt, nein, da sind sicher böse krebserregende Schadstoffe drin... Die kleine Klugscheißerin ist ja auf dem Öko-Trip.
Acrylamid! Davon redet längst kein Mensch mehr. Dass Tom sie noch vollstopfen muss mit seinen komischen Ängsten.
Wie hält Katja das bloß aus? Wie halten Mütter im allgemeinen das bloß aus?
Ich bin heilfroh, wenn Katja zurück ist. Warum dauert das bloß so lange? Sie wollte sich aus Paris melden, und nun hat sie, wenn man Tom glauben kann, nicht mal ihre komische Etappe in der Wüste erreicht. Vielleicht bleibt Nicki jetzt noch eine ganze Woche? Wenn Katja krank geworden wäre, würde ich sie natürlich in der Zwischenzeit bei mir behalten, Nervensäge hin oder her.
Das ist Ehrensache.
Etwas Beunruhigendes meldet sich, ein Erinnerungsfetzen, etwas, das mir wieder einfallen muss. Wie viele Martinis waren das jetzt schon - zwei, oder drei? Egal, morgen kann ich auch mal ein bisschen später auf die Arbeit gehen. Einer geht noch.
Was wäre, wenn Katja etwas zugestoßen wäre? Sicher, das ist total unwahrscheinlich. Aber was wäre dann, außer dass einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben fehlen würde? Was würde aus Nicki werden? Tom könnte sie nehmen. Aber der arbeitet wieder und kommt nur knapp über die Runden, wie ich von Katja weiß. Klar, für eine begrenzte Zeit, für eine Weile könnte das Mädel bei mir bleiben. Ich würde mich schon an sie gewöhnen.
Der dunkle Erinnerungsfetzen weht wieder durch meinen alkoholisierten Schädel. Hat Katja nicht mal etwas über Nicki gesagt? Nein, sie muss darüber geschrieben haben. Als sie von Tom frisch getrennt war und auf diesem Selbstverwirklichungstrip in Indien so krank geworden ist. Ja, richtig, in einem ihrer Briefe muss das sein.
Ich springe auf und eile mit großen Schritten zu meinem Schreibtisch.
Wichtige Briefe bewahre ich grundsätzlich auf, und Katjas Reiseberichte sind dabei - Zeugnisse unserer Freundschaft. Aber wo? Ich suche und suche. So viele Briefe von ihr - März '91, Dezember '93, Juni '94...
Endlich der dünne Luftpostumschlag, mit seidigen, dicht beschriebenen Papieren vollgestopft. Ankunft in Madras, zwei Wochen Fieber, Aufenthalt im Kloster, Trekkingtouren durch abgelegene Gegenden (hatte sie etwa damals schon etwas übrig für die Outdoor-Schiene?), Besuch von irgendwelchen Tempelanlagen, blablabla. Dann wird sie wieder krank, ein netter Holländer namens Piet kümmert sich um sie. Die letzte Seite. "Hoffe, Dich nächsten Monat wiederzusehen, ...sehe aus wie ein Klappergestell... muss wieder ein paar Pfunde auf die Rippen... mit Dir zusammen kochen... Abend auf dem Sofa wie früher, blablabla, Deine Katja. - P.S.: Es ist ein beruhigendes Gefühl, dass Du Dich im Fall des Falles (haha) um Nicki kümmern würdest. Du bist ihr immer eine tolle Patin gewesen und bist jetzt die einzige, die ich habe, seit ich Tom den Laufpass gegeben habe. Der wird sich jetzt wahrscheinlich das Hirn rauskiffen (haha). Danke für alles."
Ich sitze auf dem Boden zwischen all den Briefen und weiß, dass ich ziemlich betrunken bin. Plötzlich wird mir entsetzlich übel. "Ein beruhigendes Gefühl ". "Bist jetzt die einzige". Das "Danke für alles" macht es noch schlimmer.
Wie kommt Katja darauf, mich als Ersatzmutter einzuplanen? Ich wäre als Mutter eine Katastrophe. Ich bin froh, wenn ich mich um mich selber kümmern kann und nicht ein verstocktes, pubertierendes Blag mit spuckigen Haarzipfeln mit durchs Leben ziehen muss. Der Brief mag alt sein, aber er ist aktuell, da gibt es keine Frage. Wenn ich Nicki an Tom abschieben würde, wie immer er sich entwickelt haben mag, hätte ich für den Rest meines Lebens kein ruhiges Gewissen mehr.
Obwohl ich weiß, dass es eine katastrophale Idee ist, gieße ich mir noch einen letzten Martini ein. Mit einer fahrigen Bewegung stelle ich die leere Flasche ab. Sie fällt um. Es ist erst viertel vor elf. Das Kind fühlt sich jetzt sicher schlecht und unwillkommen. Macht sich Sorgen. Vielleicht heult sie in ihrem kleinen Gästebett. Ach, natürlich ist mit Katja alles in Ordnung. Nicki soll nicht so ein Drama abziehen. Mein Vater konnte das nicht leiden - wenn ich so viel geheult habe. Heul nicht. Beiß die Zähne zusammen.
Du bist jetzt die einzige, die sich hier um alles kümmern kann. Deine kleine Schwester hat noch nichts zu essen gekriegt. Mama kommt wieder, wenn sie ihr den Krebs wegoperiert haben. Bis dahin kann ich kein Geheule gebrauchen.
Trotzdem sitze ich jetzt hier und heule, und dabei ist mir schlecht; mein Magen krümmt sich zusammen, mir ist sterbenselend, und nur mit Mühe schaffe ich es bis zur Toilette. Ich würge und spucke bis zum letzten Tropfen Galle, dann lasse ich den Wasserhahn rauschen und wasche Gesicht und Hände, minutenlang.
Mit zitternden Fingern trockne ich mich ab, gehe langsam durch den Flur, auf das freundliche Licht im Wohnzimmer zu. Ich friere und fühle mich schwindelig. An der Tür zum Gästezimmer mache ich halt und lausche. Es ist kein Laut zu hören, aber ich spüre, dass Nicki wach ist. "Komm doch rein", höre ich sie plötzlich leise bitten. Sie setzt sich im Bett auf und klopft auf die Bettkante.
"Du hast auch geheult", stellt sie fest, als ich bei ihr sitze, mein verschwollenes Gesicht vom Flurlicht beschienen. Ich nehme sie ungeschickt in die Arme und tätschele ihre Schultern, was sie erwidert, als wäre sie die Erwachsene und nicht ich.
Mir fällt ein, dass ich eine schreckliche Fahne haben muss, aber das ist mir egal. "Ich habe an etwas Trauriges gedacht", sage ich und erzähle ihr, wie meine Mutter damals ins Krankenhaus gebracht wurde und erst ein halbes Jahr später wiederkam.
"Und?" fragt Nicki. "Kam sie wieder in Ordnung?" "Ja", sage ich. "Sie hat alles überstanden. Und deiner Mama geht es bestimmt auch gut. Sie ruft morgen an, da bin ich ganz sicher." "Meinst du wirklich?" fragt Nicki.
"Ach, klar", sage ich. "Was glaubst du, was deine Mutter schon an Abenteuern hinter sich hat. Morgen beim Frühstück erzähle ich dir, wie sie Indien unsicher gemacht hat." Ich sehe Nicki im Halbdunkel lächeln. Der bläuliche Schein der Straßenlaterne fällt auf ihre Stirn und fängt sich in den weißblonden Wimpern. "Ich weiß auch nicht, warum ich auf einmal voll die Panik hatte." Sie legt sich zurück und kuschelt sich ein, als ich sie zudecke. Und ich habe das Gefühl, das erste Mal in dieser Woche etwas richtig gemacht zu haben.
Wer ruft mich denn gegen elf noch an? Es ist Tom.
"'Tschuldige die Störung", sagt er. "Wollte nur Bescheid geben, dass Katja sich aus irgendeinem Kaff gemeldet hat. Vielleicht kannst du es der Kleinen noch sagen? Sie war so in Sorge." "Ja", murmele ich und bin unendlich froh.
"Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe", sagt er. "Ich bin extra zu dir rüber und habe geschaut, ob in deinem Fenster noch Licht ist." "Stehst du etwa mit dem Handy unten auf der Straße?" frage ich ungläubig. Er bejaht, und ich weise ihn verlegen an, seinen Hintern die Treppe hochzuschwingen. Kurz darauf steht er in der Tür. Wir waren uns nie besonders grün, aber heute bringt er gute Nachrichten, und ich bin in gnädiger Laune. Toms blonde Strähnchen sind fort; das ist eine angenehme Überraschung. Dafür hat sich die früher dauergebräunte Haut wieder aufgehellt und entspricht jetzt der eines normalen Westeuropäers. Er hat ziemlich abgenommen und trägt ein passables Jeans-Outfit. Den kleinen silbernen Ohrring verzeihe ich ihm noch gerade.
Nachdem er eine Viertelstunde im Dunkeln bei seiner Tochter am Bett gesessen hat und ich vor dem Spiegel meine Optik (verschmierter Lidschatten, Gallensäfte auf der Bluse) etwas aufgebessert habe, biete ich ihm noch etwas zu trinken an.
"Du hast dich irgendwie verändert", sage ich vage.
"Ach", seufzt er und zuckt mit den breiten Schultern. "Ich war gesundheitlich nicht gut drauf. Jetzt leb' ich bewusster." "... und esse keine Fritten mehr", ergänze ich grinsend und erzähle ihm von meinem fatalen Versuch, seiner Tochter einen kindgerechten Abend zu bieten.
Wir unterhalten uns eigentlich ziemlich gut, mit einer Flasche Mineralwasser zwischen uns. Ab und zu lachen wir über etwas und schauen uns dann ungläubig an, weil wir uns doch früher nie mochten. Ich würde gern wissen, welche Krankheit ihn so aus der Bahn geworfen hat, dass er sein extremes Bodybuilding, das Rösten im Solarium und die Unmengen Fastfood aufgegeben hat, die früher seine Hauptnahrung waren. Und ob er wieder ganz gesund ist.
Aber vielleicht frage ich ihn das lieber bei anderer Gelegenheit; vielleicht trifft man sich nächste Woche einmal auf eine Tasse Kaffee. Um über Nicki zu reden.
"Du trinkst doch noch Kaffee?" frage ich.
Er nickt, grinst und sieht dabei wieder so gut aus wie damals, als er meiner besten Freundin den Kopf verdreht hat. Hat er den Gedankengang erraten? Ich stehe rasch auf und werfe den teuren Kaffeevollautomaten an, der auf der Küchentheke steht. Also, er hat ein Tattoo auf dem Hintern. Keltisch? Wie soll man sich das überhaupt vorstellen? Nach dem Kaffee muss er gehen, das ist klar. Überhaupt schläft nebenan das Kind.
Am nächsten Morgen ruft Heiko an.
"Du hast dich rar gemacht", stellt er fest. "Ist die kleine Nervensäge noch da?" "Die kleine Nervensäge ist mein Patenkind", sage ich. Ich selber darf sie nervig finden - ihm aber steht das nicht zu.
Das ärgert ihn. "Oho. Auf einmal."
"Wie auch immer", sage ich. "Sie wird noch ein paar Tage bleiben, bis Katja aus Paris zurückgekehrt ist. Aber komm doch heute zum Abendessen rüber! Wir grillen auf dem Balkon." "Das passt heute schlecht. Kannst dich ja mal melden, wenn sie weg ist", schlägt Heiko vor.
"Mal sehen", sage ich. Und ich lege auf.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Sammelsurium «««
»»» Attraktivitätsforschung «««
»»» Haarausfall «««
»»» Schmetterlinge «««
»»» Schmetterlinge «««
»»» Pusteblumen «««
»»» Wintergedichte «««
»»» Wintergedichte «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Naturgedichte «««
»»» Liebesgedichte «««
»»» HOME PAGE «««