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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Mercy
© Sophie Caroline Hartlap
Ein Tag. Das sind 24 Stunden und diese Zeitspanne beinhaltet eine Tageszeit und eine Nachtzeit. Es gibt Menschen, die fürchten die Nacht. Doch ist sie ein unausweichliches Element unseres Lebens, dem wir nicht entrinnen können. Niemand vermag zu fliehen vor den Stunden des Schlafes, der Dunkelheit, der Angst, wenn unsere Geister, unsere Ängste, unsere Albträume wieder aus allen Ecken hervor kriechen und uns die Sinne rauben. Wenn wir meinen zu fallen, in einen langen schwarzen, nie enden wollenden Tunnel, einem
Licht entgegen, dass wir nie erreichen werden es aber so unbedingt wollen. Denn das Licht bietet uns Schutz, verspricht uns einen Hauch von Sicherheit, von Zuversicht. Doch wir werden es nie erreichen und so werden wir immer weiter, immer tiefer fallen, fallen, fallen. Nachts gibt es keine Hoffnung.
Das ist ein Fakt den auch Aro Huxley allmählich akzeptieren sollte. Egal, wie viel sie im Schlaf weint, mit den Beinen strampelt, egal wie oft sie in ihren Träumen die Geschichte durchgeht und ihre Unschuld beteuert gegenüber ihren jetzigen Freunden, sie würde nie selber an ihre Unschuld glauben und es schon mal gar nicht ihren jetzigen Freunden auch nur andeutungsweise erzählen. Es ist egal wie oft sie schreiend aufwachen wird und versuchen wird über eine Tasse Tee das Ganze in den Träumen geschehene zu verdrängen.
Vergessen. Einfach nur vergessen was vor 1833 Tagen geschah. Doch wie soll etwas in das ewige Nichts der Vergessenheit geraten wenn es Nacht für Nacht zurück kommt? Nacht für Nacht das Gewissen quält, einen peinigt, an die eigenen Grenzen treibt! Ist da etwa noch an ein wohlgeordnetes Leben zu denken, etwa an solche Dinge wie Glück?
Aro hat schon versucht es mit fremder Hilfe zu vergessen, war in einer Therapie gewesen, doch es bringt einfach nichts. Die Schatten der Vergangenheit kommen immer wieder zurück und schnüren ihr die Kehle zu, damit sie nicht schreien und nicht atmen kann. Jahrelange Betreuung und alles für nichts. Das Glück in dem Aro ein paar Jahre lang zu verweilen suchte, ist zu vergänglich, zu dünn als das man es festhalten könnte, als das man sich darauf verlassen könnte.
Resignation. Ein schreckliches Wort, nicht wahr? Es klingt so als würde man sich selbst vergessen, sich selbst aufgeben, abstempeln, brandmarken und sich selbst in eine Schublade schieben würde in die man doch unter Umständen nicht rein muss. Aro resigniert, stempelt sich ab als einen Menschen, den man nicht mehr helfen könne. Als einen Menschen, der wohl einmal an ihren Depressionen zugrunde gehen würde, aber das wäre wohl das berühmte Rad des Schicksals. Nein, Schicksal ist nicht das richtige Wort dafür, denn
daran glaubt sie nicht mehr. Sie glaubt an den Buddhismus, sie will ins Nirwana, will das Nichts werden als das sie sich ja schon glaubt, fühlt, vorstellt. Aber wie soll man es dann benennen? Nicht als Schicksal sondern als eine logische Konsequenz aus dem was sie verbrochen, getan hat, der Grund, weshalb sie in Depressionen versunken ist aus denen keiner mehr es schaffen könnte herauszuholen, wenn sie nicht endlich einmal aufwachen würde.
Aro ist Schülerin, Gymnasiastin um genau zu sein. Jahrgangsstufe 12. Noch ein Jahr und das halbe Jahr in der 12 und sie hätte ihr Abitur, könnte endlich die Schule, die ihr so verhassten Bürokratien verlassen, unter Umständen endlich frei sein? Weggehen von den Menschen, die sie nur anschauen zu braucht und schon fühlt sie all den Hass des Augenblicks, die Angst, die Verzweiflung, den Schmerz wieder in ihr hochkommen, sie innerlich auffressen, foltern, zerstören. Ein elendes Gefühl der Elendigkeit, der Ohnmacht,
der absoluten Nutzlosigkeit. Und es ist die Realität. Die meisten Menschen aus ihrer direkten Umgebung bemerken den innerlichen Verfall Aros gar nicht. Sie ist eine fleißige Schülerin, in manchen Fächern gut und in manchen Fächern schlecht. Wie jeder andere auch. Sie ist in der Theater - AG aktiv und auch bei der Hausaufgabenbetreuung immer jemand auf den man sich verlassen kann. Das einzige, was einen beunruhigen könnte sind ihre Fehlstunden.
Zu viele schmücken ihre Akten, ihre Zeugnisse, in den Kursbüchern erscheint der Name Huxley viel zu häufig. Das ist ihr SOS - Zeichen, ihr Hilferuf an die Außenwelt in der sie sich meistens aufhält, die Schule. Wenn sie vor ihr wegrennt, weg von all den Gesichtern, die meinen sie würden sie kennen und doch so wenig wissen. Wenn sie hin rennt zu ihrem liebsten Ort, dem einzigen an dem man nicht fragt wer sie sei und woher sie komme, was in ihrer Vergangenheit passiert wäre und was sie sich eigentlich einbilde
zu sein. Ein Café mitten in der Stadt und nur fünf Minuten von der Schule entfernt. Dort findet man sie eigentlich fast immer und man käme auch dort nie auf die Idee welche Ungeheuer in ihrem Herzen warten, warten, warten auf den geeigneten, den besten Zeitpunkt um Aro zum Zusammenbruch zu zwingen. Sie treiben, weg von allem. Sie treiben sie weg von zu Hause, zur Schule, ins Café, wieder zurück, feste Ziele die keine mehr sind. Der Verfall schleicht voran. Unaufhaltsam. Energieverschwendung ohne Energieverwendung.
Wahn….
Ein wenig lässt sie raus, ja, aber sie redet, redet um den heißen Brei herum, kommt nie zum Punkt, zum Kern ihrer Ängste. Denn sie will niemanden verschrecken, niemanden vor ihr fliehen sehen. Als wäre sie ein missratener Käfer, der bei Menschen Ekel hervorruft. Sie hat all diese Menschen, sei es nun ob es die in der Schule, ihre eigene Familie, im City - Center die paar Leutchen, die auch in dieses Café gehen und schlussendlich auch all die anderen Stammkunden des Cafés und die Menschen, die dort arbeiten, unglaublich
lieb und will sie unter gar keinen Umständen verlieren.
Und doch kommt es allem Versteckspiel zum Trotz zu dem Augenblick an den sie der Wahrheit ins Gesicht blicken muss, ihre Freundschaft zu ihren Freunden in der Schule und denen im Café auf die Probe stellen musste. Zu dem Augenblick an dem jemand nachfragt was eigentlich mit ihr los sei?
Ein bleiches Gesicht, Angst steht ihr in den Augen. Warum ist der Lehrer ihr bloß gefolgt, warum muss er sie hier, in diesem Café vor allen Leuten zur Rede stellen? Ihr Lehrer, der sie im Deutsch LK unterrichtet, ihr Stufenkoordinator und ihr Tutor ist. Er ist ihr gefolgt und hat sie ertappt auf frischer Tat wie sie dasitzt mit ihren Freunden im Café und Karten spielt, lacht, scherzt und so tut als würde nichts mit ihr los sein was sie irgendwie bekümmern könne. Als wäre die Welt im Lot für sie. Als wäre sie
der glücklichste Mensch auf Erden. Der sie nicht ist.
Die Frage schwebt noch im Raum und sie alle warten auf eine Antwort, sie alle wie sie da sind. Der Inhaber des Cafés und seine Mitarbeiterin, die anderen Stammkunden und ein Mitschüler, der schon lange gewusst hat wo Aro sich rum treibt wenn sie nicht zum Unterricht erscheint. Wenn sie schwänzt, weil ein Gefühl des Ekels vor ihr selbst hochkam. Aro kennt die Bedeutung des Ausdruckes, wenn jemandem die Galle hochkommt nur zu gut. Es gibt keine Möglichkeit mehr zu fliehen.
"Warum bist du nicht im Unterricht, Aro? Gibt es dafür einen plausiblen Grund oder soll ich mal bei dir zu Hause anrufen?"
Nein. Nein. Nicht zu Hause anrufen, nicht ihrer Mama erzählen was sie tut. Ihre Mama, der wichtigste Mensch für sie, das größte Vorbild, sie durfte auf gar keinen Fall unter den Eskapaden ihrer Tochter leiden! Was soll sie bloß tun? Lügen? Das hat sie schon zu oft getan. Kein Grund, keine Ausrede, keine Lüge kommt ihr mehr in den Sinn. Das Spiel ist aus. Sie muss die Wahrheit sagen und alles für sie Wichtige verlieren. Schon sieht sie die angeekelten Gesichter, die sich ihr zuwendenden Rücken und ist absolut
machtlos.
Ihre Stimme zittert. Zittert, sie ist heiser, die Kehle ist trocken als sie es sagt, beichtet, als es aus ihr heraus bricht. Der Grund warum sie so unglaubliche Angst hat. Schon zweimal ist es vorgekommen, das sie solche Angst gehabt hat und beide Male hat sie etwas unglaublich Dummes getan, was sich auf gar keinen Fall wiederholen dürfe, was aber auch auf gar keinen Fall jemand wissen dürfe!
Ich will nicht, die Tränen lassen sich nicht mehr aufhalten, aber keiner sieht se, weil es trockene Tränen sind, die keiner sehen kann. Trockene Tränen, lautlose, stumme Schreie, Zeit, die einem aus den Händen rinnt, der Halt - verloren. Auf ewig.
Depressionen. Ich habe wieder Depressionen. Ich weiß nicht warum ich psychisch so unglaublich labil, ein derartiger Versager bin, aber ich habe jetzt bereits zum dritten Mal in meinem Leben Depressionen und Angst. Angst alles zu verlieren was mir wichtig ist. Ich hatte schon zwei Mal welche. Das erste Mal war ich grade mal in der sechsten Klasse und ich schnitt mir die Pulsadern mit der Bastelschere auf, das nächste Mal im achten Schuljahr und ich nahm Tabletten, die allerdings nichts aber auch gar nichts brachten.
Und was ist wenn ich jetzt wieder abstürze? Ich fliehe von der Schule hierher und meine es würde etwas bringen, doch es verschafft mir nur kurzfristig Erleichterung.
Schweigen. Stille. Noch nie war ihr diese Ruhe so laut vorgekommen. Den Blick nicht heben, nicht in die Gesichter der andern blicken, die sich jetzt von ihr abwenden würden. Warum steht der Lehrer noch da? Warum geht er jetzt nicht einfach zur Schule zurück, lässt sie alleine, sterben? Warum geht ihr Mitschüler nicht? Warum bezahlen die anderen nicht? Gibt es denn keine Gäste mehr zu bedienen? Begaffen sie sie etwa wie ein seltenes Tier im Zoo?
Jemand schiebt ihr einen Zettel zu, es ist der Inhaber, bestimmt wagt er es nicht mehr sie anzusprechen, fürchtet sie, verachtet sie wie einen Irren. Ja genau, sie haben Angst vor ihr und auf dem Zettel steht, sie solle verschwinden und nie wieder herkommen. Sie nimmt den Zettel und entfaltet ihn. Tränen.
Da sind Tränen auf ihrem Handgelenk. Sie weint. Kann diese Schmerzen nicht mehr zurück halten und lässt ihrer Trauer freien Lauf. Und doch, sie muss das jetzt lesen um Bescheid zu wissen, kann jetzt nicht auf das Mitleid anderer Menschen bauen, verdient es nicht, will es auch gar nicht, erträgt es schon gar nicht mehr. Ärgerlich wischt sie die Tränen beiseite. Aber vor uns hast du doch keine Angst, oder? Hier, die Adresse einer Therapeutin, die dir bestimmt hilft… Das steht auf dem Zettel. Aro dreht sich um und
blickt die anderen überrascht an. Sie wird aufgefordert doch endlich mal ihren Zug zu spielen, denn diese Runde dürfe sie doch noch mitmachen - oder, Herr Lehrer? Dieser nickt. Verspricht ihr mit den Lehrern zu reden bei denen sie so oft gefehlt hat. Und der Mitschüler? Bittet sie um ein bisschen Tabak.
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.