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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Dornröschen

© Marion Margies


Kurz vor 3 steht Sonja vor der mächtigen Tür. Die Sonne scheint ihr in den Rücken. Ein paar Minuten zum Verschnaufen und Noch-einmal-den-Ablauf-durchgehen: die Rohstoffe zuerst, dann das Märchen, dauert 'ne halbe Stunde. Im zweiten Teil Spindel und Spinnrad, schön in die Länge gezogen, und Schluss. Eine Stunde reicht, war ihr gesagt worden, leicht verdientes Geld. Hinter dem Milchglas der Tür undeutliche, schemenhafte Gestalten. Skurrile Kulisse für Sonjas heutigen Auftritt. Sie klingelt und eine der Gestalten schwimmt heran.
Hoffentlich riechen die nicht so, denkt Sonja noch, dann schwingt mit einem brummigen Ton die Tür auf. Die weißbehandschuhte Hand einer Pflegerin zieht sie hinein, entnimmt einem Schlitz eine Karte, und die Tür ist wieder zu.
Schutzwall für eine Welt davor und eine dahinter, auch Sonja in einen luftigen Schatten verwandelnd. Für die da draußen. Dabei steht sie schwer in einem Flur, von dem mehrere Zimmerfluchten abzweigen.
"Keine Angst, ich lass Sie wieder raus", plappert die Pflegerin. "Aber auf die Bewohner hier muss man aufpassen. Sie befinden sich gewissermaßen in der Kindheit ihres Lebens." Nette Umschreibung für Alzheimer, spottet Sonja im Stillen. Als wäre es normal, dass sie, Kinderpädagogin Sonja M., hierher bestellt ist. Sie lässt das hinderliche Spinnrad langsam abwärts rutschen, um fester den Korb zu fassen. Da steht mit einem Mal der Junge neben ihr und greift in das klapperige Gestell. Ein aufgestecktes Holzplättchen segelt zu Boden, Sonja bückt sich beruhigt, das passiert immer, das ist sie von ihren sonstigen Terminen gewohnt.
"Unsere Senioren werden nicht viel mitkriegen. Aber der eine oder andere fühlt sich vielleicht erinnert." hört sie die Pflegerin erklären. "Kommen Sie, Sie werden erwartet." Der Junge schleift das Spinnrad über den gummierten Boden.
Hinter der Biegung ein massiver dunkelbrauner Holztisch. Nussbaum wahrscheinlich, so was hatte auch bei ihrer Großmutter im Esszimmer gestanden. Passend zum Tisch Stühle, auf denen die Alten sitzen.
Zwischendrin ein zierlicher Rollstuhl. Ein gut aussehender Gehilfe stellt Füße nebeneinander, faltet Hände und drapiert Kleidung wie für ein Stillleben. Sonja grüßt, obwohl sie keiner direkt ansieht. Der Junge lehnt sich an einen Mann. Sie sind wohl sein Opa, das Geburtstagskind, herzlichen Glückwunsch, Sonja lächelt mit verkrampften Mundwinkeln. Eben führt die Pflegerin noch ein zusammengeschrumpftes Muttchen heran, das verhältnismäßig laut "Servus!" kräht. Zweifelnd betrachtet sie den vor ihr stehenden Stuhl. Die Pflegerin sagt, sie soll sich setzen, sich hinsetzen. Sonja überkommt Lust, ihre Sachen zu nehmen und zu gehen. Das hier ist nicht ihr Job.
Der Junge und seine Mutter hatten eine Märchenerzählerin gewünscht. Eine genaue Märchenerzählerin. Sie sollte "Dornröschen" im Wortlaut der Gebrüder Grimm vortragen können, das Lieblingsstück des Großvaters, der jetzt zum 75. Geburtstag so gut wie stumm war.
Die Vermittlungsagentur hatte so schnell keine Märchenerzählerin parat.
Doch die findige Angestellte kam auf die Idee mit Sonja, die im voll beladenem Auto unermüdlich die Schulen abfuhr, Jahrmärkte besuchte und Kindergeburtstage ausrichtete. Und die sicher auch keine Berührungsängste im Altenheim hatte. Mutter und Sohn waren begeistert. Sonja weniger.
"Pauk Dir 'Dornröschen' rein und sei nett, Sonja. Die sind dort alle schon auf Tauchstation. Das wird unser neuer Renner: Kindergeburtstag bei Alzheimers!"
O.k., mit Schwung setzt Sonja den Korb auf den Tisch und blickt aufmunternd in die Runde. Die haben bezahlt, also werden sie Action bekommen: ich fang genauso an wie immer. Schauen wir mal, was ich mitgebracht habe. Flachs, und Schafwolle, und hier was ganz Weiches, kennt das jemand?, dann ist da eine Flachshechel und zwei Kardätschen, ja was wollen denn die Socken in meinem Korb? Und hier noch ein reizendes Unterhemd, Garnrollen und ein Tuch.
Sie können das alles mal anfassen und versuchen, zu sortieren.
Die Alten starren unbeteiligt auf Sonja und das auf den Tisch gestreute Durcheinander. Zwei Damen lächeln ins Leere. Gut, die können nicht oder die wollen nicht. Sonja schiebt dem Jungen die Kardätschen hin, probier mal die Wolle, das funktioniert wie ein Kamm, Vorsicht mit den Eisenspitzen. Der Junge klettert auf Opas Schoß und greift träge zu. Den hat's wohl angesteckt. Gehirn so milchig wie die Scheibe in der Tür zur Außenwelt.
Sonja ist ungeduldig. In ihrem Rücken tuschelt ein Mann mit der Pflegerin.
Endlich. Der Typ scheint noch ziemlich klar im Kopf, spricht vom Flachsbrechen, als wenn er's gestern erst getan hätte. Sonja wendet sich um, ach erzählen Sie doch bitte etwas lauter, für alle. Das Muttchen schreit
ihr: "Servus!" und bekommt von der Pflegerin einen Klaps auf den Handrücken.
Der Typ verstummt. Sonja streckt ihm den Flachs vors Gesicht, doch keine Reaktion. Die Uhr zeigt zehn nach 3. Wie soll man da eine Stunde voll bringen?
Lieblos ordnet Sonja ihre Mitbringsel. Das hat doch überhaupt keinen Sinn.
Der Rollstuhlinsasse ist in sich gesunken, die gefalteten Hände lösen sich wie schlecht verklebtes Packpapier. Die Pflegerin zerzupft und knetet Wolle.
Der klare Typ raunt ihr was von "Filz" ins Ohr. Der weiß Bescheid, ich weiß Bescheid, soll sie die Wolle kaputt machen, das bringt ihren Arbeitstag herum. Die Damen lächeln immer noch, irgendwie erwartungsvoll, aber worauf warten sie? Worauf wartet man im Altersheim, wenn das Gehirn abstirbt?
Sonja setzt den Fuß aufs Spinnrad und beginnt mit tief gelegter Stimme: Es war einmal ein König mit seiner Königin ... Sie konzentriert sich auf Tonlage und Betonung, das kann sie gut, der Klang der eigenen Stimme lullt sie ein.
Zuerst glaubt sie an eine Täuschung, fasst das Ereignis nur unscharf. Dann gibt es keinen Zweifel: Der Opa des Jungen bewegt die Lippen, er spricht mit. Das Kind reckt sich auf wie ein Tierchen, schnüffelt und kuschelt sich an den faltigen Hals. Der Mund murmelt weiter sein Märchengebet. Na bitte, das hat doch geklappt, Sonja empfindet Güte für die Alten, die um sie sitzen und noch auf ihren lichten Moment warten.
Erst Viertel nach Drei. Wo war sie stehen geblieben? Der Opa, auf den es ankommt, hört sowieso nicht mehr zu. Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt? "Servus!" Getroffen zuckt Sonja zusammen, als hätte das Muttchen mit seinem herausgebrüllten Satz auch eine Ladung Spucke verschossen. Die Spindel am gedrehten Faden schlackert. Unter solchen Umständen hat Sonja noch nie Märchen erzählen müssen. Kinder sind berechenbar. Die halten an dieser Stelle den Atem an ... Kaum hatte Dornröschen aber die Spindel berührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung und sie stach sich dabei in den Finger. Glückliches Mädel. Warst bestimmt ganz entnervt vor lauter Langeweile. Hast dir die Spindel in die Hand gerammt, damit endlich mal was passiert. Kennt man doch. Sonja kann sich nicht vorstellen, was das Märchen in seinem Kern sonst aussagen will.
Auch die zwei Damen lächeln nicht mehr. Ergriffen vom Unglück Dornröschens schütteln sie die weißen Köpfe. Sie nehmen's wie was Echtes aus dem Radio oder aus der Nachbarschaft. Eijeijei, was einem alles passieren kann, zwitschern sie und erheben sich von ihren Stühlen. Sonja muss lächeln. Ja, da kann man wohl empört sein, dass die Königseltern am 15. Geburtstag ihres gefährdeten Lieblings unterwegs sind. Ausgerechnet an dem kritischen Tag.
Sie spürt ein Knie an ihrem Rock. Der gut aussehende Gehilfe, der jetzt als Arbeitstherapeut fungiert, möchte das Spinnrad testen. Nein, Sonja braucht ihm die Finger nicht zu führen. Schade. Das Kind dagegen darf. Flink ist es von Großvaters Schoß hinabgeklettert und treibt mit kleinen Pfoten das Antriebsrad herum. Doch ein Tierchen, denkt Sonja verärgert, das Hamsterle im Käfig.
Miteins erhebt sich der Großvater und knurrt was von "tot hinfallen". O Gott, ist der so langsam oder schon in der zweiten Runde? Der Junge flitzt sofort zu ihm hin. Hand in Hand entfernen sich Sonjas Aufraggeber und Adressat aus ihrem Gesichtskreis. Sie wandern. Monoton murmelnd der Alte, ein Automat. Das Kind verzaubert.
Versuchsweise lächelt Sonja den gut aussehenden Arbeitstherapeuten an. Ob sie vielleicht ... die Rolle des Jungen ...? Da schiebt sich eifersüchtig der klare Typ an das Spinnrad. Seine Hände zittern bei der Berührung mit der Wolle, der begonnene Faden ist viel zu dünn. Die Augen leuchten irgendwohin, nur nicht auf seine Arbeit. Sonja erschaudert, er wird ihr alles verstellen und verfitzen. Allmählich jedoch scheinen sich die Hände des richtigen Griffs zu entsinnen. Ungelenke Finger, durch die ein feiner, straffer Faden läuft. Der Arbeitstherapeut lobt, wie es sein Job vorsieht, die Pflegerin tritt neugierig hinzu. Zusammengesteckte Köpfe über ihrem Spinnrad. Die restlichen Alten eilen unbeaufsichtigt auf ihre Zimmer oder zur Toilette und kommen nicht wieder. Vielleicht gibt es irgendwo Kaffee und Torte? Sonja fühlt sich ausgebremst. Sie hat den Geburtstagstisch gedeckt, und die anderen feiern.
Dreiviertel vier. Der Rollstuhlinsasse, der allein nicht weg kann, schnarcht. Die Pflegerin sagt nicht unfreundlich: "Wenn Sie gehen wollen, lass ich Sie raus." Das Zusammenpacken geht schnell. Schon steht Sonja auf der anderen Seite und beobachtet, wie sich die Tür vor ihr zurückzieht und mit einem Klacken schließt. Gleich füllt sich der Rahmen um das milchige Glas mit tanzenden Schatten. Jetzt kommen sie hervor, jetzt sind sie wieder unter sich. Eine undankbare Welt. Da kommt extra jemand her und müht sich ab, und die brauchen ihn gar nicht. Diese selbstvergessenen Alten. Eine andere als Sonja würde jetzt glatt an ihren Fähigkeiten zweifeln, und vielleicht Tränen vergießen.
Da, das könnte der Junge sein. Von dem hat sich Sonja noch nicht einmal verabschiedet. Und sie ertappt sich bei dem Gedanken, ob das ein hinreichender Grund wäre, noch einmal klingeln zu dürfen.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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