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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Hi und die Tochter des Direktors

© Birgit Erwin


"Jetzt sag schon! Ich verspreche auch, dass ich nicht lachen werde." "Ich verstehe nicht, warum du sofort annimmst, dass es etwas Lächerliches ist. Warum bist du überhaupt so versessen darauf? Es ist nur ein Schlüssel." "Den du um den Hals trägst, seit wir uns kennen. Natürlich bin ich neugierig! Immerhin wollen wir nächsten Monat heiraten!" "Und da darf ich keine Geheimnisse mehr haben oder was?" Wütend schlug sie seine Hand beiseite. Sven seufzte und wandte sich ab. Julia kaute an ihrer Unterlippe.
"Sorry", murmelte sie. "Ich benehme mich scheußlich, ich weiß, aber in letzter Zeit wird mir alles ein bisschen viel. Und seit Papa … seit Papa …" Sven zog sie in seine Arme und drückte sie an sich, als sie zu weinen begann.
"Nein, mir tut es Leid, Schatz. Bitte entschuldige. Dein Vater liegt auf der Intensivstation, und ich mache eine Szene wegen eines Schlüssels. Pass auf, ich hab eine großartige Idee, warum fahren wir nicht einfach in Urlaub. Last minute, irgendwohin." Seufzend machte Julia sich los.
"Du weißt genau, dass ich jetzt nicht weg kann. Ich muss auf das Museum aufpassen, bis Papa wieder gesund ist." Sie wich seinem Blick aus. Sie wusste, was er jetzt sagen würde.
"Man könnte meinen, dass dieses blöde Museum dir wichtiger ist als ich." "Quatsch!" "Dann erklär mir, warum du hier bleibst. Du weißt genau, warum dein Vater im Krankenhaus liegt. Weil ein gefährlicher Irrer hier eingebrochen ist, der ihm fast den Schädel eingeschlagen hat. Und das Schlimmste: Er ist nicht mal eingebrochen, alle Türen und Fenster waren unversehrt. Ach ja, und das Allerschlimmste: Der Typ läuft immer noch frei herum. Ich mache mir verdammt noch mal Sorgen um dich!" Julias Hand schloss sich um den kleinen Schlüssel, bis die Kanten in ihr Fleisch schnitten.
"Aber ich hab keine Angst. Ich …"
"Ich weiß, du fühlst dich hier zu Hause", unterbrach er sie heftig. "Aber das wird den Einbrecher kaum beeindrucken." "Es ist mehr als das. Ich werde hier … beschützt." Sie lächelte zum ersten Mal, während sie ihm von unten herauf einen kurzen Blick zuwarf. "Das Hi beschützt mich." "Was ist das jetzt wieder für ein Unsinn?" Julias Lächeln erreichte endlich ihre Augen. Sie griff nach Svens Hand und zog ihn aus dem Saal mit der Etruskischen Kunst.
"Du wolltest das Geheimnis meines Schlüssels erfahren? Dann komm." Julia ahnte, dass sie einen Fehler beging, als sie vor den Schließfächern stehen blieb.
"Ich weiß nicht", sagte sie und fingerte den Verschluss der Kette auf. "Vielleicht sollte ich nicht …" "Jetzt sag schon", drängte er und küsste sie auf den Scheitel. "Was ist dieses He?" "Hi", verbesserte sie und schüttelte den Kopf. "Es ist schwer zu erklären. Das Hi ist so etwas wie mein persönlicher Schutzgeist. Hattest du je einen unsichtbaren Freund? Nein, natürlich nicht. Aber viele Kinder haben das. Ich hatte das Hi. Und hier wohnt es." Sie benutzte bewusst das Präsens, während sie das Schließfach mit der 382 aufschloss. Sven trat näher und beugte sich vor. Sie sah sein Stirnrunzeln und seufzte.
"Und was soll das jetzt?", fragte er.
"Naja, das Hi mag Sachen, die mit Hi- anfangen. Ist doch logisch. Hier, Himbeerbonbons, die isst es gerne. Und es mag Hirse." Sie lachte. "Du ahnst gar nicht, wie schwer es ist, Dinge mit Hi- zu finden, wenn man fünf ist. Hirse war die Idee meiner Mutter. Das Streichholzbriefchen ist aus dem Hilton." "Hilton. Und das hast du wann hineingelegt?" Sie vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen.
"Letztes Jahr, nach unserem Amerikaurlaub." "Letztes Jahr, so. Fünf warst du da nicht mehr, oder? Und das hier? Lass mich raten: Weil es eitel ist, schaut das Hi gerne in den Hiegel …" Verärgert riss Julia Sven den rosafarbenen Plastikspiegel aus der Hand.
"Himmel. Da Hi ist blau, wenn du es genau wissen willst, und es mag den Himmel. Wenn du den Spiegel so hältst, kannst du durch das Fenster da oben sehen. Siehst du?" Einen Augenblick lang betrachtete sie die Wolken in dem kleinen Handspiegel, doch ihr Lächeln erstarb, als sie sich umdrehte und Svens Gesichtsausdruck sah.
"Was?"
"Julia …" Sacht nahm er ihr den Spiegel aus der Hand und hob ihr Kinn an. "Findest du nicht, dass du für so etwas zu alt bist? Ich meine, du läufst jetzt seit zwanzig Jahren mit … mit dem Hausschlüssel des Hi um den Hals herum." "Dreiundzwanzig!" "Das macht es nicht besser." "Lass mich doch einfach. Was stört es dich denn?" "Es stört mich dann, wenn du dir ernsthaft einbildest, dass ein blaues Hirngespinst, das sich von Himbeerbonbons ernährt, dich beschützen könnte. Julia, tust du mir einen Gefallen?" "Was?" "Räum dieses Schließfach aus. Mach Schluss mit dem Unsinn!" "Aber …" Er küsste sie. "Bitte, ich meine es ernst!" "Nein!" "Julia, versprich es mir." Ihre Unterlippe bebte, als sie den Kopf an seiner Schulter vergrub.
"Ich weiß nicht", murmelte sie. "Vielleicht." "Die Ärzte haben gesagt, dass es Hoffnung gibt", sagte Julia und beugte sich über den Schaukasten. Ein Teil von ihr versuchte immer noch, die Mumie mit Svens Augen zu betrachten. Es gelang ihr nicht. Sie fand einfach keine Rechtfertigung für sein kurzes ‚Ihh, das ekelhafte Ding'. Seufzend fuhr sie fort: "Was meinst du, Rams, soll ich tun, was Sven verlangt? Ob ich ihn liebe? Natürlich liebe ich ihn, ich will ihn heiraten. Ich habe ihm sogar den Schlüssel zum Museum gegeben, damit er uns … mich jederzeit besuchen kann, aber ich weiß nicht … Ich komme mir vor wie der letzte Verräter. Ich meine, das Hi war immer da. Ich gehe doch auch nicht hin und fordere, dass er meinetwegen seine alten Freunde abserviert. Ein blaues Hirngespinst … pah! Und natürlich erwarte ich nicht, dass es mir zu Hilfe kommt, wenn hier jemand einbricht, ich bin ja nicht total bescheuert." Sie klopfte mit dem Knöchel sanft auf die Glasplatte.
"Naja, danke fürs Zuhören, Ramsi, alter Freund. Ich geh dann besser mal. Sven wollte mich abholen, und wenn ich ihm erzähle, dass ich mich mit einer Mumie verquatscht habe, dann überlegt er sich das mit der Heirat noch anders. Wir sehen uns morgen, und später kommt ja der Wachmann noch vorbei. Wenn er nicht nett zu euch ist, sag Bescheid, dann feuert Papa ihn wieder. Also, machs gut." Julia schaltete das Licht aus und holte tief Atem. Sie hatte nicht gelogen, als sie gesagt hatte, dass sie sich sicher fühlte. Die Schatten waren vertraut, sie hatten ihr nie Angst gemacht. Auch heute nicht!
Julia lauschte auf das Echo ihrer Schritte und ging schneller. Verdammer Sven mit seinem Gerede von dem blauen Hirngespinst. Sie hätte ihm das Hi nie zeigen dürfen. Sie tastete nach dem Schlüssel, als sie Saal 6 betrat. Die Geste war ihr seit Kindertagen vertraut und hatte bisher immer geholfen. Sie blieb stehen und betrachtete die schemenhaften Exponate der Wanderausstellung, auf die Papa so große Hoffnungen gesetzt hatte. Sie zu bekommen war ein riesiger Erfolg für den Direktor eines eher unbedeutenden Altertumsmuseums gewesen. Endlich wieder schwarze Zahlen! Julia wusste, dass das sein einziger Weihnachtswunsch gewesen war. Und jetzt lag er im Krankenhaus mit Schläuchen und Nadeln im Körper, und die Polizei vermutete einen Zusammenhang mit diesen fremden Kostbarkeiten, diesen … Eindringlingen.
"Und warum hast du ihm nicht geholfen?", fragte Julia und zerrte an dem Schlüssel. Die Kette gab mit einem Ruck nach. Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Da waren keine Schritte!
Natürlich nicht!
Julia begann zu rennen.
Als sie in der Vorhalle ankam, ärgerte sie sich über sich selber. Sie warf einen Blick auf das beleuchtete Zifferblatt ihrer Armbanduhr und stellte sich vor, wie Sven aus der Dunkelheit trat und sie in die Arme nahm. Eine Weile starrte sie in den Regen, der monoton gegen die beiden Flügel der Glastür prasselte. Plötzlich wandte sie sich ab und kehrte auf dem Weg zurück, den sie gekommen war.
In der Nische mit den Schließfächern kauerte sie sich auf den Boden. 382 war wirklich nur für eine Fünfjährige gut zu erreichen. Hatte Sven Recht, wenn er sagte, dass sie zu alt für den Hi-Tempel war?
"Hinter Himmelswolken das Hi - dass es hierher gekommen, vergess ich ihm nie", intonierte sie und war zum ersten Mal froh, dass niemand ihr zuhörte. "Ich werde das jetzt tun. Ich muss. Sei mir nicht böse …" Sie öffnete das Schließfach und begann zögernd, die Gegenstände auszuräumen. Das Päckchen mit der Hirse fiel mit leisem Klatschen auf den Fußboden, die Bonbons daneben, dann die "Hi"-Man-Comics. Das Hi las gerne.
Sie hoffte, dass Sven ihr Opfer zu würdigen wusste.
Zuletzt behielt sie nur noch den rosafarbenen Handspiegel zurück. Es war die Macht der Gewohnheit, die sie niederkauern und nach dem Nachthimmel schauen ließ. Ein letztes Mal.
Julia bewegte den Spiegel und erstarrte. In der milchigen Oberfläche bewegte sich etwas. Sie hielt den Atem an. Da schlich jemand herum. Sie konnte kein Gesicht erkennen, nur einen Schatten, der größer wurde, während er lautlos auf sie zukam.
Julia ließ den Spiegel fallen, sprang auf die Füße und stieß einen gellenden Schrei aus:
"Hilfe! Hilfe!"
Überrascht zuckte der Eindringling zusammen. Der Schlag, der ihrem Kopf gegolten hatte, ging fehl und traf ihre Schulter. Schmerz flammte durch ihren Körper.
"Hilfe! Hilfe! Sven!", kreischte sie und warf sich auf ihren Angreifer. Bruchstücke ihres Selbstverteidigungskurses kamen an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Ihre Finger krallten nach den Augen des Mannes und bekamen den Stoff einer Skimaske zu fassen, während sie mit den Knien nach seinem Unterleib stieß.
"Hilfe!", röchelte sie. Hände schlossen sich um ihre Kehle. Langsam wurde die Luft knapp.
"Hilfe!"
Als Julia zu sich kam, schwebte Svens Gesicht über ihr. Er war bleich und hatte ein Veilchen. Sobald er sah, dass sie ihn erkannte, drückte er sie vorsichtig an sich.
"Liebling!"
"Was ist passiert?", flüsterte sie und hustete. "Mein Hals tut weh." "Der Kerl hat dich gewürgt. Schatz, du hattest riesiges Glück. Ich habe dich schreien hören und …" "Was ist mit dem Einbrecher?" "Ich hab ihn ausgeknockt. Dann hab ich die Polizei gerufen." "Wer war es? Sven, du hast mir das Leben gerettet!" "Wenn du es so nennen willst. Kannst du aufstehen, Schatz? Der Kerl hat mit dem Wachmann unter einer Decke gesteckt, soweit ich das mitbekommen habe. Die Polizei ist draußen. Julia, weißt du eigentlich, was für ein Glück du hattest!" Sie lehnte den Kopf an seine Schulter.
"Das weiß ich", krächzte sie. "Die Polizei will sicher mit mir sprechen. Aber hilf mir erst, das hier wieder einzuräumen." Ihre Blicke kreuzten sich.
"Julia, Schatz, wir hatten doch …"
Sie unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln.
"Weißt du, ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich nur Glück hatte." Sie hob den Spiegel auf und hielt ihn so, dass sie sein Gesicht darin erkennen konnte. "Du hast mich um Hilfe rufen hören, nicht wahr?" "Ja." "Dann überleg dir mal, mit welchen Buchstaben Hilfe anfängt."



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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