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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schlussstück

© Janina B. Naster


Am Ende konnte ich trotzdem nur noch an ihn denken. An seine Augen. Und wie er sich angefühlt hatte. Wie er dalag. Ich bildete mir sogar ein, etwas gerochen zu haben. Einen schweren Geruch, süßlich, aber gleichzeitig irgendwie säuerlich. Aber sie sagen, er kann erst seit ein paar Minuten tot gewesen sein. Nach ein paar Minuten ist man noch keine richtige Leiche.
Jedenfalls kann man noch nicht wie eine riechen.
Er hatte plötzlich im Treppenhaus gelegen. In unserem Haus. Ich war von der Schule gekommen. Im Briefkasten endlich ein Brief von meiner besten Freundin aus dem Sommerlager. Ich hatte schon zu lesen begonnen, während ich die ersten Stufen hinaufging und gleichzeitig in meiner Hosentasche nach dem Wohnungsschlüssel tastete. Bis ich gegen etwas Schweres trat. Nicht richtig hart, nicht richtig weich. An ein Riesenstofftier musste ich denken oder einen Sack voller Klamotten, den jemand vor seine Tür gestellt hatte. Aber irgendwie fühlte es sich doch anders an. Hinter meinem Brief sah ich ein Gesicht liegen. Wären die Augen nicht gewesen, hätte ich hoffen können, dass es nur schlief. Die Leiche lag auf dem Rücken und oh Gott, beinah wäre ich draufgetreten. Mit meinen Turnschuhen.
Ich hätte ja geschrieen, staunte meine große Schwester, oder gekotzt. Hast du geschrieen?
Aber es war ganz still geworden um uns herum. Um die Leiche und mich. Kein Hundegebell mehr aus dem zweiten Stock, kein Lärm von der Strasse, kein Kleinkindergeschrei. Nein, ich hörte nicht mal mein Herz klopfen. Wir beide in der Mitte einer Wolke, in die es kein Geräusch mehr schaffen konnte. Und ich habe genau hingesehen. Dieses Shirt, habe ich gedacht, hat meine große Schwester auch. Weiss, mit drei roten Streifen. Darin war sie gerade durch ihre Führerscheinprüfung gefallen. Jetzt hatte sie ein Mofa und durfte nicht mal damit fahren. Und an ihm sah das Shirt viel besser aus. Statt zu schreien, hielt ich die Hand um meinen Schlüssel gekrallt und fing an, ein bisschen zu frieren. Und ich überlegte, ihn anzufassen, ihn kurz zu berühren, am Unterarm vielleicht. Ich sah mich um. Niemand beobachtete mich.
Er war meine erste Leiche.
Wie hat er ausgesehen, fragten die Jungs in meiner Klasse und rissen die Augen auf. Ziemlich jung, murmelte ich, und blond. Mehr ist mir nicht eingefallen. Ich stand morgens auf, ging abends ins Bett. Dazwischen Schule und Klavierstunden. Ich antwortete und lachte wie immer. Alles mit ihm.
Mitten in mir. Aber man kann unten ständig das gleiche Bild sehen und gleichzeitig oben auch irgendwie noch die normalen Dinge denken. So drüberweg. In der Schule passte ich auf, und meine Mathearbeiten waren nicht schlechter als vorher. Meine große Schwester war sich sicher. Ich würde von ihm träumen müssen. Davon wie er dalag und tot war. Oder davon wie er war, bevor er eine Leiche wurde. Wie die Wohnung aussah, zu der sein Schlüssel passte. Und vielleicht auch davon, warum er jetzt tot war. Aber nichts passierte. Wenn ich schlief, dann schwer und traumlos. Ab und an, meist kurz vor dem Aufwachen, träumte ich von meiner besten Freundin. Aber das hatte ja eigentlich nichts mit ihm zu tun. Höchstens ein bisschen. Sobald ich wach war, dachte ich an ihn, sah ich ihn. Helle Härchen auf den Unterarmen. Und tot.
Kein Blut, kein blauer Fleck. Nur seltsame Augen. Den Schlüssel in der Hand.
Genau wie ich.
Ich hätte einfach weiter gehen können. Jemanden holen, oder auch nicht. Ich dachte nach. Ob ich ihm vorher schon mal begegnet war. Ob das nun eigentlich ein Shirt für Mädchen oder für Männer war. Wie ich diesen Geruch beschreiben könnte. Denn in Gedanken schrieb ich schon den Antwortbrief an meine Freundin. Vielen Dank für deinen Brief! Als ich ihn gelesen habe, bin ich über eine Leiche gestolpert! Aber vielleicht sollte ich ihr lieber nichts davon schreiben. Vielleicht würde sie es sich sonst schlimm vorstellen.
Ziemlich bald waren sie da. Haben mich beiseite geschoben und ihn angefasst.
Dann mitgenommen. Was vom Tag noch übrig war, verbrachte ich vor einem fremden Fenster. Ich sah raus, zählte die Krähen, dachte an ihn.
Nach der Schule ging ich dann manchmal nicht nach Hause. Die Tage waren kalt geworden, und ich trödelte zum Eisladen. Mit Sahne, fragte die Verkäuferin.
Ja, nickte ich und hatte keine Lust, mich zu bedanken. Meine Eltern schimpften nicht. Sie werden jetzt Wohnungsanzeigen lesen, kündigte meine große Schwester an. An dem Tag, an dem wir die Kartons die Treppe heruntertrugen und mein Vater mir den Schlüssel aus der Hand nahm, fiel der erste Schnee.
Ich schrieb meiner Freundin die neue Adresse. Die Postleitzahl war die gleiche geblieben. Meine Schwester hatte ihre nächste Führerscheinprüfung geschafft. Mit einem ganz neuen Pullover. Jeden Morgen nahm sie mich auf dem Mofa mit zur Schule. Zurück ging ich zu Fuß. Ich hatte ja wieder einen Schlüssel. Und ein eigenes Zimmer. Es war noch ziemlich leer und roch nach Farbe. Aber ich konnte trotzdem nur noch an ihn denken.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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