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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Freundschaft

© Josef Haider


Ein kühler Herbsttag neigte sich langsam dem Ende zu. Die Sonne vermochte nur mehr schwach durch die Baumwipfel zu brechen und von weitem vernahm man Donner eines nahenden Gewitters. Ein kräftiger Wind pfiff durch die Bäume, pflückte ihre letzten Blätter und wirbelte sie durch die Lüfte.
In der Mitte des Waldes, etwa 10 Kilometer nördlich von Graz, lag das Geburtshaus von Martins Vater, wo er sich heute mit Robert treffen wollte.
Es war weit abgelegen von der nächsten Ortschaft und schon seit Jahrzehnten unbewohnt, sieht man von einigen Obdachlosen ab, die in den kalten Wintermonaten dort Unterschlupf suchten.
Martin fror. Er stülpte die Ärmel seiner Jacke über seine Hände, verschränkte die Arme vor seinem Bauch und krümmte sich leicht um besser gegen den Wind ankämpfen zu können. "Heute ist kein guter Tag zum Sterben", dachte er sich und blickte zum wolkenverhangenen Himmel hoch.
Endlich erreichte er das kleine, verfallene Gebäude. Als er die knarrende Tür öffnete und den Großteil des schlechten Wetters hinter sich ließ (alles konnte das abbruchreife Gebäude nicht mehr auffangen) erblickte er Robert sofort. Dieser saß bequem auf einer der alten Matratzen, die verstreut am Boden lagen und rauchte genüsslich eine Pall Mall. Neben ihm stand eine Flasche Scotch Blended, die bereits halb geleert war. Robert blickte auf, sah Martin in die Augen und begrüßte ihn mit einem ungezwungenen Lächeln.
Dieser rieb sich seine feuchten Hände und ging nervös auf und ab.
Das Haus bestand nur aus einer einzigen großen Wohnfläche und Robert konnte seinen Freund unverwandt beobachten, egal wohin dieser sich auch bewegte.
Das Gewitter hatte das Haus bereits erreicht und dicke Regentropfen prasselten auf das undichte Dach. Auf dem morschen Holzfußboden sammelten sich einige Lacken, von denen Robert aber verschont blieb. Er unterbrach die unheimliche Stille und bot seinem Freund Zigaretten und einen Schluck aus der Flasche an. "Wie kannst du jetzt nur ans Rauchen und Saufen denken!" entgegnete Martin und sein Gesicht färbte sich dunkelrot. Robert schüttelte verständnislos den Kopf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die feuchte Ziegelwand und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Es dauerte allerdings nicht lange und Robert konnte Martin doch davon überzeugen, ein Glas mit ihm zu trinken. Kurze Zeit später war die Flasche geleert.
Das Trinken war Martins großes Laster. Seit Beginn seiner Pubertät trank er gerne und viel. Im Laufe der Zeit verlor er dadurch immer mehr die Kontrolle über sein Leben. Martin leitete ein großes Bauunternehmen, Niederwieser Konstruktionen, das er von seinem Vater übernommen hatte, doch in den vergangenen Jahren wurde die Auftragslage immer dünner und sein Arbeitspensum immer geringer. Er hatte Schulden in Millionenhöhe, denen eine Lebensversicherung gegenüberstand, die gerade einmal die Hälfte dieser Schulden abdecken konnte.
Auch Robert hatte große Schulden. Er arbeitete in der Firma seines Schwiegervaters und hatte eine große Menge Geld veruntreut. Diese Veruntreuung war nicht mehr länger zu verbergen und Robert brauchte dringend Geld um die Lücken im Budget des Schwiegervaters zu stopfen. Auch er hatte eine Lebensversicherung, die ungefähr den gleichen Wert hatte wie Martins Versicherung. Die Freunde beschlossen, dass einer von beiden sterben müsste um den anderen zu retten. Es sollte wie Selbstmord aussehen und wie selbstverständlich würde der andere seinen besten Freund beerben.
Robert lehnte zufrieden an der Wand, während Martin, nun sichtlich entspannter, rechts neben ihm saß. "Wer von uns beiden den heutigen Abend überlebt", meinte Robert ruhig, "darf nicht vergessen die Flasche zu entsorgen - du weißt schon, wegen der Fingerabdrücke". Durch diese Worte wurde Martin sein möglicher, baldiger Tod wieder bewusst. Die beruhigende Wirkung des Alkohols ließ plötzlich nach und er wurde wieder sehr nervös.
Als Robert die Furcht im Gesicht seines Freundes erkannte, schmunzelte er.
"Hey Martin, alter Kumpel, wovor hast du eigentlich Angst? Wenn du gewinnst, dann kannst du weiterhin ein gutes Leben führen und wenn du verlierst, bist du innerhalb einer Sekunde mausetot. Du wirst gar nicht merken, dass du stirbst. Aus, vorbei, nichts geht mehr. Das einzig unangenehme ist das Warten!" "OK, lass uns anfangen", entgegnete Martin entschlossen. "Hast du auch alles mit, was wir brauchen?" Robert griff ohne zu antworten in die Innentasche seiner Jacke und zog eine Pistole hervor. Es handelte sich um eine SIG 225, eine Schussfeuerwaffe, die er bereits seit seinem Präsenzdienst kannte. Über Freunde aus dieser Zeit kam er auch an dieses Exemplar heran.
Robert ließ die Pistole mehrmals um seinen Zeigefinger rotieren und richtete sie plötzlich auf Martin. "Ka-Pummm!" imitierte Robert den Schuss einer SIG und brach in schallendes Gelächter aus, "Jetzt bist du tot!" Martin erschrak und wurde furchtbar zornig. Sein Gesicht wurde rot und die Ader, die senkrecht über seine Stirn lief, trat klar sichtbar hervor. Martin versuchte noch einmal sich zu beherrschen und bat Robert, seinen Abschiedsbrief auf die Matratze zu legen. Martin hatte einige sehr ergreifende Zeilen verfasst. Er schrieb über sein verpfuschtes Leben und dass er keine Hoffnung mehr habe, es in den Griff zu bekommen. Er entschuldigte sich bei seiner Familie und all seinen Freunden und endete mit den Worten: Ein Leben ohne Geld und ohne Liebe hat für mich keinen Sinn mehr. Als er jedoch Roberts Abschiedsbrief las, trieb es ihm die Zornesader erneut auf die Stirn. "Ich, Robert Z., scheide heute, am 18. Oktober 1999 freiwillig aus dem Leben, weil der Bierpreis um 2% stieg und die Mädchen nicht mehr so willig sind wie früher". "Verdammt, Robert, was soll diese Scheiße", schrie Martin empört und schleuderte seinen Brief zu Boden. "Hey.
Cool bleiben, o.k.? Für mich ist der Brief doch glaubwürdig, oder? Du darfst nicht immer alles aus deiner Sicht sehen. Aber was soll's. Es geht doch auch ohne Abschiedsbrief, oder? Genau genommen benötige ich auch gar keinen, denn ich gewinne sowieso!" Was Robert da sagte, gab Martin schon seit dem Tag zu denken, an dem sie beschlossen, dass einer von beiden für den anderen sterben müsse: Robert war schlicht und einfach der Glücklichere von beiden. Warum sollte sich das ausgerechnet bei einem Glücksspiel wie dem russischen Roulette ändern?
Es wurde sehr ruhig im kleinen Haus. Der Wind heulte unermüdlich um das alte Gemäuer und manchmal donnerte ein Balken gegen den morschen Fensterrahmen.
Mit den Worten: "O.K. alter Freund, lass uns beginnen", durchbrach Robert die Stille. Um Fingerabdrücke zu vermeiden, stülpte er einen Handschuh über seine rechte Hand und gab die Patrone in die Trommel der alten Pistole. "Der Handschuh ist notwendig, damit ich nicht Fingerabdrücke an Stellen hinterlasse, wo ich sie nach deinem Tod nicht mehr entfernen kann." Martin spürte, wie sein Herz immer schneller und kräftiger schlug. Unruhig kaute er am Nagel seines rechten Mittelfingers. "Und wer beginnt nun?" fragte er mit zittriger Stimme. "Egal", entgegnete Robert, "ich gewinne sowieso." Er schnappte sich die Pistole, drehte kräftig an der Trommel, positionierte den Lauf an seiner rechten Schläfe und drückte ab. "Scheiße", entfuhr es Martin, als er ein hohles "Klick" vernahm. Robert musste lachen, als er die Enttäuschung im Gesicht seines Freundes sah und legte ihm die Pistole vor die Füße. Martin ergriff sie entschlossen, setzte an, biss seine Zähne fest zusammen und drückte ab. Wieder passierte nichts. Robert nickte seinem Freund anerkennend zu und schnappte sich die Handfeuerwaffe. Er platzierte sie zwischen Kinn und Adamsapfel und zielte Richtung Hinterkopf.
Auch er schoss sofort. Wieder befand sich die Patrone an einer anderen Stelle des Magazins. Robert atmete tief durch. Er spürte, dass sich das Spiel seinem tragischen Ende neigte. Martin wurde sehr nervös. Schweiß sammelte sich auf seiner kalten Stirn und seine Atmung wurde immer schneller. Langsam nahm er die Pistole in die rechte Hand und drehte mit der linken das Magazin. Alles geschah wie in Zeitlupe. Martin bemerkte, wie all seine Kräfte aus seinen Gliedern entwichen. Verlegen und voller Scham blickte er zu seinem Freund, der links neben ihm saß und ihn mit einem leichten Lächeln anstarrte. "Was für ein trauriges Ende", dachte sich Martin, "feig wie ein Hund muss ich nun sterben." Mit zittriger Hand führte er die Pistole an seine Schläfe. Nach einigen Sekunden drückte er ab.
Ein schrilles "Peng!" hallte durch den Raum und es wurde unheimlich ruhig.
Einzig der Wind war zu hören, der unbeirrt seine traurige Melodie pfiff.
Martin öffnete langsam seine Augen und erblickte Robert. Aus dessen rechte Schläfe schoss das Blut über seine bleiche Wange hinweg und färbte seinen rohweißen Pullover binnen kürzester Zeit weinrot. Sein Kopf war ihm auf die Brust gefallen und seine Augen standen weit offen. "Verdammt Robert", sagte Martin vorwurfsvoll, "wenn man wirklich so schnell stirbt wie du immer gesagt hast, warum siehst du mich dann noch immer so fragend an?" Das Leben wich aus Roberts Körper und er kippte zu Boden.
Plötzlich wurde Martin hellwach. Er nahm Roberts Handschuh und begann gewissenhaft seine Fingerabdrücke zu beseitigen und das alte Haus aufzuräumen. Nachdem er das erledigt hatte, nahm er noch eine Zigarette aus der Jackentasche seines Freundes und zündete sie an. Er drehte sich noch einmal zu ihm um, sagte leise "Entschuldige" und verließ das Haus.
Die Jahre vergingen und kaum jemand sprach noch über den vermeintlichen Selbstmord von Robert Z. Nur einige alte Freunde spekulierten noch hin und wieder zu später Stunde, warum sich Robert an besagtem Herbsttag so überraschend das Leben genommen hatte. Nur Martin wurde nicht müde zu berichten, dass sein Freund schon lange an Depressionen litt und sein Selbstmord nur eine logische Konsequenz dessen darstellte. "Robert erwartete sich vom Leben die Hauptrolle und als er merkte, dass er aufgrund seiner mangelnden Talente bestenfalls für die Nebenrolle geeignet war, beschloss er die Bühne zur Gänze zu verlassen." Martin selbst bereute seine Tat nie. Es tat ihm zwar Leid, dass sein bester Freund sterben musste, aber er sah für sich keine andere Alternative. Als er die Pistole gegen seine Schläfe drückte war ihm plötzlich klar, dass der nächste Schuss tödlich sein würde. Er musste Robert töten um selbst leben zu können. Das erste Mal in seinem Leben hatte er sich bewusst dafür entschieden und er fühlte sich großartig dabei. Um das selbe Gefühl immer wieder zu erleben, besorgte er sich noch am selben Tag in sieben verschiedenen Apotheken eine hohe Dosis an unterschiedlichen Medikamenten, zerstampfte diese und bewahrte sie in seiner Wohnung auf. Jeden Morgen stellte er sich die Frage, ob er heute leben oder sterben wollte und er entschied sich jedes Mal für das Leben.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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