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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Oma von nebenan

© Karin Feltes


Völlig klar, dass es genau in dem Moment an der Tür klingelt, als ich die Gabel in die Hand nehme. Gerade habe ich mir einen schönen Teller Salat, ein Glas Wasser und einen Korb Brot serviert und mich an den Tisch gesetzt. Gemütlich und in Ruhe was zu essen, darauf habe ich mich die ganze Heimfahrt vom Büro lang gefreut. Und dann - Dingdong! Dieses lästige Klingeln. Ich könnte es ignorieren. Tue ich aber nicht. Pflichtbewusst wie ich bin, denke ich, nein, mach die Tür auf, es könnte wichtig sein. Ich verrolle die Augen, fluche leise und bewege mich zur Tür. Dabei ist es doch nur wieder irgend so ein Heini, der mir eine Zeitschrift andrehen will. Oder der Hausmeister, der mir mitteilt, dass morgen für eine Stunde das Wasser abgedreht wird. Oder ähnlich unnötiger Scheiß. Aber nein, ich renne zur Tür wie ein Pawlow'scher Hund. Vorher sehe ich noch brav durch den Spion, als könnte ich mir nicht wenigstens diese kleine Überraschung gönnen - einfach die Tür aufreißen und gucken, was davor steht. Nee, nix, ich werfe einen Blick durch das lächerlich kleine Loch und sehe das verzerrte Gesicht einer alten Frau. Graue Schäfchenlocken, zwischen denen die Kopfhaut durchschimmert, eine dicke Hornbrille Modell Zweiter Weltkrieg und eine großporige Nase. Langsam dämmert es mir, dass das meine Nachbarin ist, die Omma von nebenan. Was will die bloß? Kann mich nicht erinnern, mit der je ein Wort gesprochen zu haben. Ich öffne, sie grinst. "Guten Abend", quietscht sie mit ihrem Altoma-Stimmchen. "Ich bin Frau Schneider, ihre Nachbarin. Schön, dass sie zuhause sind." Das sehe ich anders, behalte es aber für mich. Komm zum Punkt, Omma, denke ich, ich hab Hunger, ich will meinen Salat und dann will ich mit nem Glas Wein auf die Couch.
"Was gibt es denn?" frage ich in einem kontrolliert höflichen Ton.
"Ach wissen sie, ich fahre morgen weg. In Urlaub. Nach Mallorca." Ma -Jorca, denke ich, nicht Ma -Lorca.
"Schön, dann wünsche ich ihnen viel Spaß."
"Ja. Danke!" Sie spricht, als wäre jedes Wort eine Treppenstufe, die sie sich hoch quälen müsste.
"Würden sie vielleicht so freundlich sein, und für etwa eine Woche meinen Schlüssel aufbewahren?" Oh nein, darum geht's. Lästige Nachbarschaftsdienste, die sie mir aufdrücken will. So etwas mache ich prinzipiell nicht. Erst den Schlüssel, dann die Blumen gießen, dann die Katze füttern, dann die Kinder oder die Enkel trockenlegen. Und am Schluss hockt die ganze Bagage tagtäglich bei dir in der Wohnung und säuft dir den Kaffee weg. Sie merkt mein Zögern, lächelt zittrig und schiebt nach: "Mein Sohn holt die Schlüssel ab, wenn er von seiner Geschäftsreise zurück ist. Dann kommt er hier vorbei, und sie müssen gar nichts tun, außer sie ihm geben." "Wissen sie, ich habe ziemlich viel zu tun im Büro. Kann sein, dass ich nächste Woche für zwei, drei Tage beruflich weg muss." "Das macht nichts. Dann kommt er einfach noch mal." "Ähm, ich...", schinde Zeit. Aber mir fällt ums Verrecken keine Ausrede ein. Warum hab ich dumme Nuss nicht gesagt, dass ich selbst in Urlaub fahre. Jetzt ist es zu spät. "Na gut!" Nehm ich halt die blöden Schlüssel.
Sie strahlt wie ein vertrocknetes Honigkuchenpferd. Die Runzeln und Furchen schieben sich quer durch das kleine Gesicht, die wässrigen Augen blitzen. Dann drückt sie mir ihren Schlüssel in die Hand, tätschelt mich noch ein paar Mal mit ihrem fleckigen Händchen, die Haut wie Pergament, so dünn, dass man die Adern und die Knochen sehen kann. Ich werde mir sofort die Finger waschen. Und den Schlüssel der Alten zur Desinfektion in ein Glas Wodka schmeißen.
Endlich hört sie auf zu tätscheln. Strahlt weiter. Sie winkt noch einmal, als sie sich zum Gehen wendet, dann verschwindet sie hinter ihrer Tür und es befindet sich endlich wieder eine Wand zwischen uns beiden.
Ich finde, es sollten grundsätzlich immer Wände zwischen Menschen sein. Am besten jeder in seiner eigenen Wohnung. Nachbarn zu haben ist der menschlichen Nähe fast schon zuviel. Die rücken einem nämlich auch ganz schnell auf die Pelle und dann kriegt man sie nicht mehr los, wenn man seine Ruhe haben will. Deshalb mache ich solche Nachbarschaftsgefälligkeiten wie Schlüssel aufbewahren, Pakete annehmen oder Blumen gießen nur sehr widerwillig. Ehrlich gesagt, ich halte es für eine Zumutung. Die Leute holen sich den Dschungel ins Haus, lassen alles mit ihrem Grünzeug zu wuchern, schaffen sich womöglich noch irgendwelche stinkenden Viecher an - und unsereins kann dann Gärtner und Tierpfleger spielen, während die sich in der Sonne suhlen. In Zukunft leg ich mir ein paar Ausreden vorher zurecht, damit ich bloß nie wieder irgendwas für irgendwen machen muss. Notiz: Ausreden aufschreiben und neben die Wohnungstür hängen!
Am nächsten Morgen stehen schon die Koffer der Alten vor der Tür. Eigentlich wollte ich gerade los zum Büro, aber als ich die Tür einen Spalt öffne, sehe ich sie, wie sie ihr Gepäck in den Flur schiebt. Ich ziehe die Tür schnell wieder zu. Bloß kein Altweibergequatsche am frühen Morgen. Durch den Spion beobachte ich sie, damit ich weiß, wann sie weg ist. Sie hat sich aufgebrezelt, trägt ein buntes Sommerkleidchen die Zehn-Euro-Dauerwelle hat sie unter einem gelben Tuch versteckt. Und riesige goldene Ohrringe baumeln an ihren ausgeleierten Ohrläppchen. Sie stellt Koffer um Koffer raus, drei dicke Teile sind es jetzt schon. Ziemlich schwer sind die wohl, sie kann sie kaum heben. Ihr ganzes langweiliges Leben in Koffer verstaut. Endlich kommt ein Typ, irgendwas Südländisches, wahrscheinlich der Taxifahrer, eine Riese mit Bart, der trägt die Koffer nach unten. Sie trippelt hinterher, mit einer vierten Tasche, dem Handgepäck. Eine vollgestopfte, ausgebleichte Adidas-Sporttasche aus den Achtziger Jahren. Hat bestimmt mal ihrem Sohn gehört und als der keinen Bock mehr hatte auf das alte Ding, hat sie' s für sich genommen. "Das ist doch noch gut." Kriegsgeneration. Bloß nix wegschmeißen.
Ich kenn die Frau kaum. Sie ist erst vor ein paar Wochen eingezogen. Da gibt's aber wahrscheinlich auch nix zu kennen. Omma ist Omma - und die ist ein besonders stereotypisches Exemplar. Gott sei Dank ist sie noch ziemlich rüstig. Sie kommt relativ gut die Treppen hoch, kann noch alleine einkaufen und, wies scheint, im Großen und Ganzen klar denken. Noch muss ich keine Angst haben, dass sie aufm Fernsehsessel verreckt und wochenlang vor sich hinverwest, bis der Geruch in meine Wohnung kriecht. Wie alt wird die sein? 75 vielleicht? Ist schwer zu sagen, ab einem gewissen Alter sehen alle Menschen gleich aus. Ab 80 kann man Männer und Frauen nicht mehr auseinanderhalten. Würde ja gerne mal wissen, wie die früher ausgesehen hat, so mit Zwanzig. Oder Dreißig, so in meinem Alter. Ob die immer schon so langweilig war? Bestimmt hat die Bilder an der Wand hängen, alle alten Leute haben Bilder an der Wand hängen. Weil sie sich nicht mehr ohne Hilfe erinnern können. Vielleicht könnte ich mal einen kurzen Blick in ihre Wohnung werfen. Und außerdem hat sie mit Sicherheit auch ein Foto von ihrem Sohn in der Wohnung. Ich muss wissen, wie der aussieht. Sonst könnte ja jeder kommen und den Schlüssel fordern. Dieses Argument leuchtet mir ein, also gehe ich schnüffeln. Greife mir den Schlüssel von der Kommode und flitze rüber.
Komisches Gefühl, so ne fremde Tür aufzuschließen, dabei sieht die genauso aus wie meine eigene. Weiß, glatt, mit nem Guckloch.
Die Wohnung von der Alten mieft. Eben so wie es immer in den Wohnungen von alten Leuten riecht. Ein Geruch aus einer anderen Zeit, nach eingelegten Lebensmitteln, nach Kohl, nach Faltenröcken, die zu lange im Schrank hängen. Nach Kernseife. Den hässlichen PVC-Boden, den ich gleich nach dem Einzug rausgerissen hab, hat sie natürlich dringelassen. Trifft wahrscheinlich voll ihren Geschmack. Von der Tapete krieg ich Augenherpes - kackbraune Blumen, die die Decke hoch wachsen. An der Wand hängt eine Leiste mit ein paar Haken, an denen ein dicker Pelzmantel, hängt. Dickes, braunes Fell. Sieht aber verdammt echt aus und fühlt sich auch so an. Aber nie im Leben kann die Omma sich nen Pelz leisten. Ist bestimmt ein Imitat ausm C und A. Oder ein Erbstück. Darunter stehen kleine zerschlissene Wildlederstiefel und ein Paar Lackpumps mit plumpem Absatz. Kann mir richtig vorstellen, wie sie auf denen sonntags nachmittags ins Café um die Ecke watschelt. An der Wand hängen ein paar Aquarelle mit kitschigen Landschaftsmotiven, ein zugefrorener See, ein Wasserfall. Vielleicht hat sie die selbst gemalt, bei nem Kurs in der Volkshochschule. Irgendwie muss man sich ja beschäftigen, bei so nem jämmerlichen Leben. Jetzt will ich aber endlich wissen, wie das Weibsbild, die Vorstufe zum vor sich hin vegetierenden Gemüse, früher ausgesehen hat. Aber Fotos hängen nicht an der Wand. Schade. Ihre Wohnung ist nur halb so groß wie meine. Statt einem zusätzlichen Schlafzimmer und einem Arbeitszimmer hat sie nur ein Wohnzimmer, dass alle Funktionen übernehmen muss. Hier steht eine Couch, mit beigefarbenem Cordstoff überzogen, ein kleiner Fernseher auf einem Tischlein mit drei dünnen Beinen, ein dunkelbrauner Schrank aus Kunstholz mit tiefer Maserung nimmt die ganze rechte Seite des Zimmers in Anspruch. In der Ecke steht ihr Bett, daneben ein Nachttisch mit blümchenstoffüberzogener Leselampe. Ich muss grinsen, das passt alles so gut ins Klischee. Außer, dass auch hier die vergilbten Fotos fehlen.
In der engen Küche hängt nichts an der gelblich gekachelten Wand. Außer einem Kalender von der Markt-Apotheke. Und eine Uhr hängt über der Tür. Es ist schon zwanzig vor Acht. Wenn ich jetzt nicht losdüse, komme ich zu spät zur Arbeit. Ich muss weg - ohne ein Foto angeguckt zu haben. Reine Zeitverschwendung war das.
Endlich Wochenende! Wenn's auch kurz ist, denn am Sonntag muss ich wieder ran, das Meeting am Montag vorbereiten. Aber morgen kann ich ausschlafen, vielleicht ein bisschen joggen oder ins Fitnessstudio, mal schauen. Der Abend heute ist verplant - da treff ich mich mit Doris, ner Kollegin. Wir wollen in diese neue Cocktailbar gehen, ganz in der Nähe von der Firma. Wir haben für die die Anzeigenwerbung entworfen und dafür eine Handvoll Getränke-Gutscheine kassiert. Ist schon drei Monate her. Und da die jetzt bald verfallen, werden wir uns heute abend die Kante geben. Doris ist die einzige in der Firma, die noch einigermaßen erträglich ist, das muss man echt sagen. Wenn ich sehe, was da für Arschlöcher sind - da könnte man grad ne Umschulung beantragen. Aber Doris ist einigermaßen in Ordnung. Obwohl - manchmal geht mir ihr Lachen auf die Nerven. Die Doris hat so ein schrilles Lachen, so' n typisches Frauen-um-die-Vierzig-Lachen. Das kann richtig peinlich werden mit der wegzugehen und die lacht und alle gucken hin. Wenn ich daran denke, dann schaudert' s mich. Ich hab eh schon Kopfschmerzen - na ja, wenn ich mir jetzt zwei Aspirin reinpfeif und später genug Cocktails hinterherschütt, dann wird ich Doris mal einen Abend ertragen können. Hoffe ich.
Die blöde Oma geht mir nicht mehr ausm Kopf. Den Schlüssel hab ich immer noch in der Tasche. Ich hab Doris davon erzählt und sie meinte, ich solle doch noch mal in die Wohnung rein. Gibt's doch nicht, dass die keine Fotos hat und auch sonst nix Persönliches. Vielleicht hat sie alles mitgenommen, hab ich dann gesagt, das würde auch die vielen Koffer erklären. Aber mal sehen, vielleicht schau ich doch noch mal rein. Jetzt aber erst mal saufen.
Der Abend war ganz nett. Ich hab mindestens fünf Cocktails getrunken und musste früher aus dem Taxi raus, weil ich mich sonst übergeben hätte. Das Taxi stand voll mit altem Zigarettenqualm, es war abartig. Jetzt laufe ich das letzte Stück, ist ja nicht weit. Die frische Luft haut mir ordentlich in den Kopf. Ich muss unbedingt ins Bett! Die Doris ist mir wie erwartet irgendwann ziemlich auf den Geist gegangen. Die hat nicht locker gelassen, hat sich in die Geschichte mit der Oma total reingesteigert. Den ganzen Abend ging' s um die Wohnung. Da noch mal rein zu gehen, das wäre wie ein Blick in die Zukunft, hat Doris gesagt. Ich hab nur gemeint, dass ich nie so enden will. Da kommste nicht drumrum, hat die Doris gelallt. Mit ner kleinen Rente und ohne Mann. Nee, nee, hab ich gesagt, ich hab vorgesorgt. Stimmt aber nicht, die Doris hat Recht. So wie die Omma, so werd ich auch irgendwann sein. Alt und allein und nur noch auf einen lilafurzgrünen PVC-Boden starren und auf den Tod warten. Oder auf den Zivi von Essen auf Rädern. Wir hamm Witze gerissen und gelacht darüber, aber jetzt grad, wo ich so aufm Weg nach Haus bin, find ich das gar nich mehr lustig. Die positive Wirkung vom Alk verfliegt, und jetzt kommt der harte Teil. Mir is immer noch so schlecht, alles dreht sich. Es fühlt sich an, als würd mein Gehirn zehn Zentimeter über meinem Kopf schweben und rotieren. Aber es hilft ja nix, ich quäl mich die Treppen hoch, erster Stock, zweiter, dritter, und komm in den Gang mit den vielen Türen und alle sind weiß und glatt und eine davon is meine. Aber welche? Ich weiß ja schon, welche, bin ja nicht bekloppt, nur voll. Aber stell dir mal vor, es wär die nebendran. Mach halt die verfickte Reise in die Zukunft, McFly. Hey! Is das witzig, ich steh schon vor der Wohnung der Alten. Kram den Schlüssel aus der Handtasche und schließe auf. So ein kleines Flüstermännchen sagt: nee, komm, lass mal. Aber meine Hand drückt die Türe auf und schon bin ich da, wo ich eigentlich erst in Dreißig Jahren sein sollte. Knips das Licht an u euchtet - meine Zukunft. Mein Pelzmantel an der Wand. Meine ausgeleierte Matratze in der Ecke. Mein abgewetztes Fernsehsofa. Mein Kleiderschrank. Was ziehen wir denn heute an, mal schauen. Der ist ja fast leer, der verfickte Schrank. Ein paar Faltenröcke und bestickte Blusen baumeln einsam an der Kleiderstange. Und ein blassgelber Regenmantel in der Ecke. Darunter steht ein Paar Stiefel. Und daneben liegt eine Wolldecke. Die ist aber hochaufgetürmt, da ist doch was drunter. Sicher ist da was drunter. Ich nehm mit spitzen Fingern einen Zipfel von der Decke und zieh sie vorsichtig zur Seite. Das gibt es doch nicht! Für den Bruchteil einer Sekunde setzt mein Herz aus. Mein Hirn plumpst unsanft in seine Fassung zurück. Unter der Decke ist eine durchsichtige Plastiktüte versteckt, so groß wie eine Aldi-Tüte. Drinnen sind lauter kleine Säckchen, voll mit weißem Pulver. Ich öffne die große Tüte und nehme ein Säckchen in die Hand, drücke es mit den Daumen hin und her, als könnte ich es so analysieren. Ich kenn solche Säckchen, die sieht man doch immer im Fernsehen, in den Nachrichten, wenn sie wieder irgendeinen Großdealer erwischt haben. Drogen, denke ich, es sind Drogen. Verdammte Scheiße, die Alte hat Drogen in ihrem Schrank!
Dabei kenne ich mich überhaupt nicht aus mit Drogen, jedenfalls nicht so richtig. Ich hab früher ab und zu mal gekifft, aber das war' s schon. Und deshalb habe ich verdammt noch mal keine Ahnung, was das für Zeug ist, dass die Alte da in ihrem Schrank hat. Vielleicht Koks? Heroin? Crack? Ich sitze auf dem fremden Bett und reibe mir meinen Schädel. Was soll ich jetzt machen? Die Polizei rufen? Dann fragen die mich, was ich in der Wohnung zu suchen hab. Oh Mann! Mir is so schlecht... Plötzlich merke ich, wie die ganzen Cocktails wieder hochkommen, der Kram steht mir schon im Hals und ich renne aufs Klo und reiher alles in einem Schwall wieder raus. Die Kloschüssel ist verspritzt. Schnell raus hier. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Zusammen mit der Kotze, die noch in meinem Hals brennt, ist das so, als hätte ich eine Schlinge um den Hals, die immer weiter zugezogen wird. Ich krieg kaum Luft. Kacke, der Beutel! Den hab ich immer noch in der Hand, warum auch immer. Aber lehne ich schon an meiner Haustür, schwer atmend, mit bunten Kreisen, die vor meinen Augen tanzen.
Ich träume. Es regnet weißes Pulver vom Himmel wie Schnee, aber es ist warm und alles wird zugedeckt von dieser weißen Schicht. Mit den Fingerspitzen male ich Kreise hinein. Quadrate. Dreiecke. Aber die Formen wollen nicht gelingen. Ich male unbeholfen wie ein Kindergartenkind, krumme Linien, eierförmige Kreise. Nichts will gelingen. Ich sehe meine Hände und sie sind verrunzelt und fleckig, die Hände der alten Frau. Cut.
Jetzt liege ich hier in meinem Bett, die Klamotten von gestern noch an, und ich weiß, dass es draußen schon hell ist, dass ein gutes Stück von meinem wertvollen Samstag unwiederbringlich verloren ist und dass der Kopfschmerz mein Hirn zertrümmert, sobald ich die Augen aufschlage. Wie wenn jemand einen Schalter anknipst, fällt mir der Sack mit dem weißen Pulver wieder ein. Das habe ich geträumt, sage ich mir. Das ist die einzig logische Erklärung. Aber die Erinnerungen sind so real. Ich habe noch den beißenden Geschmack von der Kotze im Mund. Langsam öffne ich die Augen. Die Sonne schreit mir mitten ins Gesicht.
Auf meinem Nachtisch liegt das kleine weiße Beutelchen. Es war kein Traum. Ich habe diesen Sack voll mit Rauschgift tatsächlich im Wandschrank der Alten entdeckt. Vielleicht ist es einfach nur Badesalz. Oder gemahlene Kernseife. Vielleicht weiß die Oma gar nicht, dass das Rauschgift ist. Vielleicht hat ihr das jemand heimlich in die Wohnung gestellt? Ich entwerfe alle möglichen Theorien, eine abstruser als die andere. Ich richte mich auf, mein Kopf ist eine Bleikugel und einer haut mit einem Hammer von innen dagegen. Ich wanke zum Bad, die Augen halb geschlossen. Wasser, ich muss was trinken. Ich sehe beschissen aus. Die verschmierte Wimperntusche betont meine Augenringe, meine Lippen blättern ab und meine Haut hat einen Grauschleier. Aber das ist jetzt scheißegal. Dass ich älter werde, ist nicht neu. Neu ist das Säckchen mit ominösen weißen Pulver auf meinem Nachttisch. Was soll ich mit dem verfickten Ding jetzt anstellen? Ich würde es am liebsten aus dem Fenster schmeißen. Weg damit! Raus aus meinem sauberen geordneten Leben. Soll ich es wieder rüber bringen? Ja, das mache ich, ich ziehe mich an und bring das Säckchen wieder dahin, wo es hingehört. Und dann vergesse ich das alles. Das ist die Lösung, jetzt geht's mir wieder besser. Ich leg es wieder zurück und alles ist gut. Ich fahre später ins Studio, trainier ein bisschen und leg mich dann unter die Sonnenbank.
Es klingelt - wer ist das denn? Es ist etwa zwölf Uhr, wahrscheinlich die Post. Die bringen bestimmt die Unterlagen für das Meeting per Einschreiben. Bringen wir' s hinter uns, danach gehe ich sofort zur Alten rüber. Ich ziehe mir den Morgenmantel über, drücke den Türöffner für die Haustür. Der Schmerz in meinem Kopf ist unerträglich und mein Magen fühlt sich an, als hätte man ihn mit Scheuerseife ausgewaschen. Ich öffne die Tür.
Vor mir steht kein Postbote. Sondern ein Schrank von einem Kerl. Dunkelhaarig. Dunkelhäutig. Ich starre ihn mit offenem Mund an. Der Taxifahrer! "Isch soll Schlüssel holen von Mama", stammelt er in tiefem Bass. Mit offenem Mund nickte ich gehorsam, greife wie hypnotisiert, ohne den Blick von ihm zu lösen, zum Schlüsselbrett und zerre den Schlüssel von meinem Bund ab. Er nimmt ihn, lächelt und bedankt sich höflich. Dann wendet er sich ab und öffnet die Tür zur Nachbarwohnung. Nicht da rein gehen, denke ich reflexartig. Die Angst breitet sich in meinem Brustkorb aus. Der Schrank! Hab ich ihn wieder geschlossen? Der Sack mit dem Pulver! Hab ich den wieder abgedeckt? Er wird merken, dass ein Beutelchen fehlt. Schnell schließe ich meine Wohnungstür und drehe den Schlüssel fünfmal herum. Dann presse ich mein Auge gegen den Spion. Ich kann kaum klar sehen, in meinem Kopf rauscht es als stünde ich unter den Niagarafällen. Er kommt wieder raus aus der Wohnung, mit einem Koffer. Da hat er den Sack rein getan. Er geht zu Treppe, und ich zum Fenster. Setze die Beobachtung am Fenster fort. Unten parkt ein schwarzer Mercedes halb auf dem Gehsteig. Da steigt der Schrank ein, hat jetzt ne Sonnenbrille auf wie Men in Black, und ich lehne auf meinem Fensterbrett und schau mir an, wie er wegfährt.
Er ist weg. Ohne was zu merken. Aber ich hab trotzdem keine Ruhe. Hock nur noch am Fenster und glotze nervös auf die Straße, aus Angst, dass der Kerl wieder kommt. Aber er kommt nicht.
Auch nicht am Sonntag. Und nicht am Montag, an dem ich mich krank gemeldet hab. Die ganze Zeit kann ich nicht ausm Haus raus. Aber langsam beruhigen sich meine Nerven, dank ein paar Valium, die ich noch in ner Schublade gefunden hab. Was ich mit dem Rauschgift machen soll, weiß ich immer noch nicht. Fürs erste hab ich's in den doppelten Boden meines Medizinschränkchens gestopft. Doris hat angerufen, wollte wissen was los ist. Hat sich erst mal über mich lustig gemacht, die dumme Kuh. Ob' s mir immer noch schlecht geht wegen dem Saufen. Sehr witzig! Ich hab sie abgewimmelt. Ihr was von ner Grippe erzählt. Ich werd wohl die ganze Woche daheim bleiben. Hab mir einen Stuhl ans Fenster gestellt, damit ich die Straße im Blick hab.
Was ist das? Ich muss weggenickt sein, traumlos. Meine Backe klebt am Fenster, Speichel läuft mir aus dem Mundwinkel. Jemand hat einen Schnipsel Zeit aus meinem Leben rausgeschnitten, draußen ist es schon fast dunkel. Ich kann kaum was erkennen mit meinen verklebten Augen. Langsam drehe ich den Blick scharf. Da steht ein Polizeibus auf der anderen Straßenseite, halb geparkt aufm Gehsteig. Da war vorhin Sirene, ja klar, da bin ich aufgewacht von. Trampeln im Treppenhaus, da rennt wer hoch. Und dann klingelt es nebenan Sturm. "Frau Schneider! Polizei. Bitte machen sie die Tür auf!" höre ich jemanden laut rufen. Die stürmen die Wohnung von der Alten! Ich rühre mich nicht, lausche angespannt, wieder hellwach. Noch einmal Sturmklingeln. Energisches Klopfen. Dann ein Rumpeln. Himmelherrgott, die treten die Tür ein! Dann rennen sie durch die Wohnung. Durchsuchen alles. Finden aber nix. Weiß ich ja. Bei mir würden sie was finden. Im Medizinschrank. Aber die werden bei mir nix durchsuchen. Oder? Ich weiß, was ich mache. Ich gehe raus und tu ganz ahnungslos. Mach ich. Geh zur Haustür und steck den Kopf raus. Zwei junge Polizisten in grünem Overall, ein größerer mit ganz blonden, fast weißen Haaren und ebensolchen Augenbrauen, das rötliche Gesicht voller Sommersprossen und ein kleiner Dünner mit schwarzen, etwas lichtem Haar, stehen auf dem Flur und schauen den Kollegen beim Durchsuchen zu. Die Tür von der Schneider ist noch ganz, nicht zerschmettert. Aber offen. "Was machen sie da denn?" Ich bin selbst überrascht, wie verwundert ich klinge. Der kleine Dünne wendet sich mir zu. "Wohnungsdurchsuchung. Tut uns leid, wegen des Krachs. Dauert aber nicht mehr lange. Sind sie die Nachbarin?" Was für eine blöde Frage! Aber ich hab zuviel Angst, um frech zu werden. Ich nicke einfach nur. Er will mir ein paar Fragen stellen und ich führe ihn mit weichen Knien in meine Wohnung. "Was wollen sie denn bei der Frau Schneider finden? Illegal eingeführten Spargel?" Ich stelle zwei Gläser und eine Flasche Wasser auf den Küchentisch. Er verzieht keine Miene nach meinem kleinen Witz, setzt sich und gießt sich ein. "Wissen sie, wo die Frau Schneider ist?" "In Urlaub, glaube ich. Hat sie jedenfalls gesagt." Er fragt, ob sie sich verabschiedet hat und wann und ich erzähle ihm die Schlüsselgeschichte. Natürlich nicht, dass ich selbst in der Wohnung war. Und nix von dem Sack mit dem Pulver. Aber sonst alles. Dass der Typ den Schlüssel abgeholt hat, wie er aussah, wie er gesprochen hat. Ich kooperiere. Ich bin auf der Seite der Polizei. Sie sollen den Kerl schnappen und die Schneider noch dazu. Ich erzähle und erzähle, der Polizist macht sich ab und zu Notizen. Manchmal nickt er, manchmal sagt er "Mmh". Nach etwa zehn Minuten leert hastig sein Glas und verabschiedet sich. Ich sinke auf die Couch. Erschöpft. Ausgelaugt. Aber ruhig. Es kann mir nix mehr passieren. Der düstere Drogendealer wird sich hier nicht mehr blicken lassen, die Schneider auch nicht. Vorbei. Vorbei. Vorbei. Morgen gehe ich wieder ins Büro.
"Hast du das gelesen? Das ist ja die Hammer-Story!" Doris knallt die Bild-Zeitung auf meinen Schreibtisch. "Sex, Drugs und Cucadent", steht da in fetten roten Buchstaben. Die Unterzeile: "Rentnerin brennt mit kolumbianischem Drogenboss durch".
"Das musst du dir mal durchlesen, ist echt voll die abgefahrene Geschichte und auch noch hier passiert. 30 Kilo Kokain soll der geschmuggelt haben..." Doris plappert und plappert. Ich blende ihr Geschwätz aus, das grobkörnige Foto neben dem Artikel interessiert mich mehr. Darauf ist ein sehr großen Mann zu sehen, er zieht eine kleine Frau hinter sich her. Das Bild ist wohl von einer Überwachungskamera aufgenommen. Beide scheinen in eile zu sein, beide tragen Sonnenbrillen - Er hat einen weißen Anzug an, passend zu seinem langen weißen Bart und seinen weißen Haaren. Sie trägt ein helles Kleid, aber man kann sie kaum erkennen, weil sie halb hinter ihm steht, in seinem Schatten. Ich sehe aber sofort, dass es die Omma ist, die Schneider.
"Das wär auch was für mich, später mal. Nicht in ner ollen Wohnung vergammeln, wie Deine Nachbarin, sondern noch mal schön einen auf dicke Hose machen." Doris hört auf zu reden. Ich drehe mich zu ihr um und lächle bemüht. Sie klopft mir auf den Rücken. "Was meinst du? Das machen wir auch so, wenn wir alt und grau sind, oder? Sex and Drugs!" Ich nicke, immer noch das festgefrorene Lächeln im Gesicht. "Gerne. Ich hab noch ein bisschen Koks zuhause." Doris stockt für den Bruchteil einer Sekunde. Sie gibt einen kehligen Laut von sich. "Ey, du echt ne Nummer!" kreischt sie und geht wieder zurück zu ihrem Schreibtisch. Ihr schrilles Lachen kann man im ganzen Büro hören.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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