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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Entscheidungen
© Andreas Lehmann
"Glaubst du, ich könnte dich verlassen?", fragte sie.
"Bitte?" Seine Stimme klang abwesend, so als habe er sie nicht verstanden. Eine halbe Stunde lang hatten sie schweigend nebeneinander gesessen und gelesen.
"Ob ich dich verlassen könnte", wiederholte sie. "Ob du glaubst, dass ich das könnte?"
"Was ist los?" Er sprach langsam, gequält. Sie hörte, wie er sich ebenso langsam in seinem Liegestuhl umdrehte: "Was redest du da?"
"Na ja", sagte sie, ohne ihn anzusehen, "ist ja bloß 'ne Frage. Ich meine-" Sie brach den Satz ab und wartete auf eine Reaktion. Doch er schwieg. "Hallo!", sagte sie. "Ich rede mit dir."
"Was ist denn los, verdammt. Ich lese!"
Sie war sich nicht sicher, doch sie glaubte, in seiner Stimme mehr zu hören als bloß den Unwillen, sich einer anderen Beschäftigung zuzuwenden. Jetzt drehte auch sie sich um. Bis dahin hatte sie ruhig auf dem Rücken gelegen, das Gesicht im Schatten des großen Sonnenschirmes, und nachdenklich in die Luft geschaut. Sie hielt eine Zeitschrift in den Händen.
"Ich habe dir eine Frage gestellt. Ist das Buch so spannend?" Sie war ein wenig überrascht darüber, wie aggressiv das klang. "Ich will jetzt endlich von dir wissen, ob du meinst, dass ich es fertig brächte, dich zu verlassen!"
"Mich verlassen? Hör auf, solchen Unsinn zu reden." Er schüttelte heftig den Kopf und verzog sein Gesicht. Er tat gerade so, als habe sie den Verstand verloren.
"Unsinn? Wieso denn Unsinn. Es wird doch wohl erlaubt sein, mal eine Frage zu stellen. Glaubst du, dass ich dich verlassen könnte - wieso soll das denn Unsinn sein? Wieso soll ich das nicht ernst meinen?" Sie sprach schneller und lauter, als sie es vorgehabt hatte.
In einer einzigen Bewegung legte er sein Buch beiseite und setzte sich aufrecht in seinen Stuhl. Die Beine angewinkelt, stützte er sich auf die rechte Hand, während er mit der linken seine Augen vor der Sonne abschirmte, so als sehe er in die Ferne. Er starrte sie über den kleinen, flachen Tisch hinweg an, auf dem sein Glas stand und das Buch lag, in dem er bis eben gelesen hatte.
"Was ist in dich gefahren?", rief er. "Willst du mir drohen?!"
Seine plötzliche Wut erschreckte sie. Auch sie setzte sich. "Ist ja gut", sagte sie. "Ich habe ja gar nicht gesagt, dass ich das will. Ich meine doch nur - na ja, eben, ob du glaubst, dass ich ... wie oft soll ich es eigentlich noch sagen?" Dieselbe Wut, die sie an ihm so erschreckt hatte, ergriff für einen Moment auch von ihr Besitz.
"Was, bitte, soll die Frage, ob du es könntest, wenn du es nicht willst?" Er sprach jetzt sehr laut und sehr schnell. "Habe ich dich verletzt, dir weh getan, dich ...? Gefällt es dir hier nicht, hast du-?"
"Hör auf!", unterbrach sie ihn. Es war lächerlich. "Hör auf mit dieser Szene, um Gottes Willen. Natürlich gefällt es mir hier: die Sonne, das Meer, unser Häuschen, was sollte ich an all dem auszusetzen haben? Ich bin gerne hier, und ich bin gerne mit dir hier. Aber:" Sie machte eine Pause, während derer sie die Lippen aufeinander presste und nach den richtigen Worten suchte. Sie hörte sich selbst all diese Dinge sagen, nachdem sie beide bis vor ein paar Minuten still nebeneinander gesessen
hatten, und konnte sich kaum daran erinnern, wie es zu der Situation gekommen war, in der sie sich nun wiederfand. "Ich meine nur: Man hat eben sehr viel Zeit hier." Wieder entstand eine kurze Pause.
"Ich verstehe kein Wort", rief er. Er war noch immer sehr erregt. "Was meinst du? Wofür Zeit?"
"Beruhige dich, verdammt!", sagte sie. Sie fühlte sich von seiner heftigen Reaktion gestört. Er hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen und auszusprechen. Es war, als unterbreche er sie bei einer Arbeit, die ihn nichts anging. "Lass mich gefälligst ausreden!"
Er hatte sich mittlerweile auf die Kante seines Liegestuhls gesetzt und stützte sich, den Oberkörper nach vorne gestreckt, mit beiden Händen auf den Tisch. Absprungbereit.
"Nun?", sagte er. "Ich höre."
"Die Tage hier", begann sie, jetzt wieder langsamer und leiser als eben, "sind sehr schön, sehr erholsam. Die Sonne und die Luft tun mir gut, ich liebe es, morgens bei offenem Fenster aufzuwachen und das Meer zu hören: die Wellen, den Wind, die Möwen." Sie lächelte. "Diese wunderbare Ruhe, ich meine, da-"
"Was?", fiel er ihr ins Wort. "Sag mir jetzt bitte, was du meinst, ich-"
"Ich hatte lange nicht so viel Zeit nachzudenken", unterbrach sie ihn jetzt, sehr gefasst, gelassen beinahe. Als sei es ein Gespräch wie jedes andere, eine ganz normale Unterhaltung. "Man kommt auf ganz andere Gedanken als zu Hause. Auf ganz andere Gedanken." Sie schwieg, als sei damit alles gesagt.
Er stand in einer schnellen Bewegung aus seinem Liegestuhl auf und stellte sich vor sie. Sein Schatten bedeckte ihren Körper vollständig. Er stemmte seine Hände in die Hüften, kniff seine Augen zusammen und öffnete seinen Mund, aber offensichtlich fiel ihm nichts ein, das er sagen könnte. Offensichtlich fehlten ihm die Worte.
"Geh mir aus der Sonne", sagte sie. "Bitte." Er ging zur Seite, seine Haltung nicht verändernd. Sie wusste nicht, ob er ihr drohen wollte, aber sie hatte keine Angst. Sie war nicht einmal mehr nervös oder angespannt. "Danke", sagte sie, als ihr Körper von den Schultern abwärts wieder die Wärme der Sonne spürte.
"Sprich jetzt bitte", sagte er. "Sag mir endlich, was du meinst, ich verstehe kein Wort!" Er hatte angefangen, auf der Terrasse auf und ab zu gehen, die Hände noch immer in die Hüften gestützt. "Was soll dieses Spielchen?!" Er blieb stehen, um zu sprechen, und ging dann sofort wieder von einer Seite der Terrasse zur anderen. Und wieder zurück, immer hin und her.
"Setz dich bitte", sagte sie, "und beruhige dich. Du machst mich nervös. Es ist ja gar nichts passiert. - Wie gesagt, ich genieße es, hier zu sein. Man hat nichts von dem alltäglichen Kram um die Ohren, verstehst du? Man hat Zeit und Ruhe. Und da habe ich nachgedacht. Ich habe mir selbst eine ganze Menge Fragen gestellt - interessante Fragen und ganz unterschiedliche - und versucht, auch die Antworten zu finden. Das ist ein sehr anregendes Spiel, ich habe mich praktisch mit mir selbst unterhalten,
über Gott und die Welt." Sie lachte kurz auf. Ihr gefiel der Gedanke des lebhaften Selbstgespräches, und es gefiel ihr, sich jetzt darüber reden zu hören. Er bewegte ungeduldig seine Beine, machte kleine Schritte auf der Stelle, sagte aber nichts. Sie fuhr fort: "Nun, und eine Frage, die sich mir gestellt hat, war, ob du wohl in der Lage wärst, mich zu verlassen."
"Auf einmal bin ich es, der gehen will?! Warum sollte ich-" Er hob die Arme und schüttelte den Kopf: "Was soll das alles, um Gottes Willen?" Seine Stimme war jetzt noch lauter als vorher.
"Lass mich bitte endlich in Ruhe ausreden!", sagte sie. Sie saß noch immer im Liegestuhl und veränderte ihre Haltung nicht, aber sie sprach nun auch lauter und energischer. "Ich habe einfach darüber nachgedacht, was wohl passieren müsste, damit du mich aufgibst und davonläufst. Ich habe mich gefragt, auf welche Art ich dich wohl so enttäuschen könnte, dass du wirklich verletzt wärst. Was müsste passieren - irgendetwas, das dich daran hindert, dein Leben auf deine Art zu leben." Sie sah ihn
an. "Ich habe versucht, mir vorzustellen, in welcher Situation du dich - nun, für dich selbst und gegen mich entscheiden würdest." Sie schwieg für eine Sekunde, und ihre Blicke ruhten aufeinander. Dann sprach sie weiter. "Ich hatte keine Angst, dass du mich verlässt - ist das so schwer zu verstehen? Hast du nie über so etwas nachgedacht?" Aber sie wartete nicht ab, ob er antwortete. "Und als ich mir über diese Frage den Kopf ein wenig zerbrochen hatte - wirklich nur ein bisschen, keine
Angst, es ist nichts kaputtgegangen - da war der nächste Schritt ganz einfach. Es war wie eine simple logische Folgerung: Könnte auch ich dich verlassen? So herum, verstehst du, warum nicht einmal so herum?" Sie schaute ihn wieder an, wollte sehen, wie ihre Worte auf ihn wirkten. Ob er sich beruhigte und die Natürlichkeit und Harmlosigkeit ihrer Gedanken erkannte. Aber sein Gesicht war rot und seine Augen klein und starr - ihr Blick war hart, alarmiert. Seine Finger bewegten sich.
"Meine Güte, es hat nichts zu bedeuten, es ist einfach ein interessanter Gedanke. Könnte ich dich verlassen? Was würde ich aufgeben, was vermissen? Was würde ich verlieren, verstehst du, das ist doch die Frage."
"Mich!", rief er. "Mich würdest du verlieren!" Er machte ein wütendes Geräusch, das auch ein Lachen oder ein Husten hätte sein können. "Mich! Du würdest ..." Er schloss seine Augen und drückte die Hände gegen seine Schläfen. Sie sah, dass er sich zusammennehmen musste, um nicht die Nerven zu verlieren. Beinahe begann es, unheimlich zu werden. So hatte sie ihn noch nicht gesehen.
"Ich habe eben nachgedacht. Und ich fand die Frage interessant, wie du die Sache einschätzt. Nicht unbedingt, ob ich dich verlassen könnte, wollte ich nun wissen, sondern, ob du es mir zutraust. Wie siehst du mich, wie siehst du uns - das wollte ich wissen, und da ich selbst die Antwort nicht finden konnte, habe ich eben dich gefragt."
Sie sah zu ihm hinüber, und auf einmal lief er los. Schnell und zielstrebig lief er über die Terrasse und in das Haus hinein. Die Tür stand offen, sie hörte die schnellen, harten Schritte seiner Sandalen über den Wohnzimmerboden verschwinden, hörte drinnen eine Tür zuschlagen, und dann war alles still. Sie saß allein auf der Terrasse und hörte nichts als den Wind und ihre eigenen Gedanken.
Als er nach draußen kam, hatte er nicht mehr seine Badehose an. Er trug ein Hemd und eine leichte, beigefarbene Hose und Turnschuhe anstelle der Sandalen. Er wirkte noch immer wütend und verunsichert. Er sah sie an. "Such mich nicht", sagte er schließlich. Such nicht nach mir." Und dann ging er. Seine Schritte waren weit ausgreifend. Er drehte sich nicht nach ihr um.
Sie begriff seine Aufregung nicht, wusste aber, dass es keinen Sinn hatte, ihn jetzt aufzuhalten. Er ging die wenigen Meter über die Terrasse, dann nach links um das Haus herum und war verschwunden.
Sie folgte ihm nicht. Sie versuchte, noch ein wenig zu lesen, konnte sich aber nicht mehr konzentrieren. Dabei war es nichts als eine harmlose Frage gewesen - wichtig, aber harmlos: Glaubte er, dass sie in der Lage war, ihn zu verlassen?
Es dauerte über eine Stunde, bis er wiederkam. Sie hatte nicht gewusst, was sie tun sollte, während er fort war, und hatte in der Küche und in ihrem Schlafzimmer aufgeräumt, obwohl es dort nicht unordentlich war. Das Ferienhaus lag ziemlich einsam an der Küste, und es hatte neben der Küche und dem Schlafzimmer, das sie benutzten, noch ein weiteres Schlaf- und ein geräumiges, rustikal eingerichtetes Wohnzimmer. Meistens aber hielten sie sich auf der Terrasse auf, wenn sie nicht unterwegs waren - einkauften, baden
oder spazieren gingen - und genossen die Sonne und den Geruch des Meeres. Sie waren hergekommen, um sich gemeinsam zu erholen. Als sie Schritte vor dem Haus gehört hatte, war sie wieder nach draußen gelaufen und hatte nachgesehen, ob er es war.
Er wirkte jetzt viel ruhiger, gefasster, und es freute sie zu sehen, dass er offensichtlich nicht mehr wütend war. Nicht mehr hysterisch.
"Hallo", sagte sie. Sie bemühte sich, ungezwungen zu lächeln.
"Ich weiß es jetzt", sagte er.
"Was?" Seine Begrüßung, die keine war, überraschte sie. Seine Stimme klang sehr fest und ernst.
"Die Antwort", sagte er. "Auf deine Frage." Er machte eine kurze Pause, aber er sah nicht aus, als müsse er nach Worte suchen. "Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Was du mich gefragt hast." Er strahlte die Ruhe einer unumstößlich feststehenden Entscheidung aus. Er schien darauf zu warten, dass sie etwas sagte, aber sie schaute ihn nur abwartend an und schwieg, bis er schließlich fortfuhr: "Ja. Ich glaube, ja - du könntest mich verlassen. Du könntest das tun."
"Warum glaubst du, dass-?"
"Sei ruhig", unterbrach er sie selbstsicher. "Lass mich erst ausreden. Ich bin ein bisschen spazieren gegangen und habe nachgedacht. Über alles, was du vorhin gesagt hast. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass du es könntest - gehen, meine ich, mich verlassen. Ich hatte mir bisher noch keine Gedanken darüber gemacht, aber ich bin mir sicher. Ich mache mir jetzt keine Illusionen mehr. Nicht darüber."
"Moment, wie meinst du das?", fragte sie ihn: "Was soll das heißen, Illusionen? Worüber Illusionen?"
"Keine Angst", sagte er. "Ich nehme es nicht tragisch. Nicht tragischer, als es ist. Keine Angst." Er wirkte jetzt absichtlich hart und gefasst auf sie. Er spannte seinen Blick und seine Stimme an wie ein Sportler seine Muskeln.
"Bitte", sagte sie, "was soll das, ich meine-"
"Jetzt weißt du Bescheid", sagte er ruhig, bevor sie ausgesprochen hatte. "Jetzt wissen wir beide Bescheid." Dann schwieg er.
Sie wollte noch etwas sagen, eine Frage oder eine Antwort an ihn richten oder beides gleichzeitig, aber sie ließ es bleiben. Sie wandte ihr Gesicht von ihm ab. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er auf diese Weise reagieren würde. Die Klarheit seiner Antwort erschreckte sie.
Einen Moment lang dachte sie über eine Möglichkeit nach, die Situation zu entspannen, ihr die Schärfe zu nehmen, aber dann gab sie es auf und ging wortlos ins Haus hinein.
Im Schlafzimmer zog sie sich ein Kleid über ihren Bikini und ging dann zurück auf die Terrasse. Sie bemühte sich, ihrerseits entschlossen zu wirken. "Ich bin nur für einen Moment weg", sagte sie. "Es dauert nicht lange." Sie drehte sich um und verschwand durch das Wohnzimmer und durch den Vordereingang hinaus nach draußen.
Bald kehrte sie um.
Sie fand ihn draußen, auf dem kleinen Stück Rasen hinter dem Haus, das direkt an die Terrasse grenzte. Er stand dort mit den Händen in den Hosentaschen und schaute in Richtung des Meeres. Es war wieder ein klarer, heller Tag, man konnte weit blicken, und der Horizont war nur eine sanft gebogene Linie, die das Blau des Himmels vom Blau des Meeres trennte.
Sie stand eine Zeit lang in der offenen Terrassentür und sah ihn an: seinen Rücken und seine angewinkelten Arme, seine Umrisse vor dem Hintergrund der See. Es war fast keine Wolke am Himmel. Dann näherte sie sich ihm. Er musste merken, dass sie hinter ihm war, er musste sie hören, ihre Schritte auf dem Stein, dann auf dem Rasen, aber er drehte sich nicht um. Er stand reglos da und sah in die Ferne.
Als sie bei ihm war, legte sie ihm leicht ihre Hand auf die Schulter. Es dauerte einen Moment, bis er sich umdrehte, und dann sahen sie sich in die Augen. Sie schwiegen. Sie legte ihre Hand etwas schwerer auf seine Schulter, umfasste dann seinen Hals, seinen Hinterkopf, und zog ihn zu sich heran. Sie küsste ihn. Dann nahm sie seine Hand und ging auf das Haus zu. Sie zog ihn beinahe hinter sich her, ging immer schneller, ohne sich nach ihm umzudrehen, und sie erreichten das Haus fast im Laufschritt. Sie gingen
hinein, durch das Wohnzimmer hindurch und den Flur entlang direkt ins Schlafzimmer. Als sie vor dem Bett standen, zog sie sich das Kleid über den Kopf, öffnete ihren Bikini, stand nackt vor ihm. Auch er zog sich aus, sehr schnell, wortlos.
Währenddessen sprachen sie nicht, flüsterten nicht einmal ihre Namen, ihre Wünsche. Ihr Atem wurde schnell heftiger, lauter, sie waren leidenschaftlich, als hätten sie lange nicht miteinander geschlafen. Es dauerte nicht lange, und dann lagen sie erschöpft in ihrer Wärme beieinander. Noch immer sprachen sie nicht.
Nach einigen Minuten stand er auf. Er lächelte sie an, öffnete den Schrank, zog wieder seine Badehose an, mehr nicht. Er kam zum Bett und küsste sie, auf ihre Lippen, ihre Brust, ihren Bauch. Langsam schlich er zur Tür, so als schlafe sie. Er lächelte sie noch einmal an und ging aus dem Zimmer.
Er war draußen. Sie wusste, dass er auf sie wartete. Er lag bestimmt in seinem Liegestuhl und hatte beiden etwas zu trinken gemacht, einen Gin Tonic vielleicht, irgendeine Erfrischung. Wahrscheinlich las er in seinem Buch oder tat wenigstens so. Gab sich erfolgreich Mühe, sich so zu verhalten, als sei der Tag verlaufen wie jeder andere. Er würde Kraft und Ruhe ausstrahlen, jetzt, nachdem alles vorbei und, wie er glaubte, vergessen war. Sie wusste, dass er draußen auf sie wartete.
Sie hatte wieder ihren Bikini angezogen, mit dem sie bis zum Abend auf der Terrasse sitzen konnte, so warm war es dort im Sommer. Aber nun ging sie zum Schrank; sie nahm eine Bluse und einen kurzen Rock heraus und zog sich beides an, sehr langsam, unschlüssig. Und dann stand sie bewegungslos im Zimmer. Sie dachte nach, und sie war selbst überrascht, als sie merkte, wie ernst es ihr war. Wieder ging sie zum Schrank, mit langsamen, festen Schritten. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm die beiden Koffer
vom Schrank herunter. Sie waren leer und leicht. Sie legte sie aufs Bett. Sie drehte sich um, ging noch einmal zum Schrank, kehrte bedächtig zurück zum Bett, einen Stapel Blusen in ihren Händen. Sie legte sie nicht ab, hielt sie fest. Sie schaute angespannt vor sich hin.
Sie stand vor den leeren, aufgeklappten Koffern, und sie wusste nicht, was sie tun sollte.
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.