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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Das größte Abenteuer
© Dirk Brakenhoff
Es kam, dass eines Tages König Tarmin selbst die größten Helden seines Reiches zu sich rufen ließ. Die Herolde verkündeten in jedem Winkel des Landes, in jeder Stadt und in jedem Dorf die Botschaft, sodass sich viele Wagemutige nach Hochklang aufmachten, wo der gütige Herrscher in seinem prachtvollen Schloss residierte. Einen Helden jedoch ließ der König nicht von einem Herold ausrufen. Nach diesem bemühte er sich mit Hilfe seines persönlichen Boten. So traf auch Simon schließlich ein, dem vom Volke höchst geschätzten
Helden. Unzählige Male hatte er den Menschen, Zwergen, Trollen und anderen Geschöpfen helfen können. Ohne ihn wäre das Königreich so manches Mal dem Untergang geweiht gewesen.
"Bei dieser Reise ist es aber gleichbedeutend, was ihr zuvor getan habt, mein Freund.", sprach der König zu Simon. "Es wird euer größtes Abenteuer und niemand kann sagen, was euch erwarten wird. Was uns alle erwarten wird."
Nach Süden sollte die Reise gehen. Der Ort, den niemand je zuvor gesehen hatte, über die Berge, die der Volksmund nur die Unbezwingbaren nannte.
Simon hörte seinem König ruhig zu, trotz der vielen düsteren Gerüchte, die seine kommende Reise begleiten würden. Doch die Orks belagerten das Königreich, mit jedem Tag etwas mehr.
"Die einzige Möglichkeit, die uns bleibt.", fuhr der König fort. "Die Goldenen Landen verbergen sich dahinter, wenn den Gerüchten Glauben geschenkt werden darf." Der König lächelte seinen Freund an. "Wir müssen erfahren, was sich dort verbirgt. Ob uns die Landen dort mehr Hoffnung bringen können." Simon verstand und dachte nicht weiter an die Gefahren und Geschichten. Auch nicht an die vielen vergeblichen Versuche großer Helden in der Vergangenheit. Diese Aufgabe würde seine größte
sein. Simon sollte sich seine Gefährten aussuchen, denn er war auserkoren, die Reise zu leiten. Fünf tapfere Helden erwählte er: Grimwald, den standhaften Zwergenprinzen; die geschwinde Hochelbin Marah; Niels, den Glückstroll; Asrat, den Sohn des Talkönigs und Tiesen, den wandernden Axtschwinger.
Diese Gruppe, so entschied Simon, würde den Gefahren im Süden trotzen, was immer ihnen auch begegnen mochte.
Vor ihrer Abreise übergab der König Simon ein besonderes Geschenk. Es war das berühmte Artefakt der Dunkelelben, das magische Seil. Es würde ihnen bei ihrer Reise sicherlich behilflich sein. Doch könne man es nur ein einziges Mal benutzen.
Feierlich wurden sie bei ihrer Abreise vom Volke verabschiedet. Die gesamte Stadt von Hochklang versammelte sich in den Straßen. Bunte Fahnen wehten in den Fenstern und überall veranstaltete man Tänze, um schließlich jubelnd die Helden zu ihrem größten Abenteuer zu verabschieden. Stolz verließen die Großen Sechs, wie sie nun genannt wurden, auf ihren Rössern die Stadt in Richtung Süden.
Viele Wochen ritt die Gruppe durch die Landen des Königreichs. Der anbahnende Herbst färbte die Wälder schon goldbraun. Doch die Wiesen blühten noch voll und saftig. Viele gute Schafhirten trafen sie, die ihnen ihren besten Käse reichten. Kamen die Reisenden in die Nähe von Dörfern, wurde ihnen stets ein Empfangskomitee gesandt, um ihnen ihre Gastfreundlichkeit anzubieten. So schliefen sie oft in Herbergen und nahmen gern die Essensspeisen an (besonders Grimwald empfing gern und mit einem breiten Lächeln im Gesicht
den einen oder anderen Humpen Bier). Aber sie waren sich stets ihres großen Auftrages bewusst und reisten bereits in den frühen Morgenstunden weiter. Meist aber nächtigten die Helden im Freien.
Ausgelassen plauderten sie und erzählten sich Geschichten. Der Troll Niels war immer zu Scherzen aufgelegt und vermochte keine Gelegenheit auszulassen, eines seiner schier unzähligen Spiele zu spielen. Tiesen, der Axtschwinger beeindruckte seine Gefährten mit seinen tollkühnen Erlebnissen, wie auch der gutgläubige Zwergenprinz Grimwald. Marah, die Elbin, blieb zurückhaltend, doch stets freundlich. Ihre unverwechselbare Ausstrahlung tat den übrigen Gefährten gut. In den so unbesonnenen Augenblicken fühlte sich
Simon unbezwingbar gegenüber den kommenden Gefahren.
Je weiter sie in den Süden vordrangen, desto höher stiegen die Landen.
Tiefe Täler bohrten sich in die Landschaft, gesäumt von kleinen, wunderschönen Wäldern, in denen die Trolle lebten. Auch von ihnen wurden sie beschenkt, denn auch sie hatte die Nachricht der Großen Sechs erreicht.
Nur Grimwald war nicht so gut unter den winzigen Trollen zumute, führten doch die Zwerge und die Trolle viele Jahrhunderte Kriege gegeneinander.
Doch lebten die beiden Völker schon lange wieder in Eintracht.
Naher und näher rückten die Unbezwingbaren, ein Wall aus riesigen Bergen, die dem Himmel zu trotzen schienen. Doch zuvor erwarteten sie die düsteren Landen an ihrem Fuße, von denen kaum ein Lebender zu berichten wusste.
Langsam näherten sie sich ihrem Ziel. Es kühlte mit der Zeit immer mehr ab, vor allem die Nächte ließen die Helden frieren. Auch trafen sie nur noch selten Bewohner an und die letzten, die ihnen begegneten, brachten auch nicht die zuvor erlebte Herzlichkeit entgegen. Schließlich passierten sie keine Dörfer mehr, kein Mensch oder Troll begegnete ihnen. Die Sonne verbarg sich mehr und mehr hinter den schützenden Wolken, als hätte sie Angst, die Helden auf ihrem Weg zu begleiten. Auch die meisten Tiere schienen
sich vor dem Süden zu fürchten. Eine merkliche Stille umfing die Reiter. Schließlich erreichten sie die Nebelsteppen, die Grenze der bekannten Welt. Und der Name sollte recht behalten, denn ab diesem Tage sollte den Helden eine immerwährender Schleier begleiten. Noch voller Tatendrang trotzten sie dem düsteren Schimmer. Abends sangen sie Lieder und erfreuten sich ihrer Unterhaltungen. Doch mit dem dauernden Nebel verflog langsam die Ausgelassenheit. Besonders Grimwald verstummte mehr und mehr.
Simon versuchte die anderen immer wieder aufzumuntern, fing Gespräche an, verteilte Aufgaben. Nach vielen Tagesritten durch den düsteren Schleier war die Gruppe gezwungen, zu Fuß weiterzumarschieren. Denn Tiesen versank beinahe im tückischen Sumpf. Er konnte sich retten, aber sein Schimmel versank jämmerlich. "Sümpfe sind nichts für Axtschwinger", murmelte er stundenlang, den Blick dabei starr gerade aus. So trabten die Pferde nun unruhig hinter ihre Herren her. Wieder vergingen Tage, die keine trockene
Augenblicke zuließen. Die Geräusche um sie herum veränderten sich, von den natürlichen Lebewesen des Sumpfes hin zu einem unheimlichen Klangspiel, das keinen Helden mehr richtig schlafen ließ.
Es geschah, dass die Gruppe Helden, die sich immer weniger wie welche fühlten, mehr zusammengekauert dasaßen, als dass sie voran kamen. Denn immer dunkler ließ der Nebel sich auf die sechs Gefährten nieder, dass nur wenige Stunden am Tage genug Licht zuließen, dass sie sich mühsam weiterschleppen konnten. Nur Simon versuchte, sich nicht drücken zu lassen.
Er führte die Gruppe an. Mit jedem Gefährten sprach er täglich, munterte sie auf, gab ihnen Mut, den Gefahren entgegenzustehen. Doch es gab keinen Feind, dem sie Aug in Aug gegenüberstehen konnten. Nur der heulende Nebel.
"Simon", flüsterten die Stimmen undeutlich, "komm zu uns!". Aber auch die anderen Namen flatterten in der stickigen Luft. "Niels...Asrat...Grimald".
Einmal schrie der verzweifelte Zwerg auf, zog seine Doppelaxt und forderte die Stimmen zum Kampfe auf. Doch nichts passierte. Außer dass Simon glaubte, ein Lachen zu vernehmen. Doch er schwieg und beruhigte seinen atemlosen Gefährten.
Sie wussten nicht, wie lange sie sich schon durch den Sumpf schleppten, doch hatten Simons Gefährten schon die Hoffnung begraben, jemals wieder herauszufinden. Aus heiterem Himmel jedoch erreichten sie trockenem Boden, einen toten Wald. Doch große Freudegefühle ließ der skeletthafte Forst nicht zu. Zwar klebte der Nebel nicht mehr so dicht und drückend an ihnen, so blieb er aber dennoch ein täglicher wie nächtlicher Begleiter. Am schlimmsten waren aber die sie immer begleitenden Flüsterwesen. Besonders der Zwergenprinz
Grimwald sah mit jedem Tag blasser aus. Trotzdem kamen sie wieder schneller voran, nachdem sie wieder reiten konnten. Irgendwann ließen sie auch den Wald hinter sich. Sie erreichten trockene Steppen, die sie einige Tage durchquerten, bis sie schließlich unvermittelt einen reißenden Fluss kreuzten. Selbst an den schmalsten Stellen zählte des Nass noch immer bestimmt dreißig an Schritten. Und nirgendwo schienen die wilden Wassern nur einen Moment pausieren zu wollen, sodass ein Überqueren unmöglich schien. Tagelang
ritten die Helden den Fluss entlang, doch nirgendwo führte ein Weg hinüber. Würde alles umsonst gewesen sein?
Plötzlich hielt Simon inne.
"Haltet ein!", rief er. Seine Gefährten schauten ihn verwundert an. "Wir brauchen nicht weiter!"
"Was redest du da, mein Freund?", fragte Asrat, der Sohn des Talkönigs.
"Kennt ihr die Legenden des magischen Flusses nicht? Sie wird jedem Kind erzählt."
"Sprecht!", entgegnete Grimwald. "Uns Zwergen erzählt man keine Geschichten über schreckliches Gewässer."
"Dies ist der magische Fluss, erschaffen von Granagorn, dem Gott der Winde.
Er war ein starker Gott, doch seine beiden Söhne schwach. Diese gaben sich dem wollüstigen Leben hin. Sie planten irgendwann, ihren eigenen Vater zu morden. Denn sie konnten seine Reden über die Kraft und Unfehlbarkeit der Götter nicht mehr hören. Sie schmiedeten den Plan, ihn rücklings zu erstechen. Granagorn witterte die Falle und tötete seine eigenen Söhne. Das machte ihn aber so wütend und traurig, dass er Stürme und viel Niederschlag heraufbeschwor. Es soll 10 Jahre lang getobt haben. So bildete sich schließlich
dieser reißende Fluss, vor dem wir stehen, der die Wut Granagorns innehält. Doch wer an sich glaubt, der kann das Gewässer überqueren, einfach so. Granagorn ist ein Gott, der den Glaube an die eigene Kraft stärker gewichtet, als die Liebe zu seinen Söhnen. Passt auf!"
"Nein...", brüllte Grimwald. Doch es war zu spät. Simon sprang vom Pferd ins tosende Wasser. Doch statt unterzutauchen, versank er nur bis knapp unterhalb der Knie. Das tosende Wasser zerrte an ihm, doch er blieb standhaft und drehte sich zu seinen Gefährten um.
"Seht! Glaubt an euch und ihr werdet gehen. Kommt!" Mit diesen Worten schritt er wieder aus dem Wasser, nahm das Reisegepäck vom Pferd und schickte es fort. Denn die Pferde ließen sich auch mit bestem Willen nicht in die reißende Strömung bewegen. Simon ging als erster durch den Fluss.
Marah kam darauf. Dann die anderen. Als sie beinahe ein drittel des Weges zurückgelegt hatten, drehte Simon sich zu den anderen und blieb unvermittelt stehen.
"Grimwald! Er ist noch am Ufer."
"Ja", entgegnete Asrat. "Er schafft es nicht."
"Geht weiter! Ich hole ihn." Simon schritt den feuchten Weg zurück. Der Zwerg saß am Ufer. Der Schweiß stand ihm im Gesicht. Er zitterte.
"Du musst an dich glauben, mein Freund. Dieser Fluss ist magisch." Grimwald blickte seinen Freund angsterfüllt an. Er stöhnte.
"Blätter, die mir Fratzen zeigen. Nebel, der zu mir flüstert. Wasser, über dem ich gehen soll. Simon..." Leer blickte Grimwald seinen Anführer an.
"Ich kann das nicht glauben." Simon trat einen Schritt zu Grimwad und fasste ihn an die Schulter.
"Mein starker Freund. Es ist nicht wichtig, ob du daran glaubst. Wichtig ist nur, dass du an irgendetwas glaubst, dass dir Kraft gibt. Dann wirst du über die Wassern wandeln können wie wir anderen auch." Grimwald blickte seinen Freund erschöpft an. Dann stand er auf.
"Wie du meinst, Simon. Ich glaubte an meine Kraft, die mich befähigt, Gutes zu tun." Ein Lächeln huschte über das bärtige Zwergengesicht. "So denn.
Werden wir sehen, was es uns allen bringt." Mit diesen Worten nahm er sein Gepäck und stieg ins Wasser. Er lachte, während er Schritt für Schritt den Fluss überquerte.
"Es fühlt sich an, als wanderst du über einen Haufen Kuhmist.", scherzte er. Simon pflichtete ihm bei. Doch er vernahm plötzlich ein Lachen aus dem Wasser. Er schaute um sich, doch sein Freund schien nichts zu hören. Auf einmal, sie hatten nicht ganz die Mitte des Gewässers erreicht, versank Grimwald. Kein Schrei. Kein Schwimmen. Nichts. Nicht einen Moment lang tauchte er auf. Er wurde einfach verschluckt. Simon tobte, fasste ins Wasser, doch er kam nicht tiefer als seine Stiefel schon waren. Dann weinte
er bitterlich. Doch er musste die Gruppe anführen und nach einigen Augenblicken schleppte er sich auf die andere Seite, wo die anderen Gefährten ihn mit entsetzten Gesichtern empfingen. Am Abend sangen sie ein Zwergenlied für ihren verlorenen Freund.
Viele Tage vergingen ohne Zwischenfälle. Wieder war es Simon, der seine Gefährten immer wieder versuchte, von ihrem Trübsal abzulenken. Doch hatte er selbst etwas verloren mit dem Tod des Zwergenprinzen. Sein unabdingbarer Glaube an sich und seinem Schaffen bröckelte. Er konzentrierte sich voll und ganz seiner Aufgabe und verdrängte die Gedanken.
Die Landen wurden wieder etwas grüner, die Sonne heller. Doch Freude wollte nicht mehr aufkommen. Immer weiter schritten sie in die unbekannten Landen vor. Doch auch die Stimmen begleiteten sie. Immer nur nachts, wenn der Nebel wieder seinen Herrschaftsanspruch vollends geltend machte. Zehn Tage waren vergangen, seit Grimwald in den Fluten ertrank. In dieser Nacht machte die Gruppe halt auf einem Hügel, nahe eines kleinen Waldes. Marah hielt die letzte Nachtwache vor dem Morgen, während die anderen noch unter
ihren Decken ruhten. Die Elbin saß erhöht auf einem Felsen und beobachtete die Umgebung. Keine Stimmen vernahm sie, doch spürte sie die schleichenden Bewegungen ihrer düsteren Begleiter. Eine Müdigkeit überkam sie vor der ständige Unruhe. Wie konnte sie nur an sich halten, wenn die wandelnden Schatten so unnachgiebig an ihr zerrten?
"Marah!", flüsterte der Nebel. Marah zuckte zusammen und sprang auf den Felsen, ihren Bogen gespannt in wechselnden Richtungen.
"Wer spricht dort?", sprach sie mit leiser Stimme.
"Marah. Wer seit ihr?" Marah blickte zu ihren Gefährten, die abseits schliefen. Das Feuer glimmte noch.
"Marah, Hochelbin von Sinatran. Wer seit ihr?", flüsterte es. "Marah, seit ihr das?" Voller Angst, den Bogen stramm gespannt, schritt sie sich vorsichtig in den Nebel und schritt langsam den Hügel hinab.
"Marah, könnt ihr euch sehen?", flüsterte es vom Wald her. Voller Furcht, aber fest entschlossen wollte die Elbin dem endlich ein Ende setzen. Zu sehr hatten die Stimmen in den letzten Wochen ihr Gemüt gequält und ihre innere Ruhe zerstört. Marah schritt vorsichtig in den knorrigen Wald, der vom Herbstlaub vollkommen bedeckt war. Kein Bewohner schien dieser kleine Wald zu haben, ihre hochentwickelten Sinne vernahmen keinerlei Geräusche.
Unvermittelt erreichte sie eine Lichtung, die ihr den Atem verschlug. In der kreisförmigen Blöße des Waldes standen unzählige Steinstatuen. Die Bildungen schienen unterschiedlichen Alters. Einige machten einen sehr alten Eindruck und von der Zeit schon sehr abgetragen. Andere hätten ebenso vor wenigen Momenten dorthin gesetzt worden zu sein. Lauter Menschen, Trolle, Zwerge, Orks und andere, ihr unbekannte Wesen, standen dort mit erschreckenden Fratzen.
Langsam schritt sie auf die Waldlichtung. Marahs Herz pochte, doch sie musste die Figuren anstarren.
"Marah!", tönte der Nebel. Oder war es eine Figur?
"Marah...", blitzschnell drehte sich die Elbin um. Doch niemanden erkannte sie, zu dem die Stimme passte.
"Wer seit ihr?", flüsterte eine andere Stimme. Dieses Mal erkannte Marah, dass es eine der Statuen gesagt haben musste, obwohl die Lippen starr geblieben waren. Marah nahm allen Mut zusammen.
"Ich bin Marah, wie ihr bereits wisst. Warum verfolgt ihr uns?"
"Woher wisst ihr so genau, dass euer Name Marah ist?", flüsterte eine andere Stimme. Die Elbin bewegte sich ruhiger, den Bogen aber weiterhin gespannt in den Händen.
"So nannten mich meine Eltern."
"Aber seit ihr nur Marah?"
"Was?"
"Ihr seit auch eine Elbin. Seit ihr dann immer noch Marah?" Die Stimmen sprachen teilweise gleichzeitig, sodass Marah nicht ausmachen konnte, welche Statue sprach.
"Ich bin nur Marah.", entgegnete sie.
"Ihr seit aber auch eine Hochelbin. Eine Hochelbin vom Hause der Sinatran."
Marah drehte sich immer wieder.
"Aber ihr seit auch eine Frau.", sagte eine Statue.
"Und Tochter!"
"Hört auf!", rief Marah.
"Eine Verwandte eurer Sippe."
"Und Freundin von Sajep, Tranjor, Finkjahr und all den anderen."
"Hört auf!", kreischte sie.
"Und Feindin des Hauses der Himmelswiesen."
"Heldin bei eurem Volke."
"Hört auf...", flüsterte Marah. Sie sank auf die Knie.
"Untertan eures Königs der Wälder, dem großen Fojohr."
"Also wer seit ihr?", schrien plötzlich alle Stimmen gleichzeitig.
"Ich bin...", stammelte Marah, "...ich...weiß...es nicht..." Sie schluchzte.
"Ihr habt Glück, kleine Elbin." Dieses Mal sprach die größte der Statuen, vor der Marah zusammengesunken war. Denn die Lippen bewegten sich. "Viele andere vor euch blieben in sich und büßen nun dafür bis in alle Ewigkeit.
Doch auch ein verlorenes Sein hat keine Berechtigung mehr, unter uns zu weilen." Marah schrie. Ihre Finger lösten sich auf! "Doch ihr habt mein Rätsel verstanden. Euch bleibt keine Leidenszeit. Ihr habt es geschafft."
Marah sprang auf und rannte umher, stolperte und fiel wieder zu Boden. Ihre Hände lösten sich immer mehr auf und auch Ihr restlicher Körper verschmolz mit dem Laubboden. Einen letzten Angstschrei, dann war sie verschwunden.
"Nur ihren Bogen.", fauchte Simon. "Nichts weiter." Die Sonne ging mittlerweile auf, doch der Nebel hielt sich hartnäckig.
"Und diese seltsamen Steingebilde.", setzte Asrat nach. Es nützte nichts.
Sie suchten den halben Tag den Wald nach irgendwelchen Spuren oder Hinweisen ab, doch nichts fanden sie. Traurig marschierten die Helden weiter, um noch einigen Abstand zwischen sich und den Steinstatuen zu gewinnen. Jeder hatte seine persönliche Ahnung, was mit Marah geschehen war, doch niemand traute sich, es auszusprechen.
Immer weiter marschierte die Gruppe, doch ohne zuviel zu sprechen. Nur Tiesen, der Axtschwinger, vermochte die Gruppe zu unterhalten. Seine Entdeckerfreude überwog der Trauer um die beiden Gefallenen. Simon beschränkte sich darauf, die Gruppe so sicher wie möglich voranzutreiben.
Nachtwachen wurden nur noch zu zweit gehalten, wobei er meist die zweite Person darstellte. Seine innere Ruhe war mit der Elbin ebenfalls gestorben.
Selbst wenn Simon die Möglichkeit hatte, ruhig schlief er seit dem nicht mehr.
Sie durchwanderten eine gespenstisch unebene Landschaft, die immer wieder wechselte zwischen kahlen Felsen und Hügeln, sowie flache Landschaften mit kargem Graswuchs. Die Sonne kam nun häufiger zum Vorschein und vertrieb den Nebel zumindest bei Tage. Aber trotzdem verfolgten sie die Stimmen mit einer beängstigenden Gewissheit. In den sonnigen Tagen konnten sie sehen, dass sie sich dem unbezwingbaren Gebirge näherten, den die Helden erschaudern ließ. Der Aufstieg würde kalt und gefährlich werden. Aber auch so
mussten sie immer häufiger frieren. Die Nächte wurden eisiger, der Herbst nahte sich dem Wendepunkt. Weiter und weiter führte die Reise sie in Gebiete, von denen einzig nur Sagen berichteten. Irgendwann, fast fünfzehn Tage nach Marahs Verschwinden, fanden sie Spuren von alten gepflasterten Straßen. Doch schienen sie sehr lange nicht mehr im Gebrauch zu sein. Sie beschlossen aber trotzdem, ihnen zu folgen. Vielleicht gab es doch noch Bewohner. Niemand mochte wirklich richtig daran glauben.
Einige Tage später fiel der erste Schnee, was die Gruppe noch missmutiger werden ließ. Noch einige Tageswanderungen später schmolz er erst einmal wieder. Doch dann kreuzten sie ein Tal, das ihre Aufmerksamkeit vorerst bannte. Der kühle, aber nebellose Tag ließ in der Ferne eine Festung erkennen, die wie ein Pilz an einem Baum in den Berghang hineingewachsen zu sein schien. Am Fuße der Unbezwingbaren.
Es dauerte noch einmal einen ganzen Tag, bis sie die Festung erreichten.
Kein Bewohner ließ sich blicken. Überall hatte sich dunkelgrünes Moos auf dem behauenen Stein verteilt. Es schien, als hätten Riesen darin gewohnt.
Der Torbogen, den sie durchschritten, mochte vierzig an Schritten hoch sein. Auch der Hof war über und über bedeckt mit Moos. Die Türen, die in das Innere der Festung führten, sahen wie offene Mäuler aus, die darauf warteten, die Helden zu verschlucken. Auch sie waren, wie das Mauerwerk, gebaut aus schweren, riesigen Steinblöcken, die der Zeit zu trotzen wussten. Ein viermal so großer Mensch hätte bei jeder Tür nicht mal ansatzweise sich zu bücken gemusst. Doch von den Einwohnern fehlte jede Spur.
"Wir bleiben auf jeden Fall zusammen.", befahl Simon. Mit gezückten Schwertern und schnell gebauten Fackeln schritten sie in die inneren Räumlichkeiten der leeren Festung. Auch hier bedeckte das Moos noch so jeden kleinsten Stein. Zwar waren die Gänge, die sie betraten, etwas enger, doch trotzdem noch so üppig, dass alle verbliebenen Helden nebeneinander gehen konnten.
Die Gänge verzweigten sich und eine Zielzahl kleinerer Räume wurden erkennbar. Jedoch ließ sich kein Bewohner blicken. Ebenso fehlte jegliches Inventar einer Burg, wie Tische oder Stühle. Die Festung zeigte sich in einer vollkommenen Nacktheit. Ein markerschütternder Schrei ließ die Helden zusammenzucken. Dann hörten sie ihre eigenen Schreie, als ein heftiger Windstoß ihre gesamten Fackeln zum Erlischen brachte.
"Bleibt zusammen", schrie Simon. Doch war dies nicht möglich, denn immer wieder wurden sie von heulenden Windstößen zu Boden gerissen.
"In einen Nebenraum!", schrie Asrat. "Kommt!" Niels erreichte einen windgeschützten Raum. Er wusste nicht, wie weit der Windstoß ihn davon gefegt hatte, doch hörte er keinen seiner Gefährten. Der kleine Troll packte sogleich seinen Feuerstein aus und entzündete zitternd seine Fackel, die er bis zu dem Zeitpunkt krampfhaft festgehalten hatte.
Ein langer Aufschrei durchfuhr den vollkommen kahlen Raum, bis Niels bemerkte, dass es sein eigener war. Er lag auf dem weichen Boden, umringt von unzähligen kleinen Kreaturen. Sie mochten nicht halb so groß sein wie er, und er als Troll konnte schon einem ausgewachsenen Mann nicht einmal zur Hälfte reichen.
"Spiel mit uns!", lachte ein Winzling. Die Kreaturen hatten für ihre Verhältnisse lange Arme und Beine. Aber vor allem ihre riesigen Münder standen in keinem Verhältnis zu ihren restlichen Körpern.
"Spiel mit uns!", wiederholte eines der Wesen.
"Was?", stammelte Niels. Es mochten vielleicht zwanzig Winzlinge sein. Doch es konnten mehr sein, denn Niels' Fackel leuchtete nicht den ganzen Raum aus.
"Komm! Spiel mit uns!", stimmte jetzt ein ganzer Chor an. Sie fingen an, wild herumzuhüpfen. Sie drehten sich im Kreis und lachten.
"Fang mich!", sagte ein Winzling, der an Niels Ärmel zupfte. Niels richtete sich auf, blieb aber starr im Raum stehen. Er konnte die unwirklichen Bilder nicht fassen. Um ihn herum die wild tanzenden kleinen Wesen, die eine unabsprechbare Niedlichkeit an sich hatten. Niels fühlte sich wie in Trance. Ihm überkam eine trollhafte Lust, sich dem Spiel hinzugeben.
"Los jetzt, spielen wir fangen!", stimmten wieder einige Winzlinge mit erwartungsvollen Augen an. "Los, los, los!" Niels riss sich von dem Anblick los.
"Nein.", entgegnete er. "Ich kann jetzt nicht spielen." Das war nicht er, der da sprach. Doch auch für einen Troll musste es Momente geben, in denen er sich nicht einem Schabernack ergeben konnte. "Ich habe etwas wichtiges zu erledigen." Mit einem Mal verstummten die Winzlinge. Alle starrten ihn an.
"Spiel mit uns,", sagte eines der Wesen trotzig.
"Nein!", konterte Niels nun lauter. "Ich muss etwas erledigen. Ich will nicht spielen." Sekunden der Stille vergingen. In dem Moment, als Niels sich dem Blick entreißen wollte, lächelten die Winzlinge ihn gleichzeitig, wie auf Kommando, mit ihren großen Mündern an. Ihre Zähne kamen zum Vorschein und Niels schrie erneut auf. Statt Zähne besaßen die Wesen spitze schwarze Klauen. Niels griff nach seinem Schwert, doch er hatte es gerade berührt, als die Meute über ihn herfiel und ihn in wenigen
Augenblicken mit Haut und Haaren auffraßen.
"Verdammt!", keuchte Simon. "Nur sein Schwert!" Lange hatten die verbliebenen Helden die dunklen Räume durchsucht, bis sie endlich Spuren von Niels fanden. Doch das Ergebnis zeichnete sich nur durch sein Gepäck aus. Niemand wusste, was mit dem Troll geschehen war, doch machte sich jeder seine eigenen grausigen Phantasien. Simon bestand darauf, noch weiter zu suchen, doch bald empfing auch ihn die traurige Gewissheit. Sie zogen sich aus der dunklen Festung zurück und eilten schnellen Schrittes
davon.
Als der Abend hereinbrach, waren sie schon außer Sichtweite des Gemäuers.
"Was sollen wir tun?", sprach Asrat, während er die karge Suppe über dem kleinen Feuer bereitete.
"Ich weiß es nicht...", entgegnete Simon leer. Der Anführer der immer mehr schwindenden Gruppe saß auf einem umgestürzten Baum und stocherte mit seinem Dolch gedankenverloren an dem morschen Holz. Der Ernst der Lage zerriss sein Gemüt beinahe.
"Weiterziehen.", sprach Tiesen, der am lebendigsten von den dreien schien.
"Dies ist unsere größte Aufgabe, und wir haben es mit einem namenlosen Feind zu tun." Tiesen stand auf und schritt umher. "Was haben wir für eine Wahl? Wir sind so weit gekommen, aber doch noch nicht das Ziel erreicht." "Du hast recht, mein Freund.", flüsterte Simon. Auch er stand auf. "Wir dürfen uns nicht von unserer großen Aufgabe abhalten lassen." In dieser Nacht schlief niemand ruhig; Simon gar nicht. Der Morgen verlief ohne Zwischenfälle, selbst die Stimmen im Nebel
ließen sie in Ruhe. Sie verstauten ihre Sachen und wanderten parallel zum Steilhang der Bergkette.
Sie suchten eine begehbare Stelle, die es möglich machte, den Berg zu überqueren. Zwei Tage marschierten sie, bis sie ihren Weg bergauf schlugen.
Die grünen, mit Nadelholz bewachsenen Hänge, wurden mit jedem Tag karger.
Der Nebel wurde wieder dichter, doch die Stimmen blieben verschwunden. Mit jedem Tag des Aufstieges fühlte sich Simon schwächer. Sie redeten kaum ein Wort, nur das nötigste. Einzig Tiesen zog sie mit seiner unabdingbaren Entdeckerfreude voran. Bald auch ließ sich Simon von seinem Freund anstecken und er fasste wieder Mut. Sie überquerten die ersten niedrigeren Bergketten und erreicht wieder grüne Täler, Atempausen auf dem Weg über die Unbezwingbaren.
"Bisher sind sie aber nicht so unbezwingbar.", scherzte Tiesen.
"Aber etwas Wahrheit steckt in jedem Volksmund.", entgegnete Asrat. Der Sohn des Talkönigs merkte, wie verletzend sein Reden wirkte. "Verzeiht mir, mein Freund. Ich stecke noch zu tief in der Trauer über unsere gefallen Gefährten. Ich will hoffen, dass ihr recht behaltet." Doch in Wirklichkeit gab es keine Hoffnung mehr in dem Königssohn.
Weitere Tage vergingen. Der Schnee war nun mittlerweile ihr ständigen Begleiter. Besonders die Nächte nagten bitterkalt an ihrem Gemüt. Zu ihrem Erstaunen gab es in den Tälern wieder Leben, zumindest das von Tieren.
Simon spürte ein Auffrischen in seinem Geiste, als er einen Vogel zwischen den Zweigen eines Baumes sah. Der erste seit vielen Wochen. Als Tiesen es schaffte, einen Hasen zu erlegen, spürte die Gruppe seit langem wieder Mut in sich aufgären.
"Ich glaube, wir haben die untoten Landen passiert.", sprach Tiesen. "Nun soll uns der letzte Aufstieg besseres bringen.", lachte er, während sie an ihrem Feuer saßen und den Hasen verschmähten.
"Recht hast du.", stimmten die anderen ein. An diesem Abend taten sie etwas, dass seit langem nicht mehr zu hören war. Sie sangen leise Lieder ihrer Heimat und erzählten sich Geschichten. Auch in dieser Nacht blieben die Stimmen verschwunden. Asrat blieb aber verglichen still. Ihn plagten Träume. Er hatte es den anderen nicht erzählt, doch seit langem redete die Dunkelheit mit ihm, wenn er schlief. Immer wieder fand er sich nackt in einer vollkommenen Schwärze. In diesen Träumen lauerte ihr gemeinsamer
Feind, dass wusste Asrat. Doch hatte er sich nie zu Wort gemeldet. Jedes Mal lag Asrat nackt in der Düsternis und sah Bilder seines Lebens vor sich.
Nur selten waren sie von angenehmer Natur. Einmal, eines Nachts, sah er sich als Knabe im Kornfeld tollen und wusste, dass sein Vater ihn wütend suchte. Denn er hatte gern seine Zeit außerhalb der Viersteinburg mit den gemeinen Bauersjungen verbracht. Aber meist schmerzten ihn die nächtlichen Visionen. Der Tod seiner Mutter, aber auch die Kriege, die sein Königreich als Knabe durchzogen hatten. Der Hass auf seine Feinde. Die Angst vor dem Tode. Das viele Leid übermannte ihn irgendwann und er wollte nur noch aufwachen.
Doch er konnte nicht. Die Bilder kamen ohne sein Wollen und er wehrte sich verzweifelt. Lange hatte er das Gefühl, wahnsinnig zu werden.
Er fühlte sich immer gelähmter in seinen Träumen, wie auch bei Tage. Doch mit den vielen Nächten, die er in diesem dunklen Gefängnis verbrachte, fand er schließlich einen Weg, die Gefühle auszuhalten. Er entzog sich ihnen nicht mehr. Er ließ sie zu, durchlebte sie. So wie er es in seinem lebendigem Dasein immer gemacht hatte. Dies ging über viele Wochen gut. Die Träume fielen nicht mehr so schmerzhaft aus. Doch spürte Asrat, dass sein dunkler Feind dies nicht wollte. Aber was wollten die Träume? Er wusste es
nicht. Seit ihrem Aufstieg in die Berge allerdings peinigten ihn diese Illusionen mehr und mehr. Asrat verschwieg es aber den anderen gegenüber.
Er wusste, dass seine Gefährten ihm nicht helfen konnten. Er würde sie und ihrer neu gewonnen Hoffnung nur ein jähes Ende bereiten.
Wieder einmal lag er in der Finsternis. Doch dieser Traum, dachte Asrat, war anders. Irgendetwas hatte sich verändert. Nur wusste er nicht was.
Würde ihn der Namenlose vielleicht aufgeben? Lange saß der Königssohn dort und dachte nach, bis ein - sein - Schrei den unwirklichen Traum unterbrach. Zwei riesige feuerrote Augen glotzen ihn böse an. Asrat wollte aufstehen und fortlaufen. Doch er konnte nicht, als wäre er angekettet. Er fror plötzlich am ganzen Körper.
"Du jämmerliches Etwas glaubst, du kannst mir entkommen?", brüllte das Wesen mit einer schrecklich tiefen Stimme. Noch immer konnte Asrat nichts weiter als die Augen erkennen.
"Du kannst noch nicht einmal vor dir selbst davonlaufen." Die Stimme lachte höhnisch, dass Asrat sich die Ohren zuhalten wollte. Doch er konnte nicht.
Lichtblitze durchzuckten ihn. All die Bilder, die er bereits kannte und fürchtete.
"Hör auf! Ich kenne die Gefühle", keuchte Asrat. Die Bilder bewegten sich immer schneller. Jede Szene seines Lebens durchzuckte seinen Kopf.
Zerbrochene Liebschaften, unzählige Tote eines Schlachtfeldes, das Leid unschuldiger Menschen, wollüstige Szenen. Asrat schrie und schrie.
"Spürst du, was es bedeutet, Hass zu empfinden?" Die Stimme lachte laut.
"Was willst du?", keuchte Asrat, übermannt von den vielen grausigen Bildern und Gedanken. Er musste sie abstellen. Aber er konnte nicht.
"Wie viel Trauer kannst du ertragen?", brüllte die Stimme ohrenbetäubend.
"Nein! Nein! Ich will nicht mehr. Ich..." Asrat musste die Gedanken unterbinden, sonst würde er sterben. Er blockierte sie, verdrängte sie. Er dachte an Stupides, schrie Verse, wollte sich schlagen. Immer und immer wieder. Auf einmal bewegten sich die Bilder langsamer. Asrats eigene Gedanken kehrten wieder zurück. Doch spürte er Veränderungen in sich, eine Behäbigkeit. Es war beruhigend. Immer noch geisterten Bilder vereinzelnd ohne sein Wollen durch den Kopf. Doch konnte er irgendwann nicht mehr sagen,
ob sie gut oder schlecht waren. Er wusste es nicht mehr, weil er sie nicht mehr fühlen konnte.
Die Stimme fing an zu lachen, leise, dann immer lauter. Doch Asrat machte sich nichts mehr draus. Seinen Schmerz in den Ohren, die schreckenderregenden Augen, all das kümmerte ihn nicht mehr. Er kannte keine Angst mehr. Er würde jetzt Frieden gewinnen.
"Um Gottes Willen, weckt ihn!", schrie Tiesen. Simon kniete vor Asrat und schüttelte ihn heftig. Er packte den Wasserschlauch und übergoss den Schlafende mit dem kühlen Wasser. Doch Asrat lag nur da und schlug stöhnend um sich.
"Hör auf...kenne...Gefühle...", ächzte der Königssohn. Simon sah ein, dass es nichts nutzte. Er musste von selbst aufwachen. Die beiden Männer knieten bei Asrat und blickten sich angstvoll an.
"Nein...will...nicht mehr." Momente darauf wurde er ruhiger, bis er dann wieder weiterschlief.
"Seht, er schläft wieder friedlich.", flüsterte Tiesen. Simon schrie auf.
"Er wird ganz kalt.", jappste er.
"Was?", Tiesen fasste an die Stirn ihres schlafenden Freundes. Jetzt schrie auch er.
"Er wird zu Eis. Teufel! Zauberei!"
"Nein!", schrie Simon. "Nicht!" Wenige Augenblicke später lag vor ihnen eine Götze aus Eis, die einmal Asrat gewesen war.
Noch lange saßen die beiden verbliebenen Helden bei Asrat und beweinten ihn. Doch als die Sonne aufging, schleppten sie sich wieder vorwärts. Den einen, den höchsten aller Berge, galt es noch zu erklimmen.
Bitterlich kalt fegte ihnen bereits am Fuße der Unbezwingbaren ein Schneesturm entgegen, als wollte der Berg verhindern, dass sie ihn erstürmten. Doch die Mutlosigkeit der verbliebenden Helden wandelte sich in eine verbissene Entschlossenheit. Simon dachte nicht mehr über Schmerz und Leid nach. Einzig der Wille bewegten seine Füße. In der ersten Nacht der Besteigung fanden sie eine kleine Höhle, die gerade groß genug zum Schlafen war. Sie machten sich nicht erst die Mühe, darüber nachzudenken, wer die Wache übernehmen
sollte. Beide schliefen sofort ein, als sie sich hinlegten. Am nächsten Tag tobte es noch genauso schlimm wie am vorherigen.
Nur langsam schleppten sie sich voran. An einem geschützten Hang rasteten sie die zweite Nacht. Die Stimmen begleiteten sie die ganze Zeit und verhöhnten die Helden. Sie konnten es ignorierten. Doch die Schatten, die immer gerade in Sichtweite geisterten, konnten sie nicht übersehen. Panisch schritten sie voran. Die darauf folgende Nacht ruhten sie nicht. Sie konnten keinen Schlaf finden. Immer lauter tönten die Stimmen der Schatten.
In der Nacht öffneten sich die dunklen Wolken und die Sterne zeigten sich.
Das machte es ihnen einfacher, sich fortzubewegen. Doch mussten sie dies vorsichtig tun, denn jeder Schritt konnte das Aus für sie sein.
Mittlerweile hatten sie den Berg beinahe erklommen. Sie würden am nächsten Tag den Gipfel erreicht haben, wenn sie weiter so gut vorankämen. Doch im Laufe der Nacht verschlechterte sich das Wetter wieder und ein neuer Schneefall fiel über sie herein. Dieser entwickelte sich zu einem Sturm, dass die Helden kaum ihre Hände vor Augen sehen konnten. Doch die Angst bewegte sie immer weiter voran. Plötzlich rutschte Tiesen aus und fiel rücklings ins Bodenlose. Er landete im Schnee, aus dem er sich pustend befreite.
Er schaute nach seinem Gefährten, doch der war nirgends zu sehen.
"Simon!", schrie er. Doch der heulende Wind verschluckte jede Sprache.
"Simon!" Strampelnd richtete er sich auf.
"Du dummes Menschenkind…", tönte es von allen Seiten. Tiesen fiel erneut zu Boden. Ungeschickt rappelte er sich auf. Er rannte so schnell er konnte, ohne zu wissen, wohin. Beinahe wäre er mit einem mannshohen Fels zusammengestoßen. Tiesen schrie auf, der Fels verwandelte sich in eine grauenerregende Fratze.
"...dummes Menschenkind. Du bist ein Wurm. Sieh es doch ein." "Nein...", brüllte Tiesen und lief davon. Doch abrupt blieb er stehen. Auch der blanke Felsboden unter ihm nahm schreckliche Gesichtsformen an.
"Was bringt dir dein Wunsch nach Abenteuer? Nichts!" Das Wesen lachte. Der Axtschwinger zog seine Waffe und schlug auf die Felsen ein. Es lachte immer lauter. Tiesen ließ seine Waffe fallen und lief weiter davon. Mit einem Mal hörte der Sturm auf. Völlige Schwärze ummantelte den Krieger, der zusammengekauert in einer Ecke Atem schöpfte. Der große Held wimmerte leise. Er war ein Niemand, verglichen mit einer solchen Macht. Was konnte er schon tun? Wie lange Tiesen dort kauerte, wusste er nicht. Er hatte
nur den Wunsch, den Berg wieder hinabzusteigen und in seine Heimat zurückzukehren.
"Hier entlang, du dummer kleiner Held!" Tönte es von vorn. Tiesen zuckte zusammen und sprang auf. Er lief sofort in eine andere Richtung, obwohl er fast nichts sehen konnte.
"Immer schön geradeaus!", lachte das dunkle Etwas von seiner linken.
Schnell nahm er einen anderen Weg.
"Hier entlang!" Wieder nahm Tiesen eine andere Richtung. Er spürte wieder Kraft in seinen Gliedern und lief jetzt. Immer wieder stieß er schmerzhaft mit Geröll und Felsvorhängen zusammen, doch ignorierte er es. Er spürte das warme Blut an seinen zahlreichen Wunden.
"Wohin führt es dich jetzt, Nichtsnutz?" Keuchend blieb Tiesen stehen. Und wenn ihm die Stimmen wieder hinab bringen wollten? Vielleicht würde sie ihn dann in Frieden lassen?
"Und nun? Findest du den Weg allein?" Dieses Mal lief er in die Richtung der Stimmen. Mit einem Mal spürte er nicht mehr seinen schwitzenden und blutigen Körper, sondern kühle, erfrischende Luft. Dann fröstelte es ihn.
Erst Augenblicke darauf spürte er seinen freien Fall. Er schrie, schrie so laut, wie noch nie zuvor. Der ganze Berg schien zu mit ihm zu schreien. Und zu lachen. Er fiel und fiel.
"Nein!", wimmerte Simon. Tiesens letzten Laute verhallten. Simon sank in die Knie und weinte. Nun war er allein, der große Held. Ohne Rast und ohne Denken zog er sich immer höher hinauf. Er weinte vor Schmerz, lachte und brüllte laut. Simon wusste nicht mehr, wie lange er sich den Berg hinaufschleppte, wusste nicht mehr, ob Morgen oder Abend. Er konnte nur noch eines: Sich weiter den Berg weiter hinauf zu tragen. Selbst der Grund dafür erschien ihm immer schleierhafter. Eigentlich wollte er nicht mehr
auf den Gipfel. Doch der Frieden rückte mit dem großen Ziel näher, eine Umkehr würde ihn hinauszögern. Doch immer wieder hallte von allen Seiten dieses schreckliche Lachen. Simon versuchte nicht zu hören, stopfte sich Stofffetzen in die Ohren. Doch das Böse kroch auch durch den Stoff.
"Simon!", hörte er immer wieder. "Lass ab. Du hast verloren." Doch Simon quälte sich immer weiter und ignorierte die Stimmen und die Verformungen der Felsen um ihn herum. Er musste weiter. Das Wetter besserte sich plötzlich. Der Morgen kam und mit ihm die Sonne. Doch Simon konnte nicht mehr darauf achten. Ohne zu wissen warum und wie, erreichte er sich schließlich den Gipfel. Doch was er ganz oben, auf dem Unbezwingbaren, sah, verschlug ihm den Atem. Der gesamte Berg, die Felsen, alles war
ab dem Gipfel auf der anderen Seite mauergerade geschnitten. Als wenn Butter mit einem Messer durchtrennt würde, so auch die Felsen auf der anderen Seite.
Simon blickte hinab. Dort gab es keinen Nebel, als wenn er mit dem Gipfel ebenfalls durchtrennt worden war. Doch was Simon weit unten im Tal sah, konnte er ebenso nicht fassen. Ein sommerliches Grün lag dort, immer wieder durchtrennt von unzähligen Straßen. Weit entfernt, kaum zu sehen, stand so etwas wie eine Stadt mit hohen Häusern.
"Möchtest du dort hin?" Simon fuhr zusammen und drehte sich. Vor ihm stand ein Mann in einer langen feuerroten Robe. Er war groß und ohne Haarwuchs.
Sein Gesicht schien wie ein Meer unendlicher Falten und seine Augen quollen aus dem Schädel hervor.
"Wer seit ihr?", fragte Simon, vor Angst wie steifgefroren. Er merkte, wie gebeugt er dastand und richtete sich auf. Doch ließ er sein Schwert in der Scheide. Trotz des gespenstischen Aussehens, machte der Mann keinen bösartigen Eindruck.
"Ich bin Sordanus. Und ihr seit der große Held Simon, der diesen Berg bezwingen will?" "Das bin ich und das ist meine Aufgabe." Simon spürte die Kälte und den Wind nicht mehr. Der Mann strahle eine unnatürliche Wärme aus. "Was ist die eure?" "Meine Aufgabe hier?", Sordanus lachte. Dabei zeigte er seine Zähne. "Ich bin die dunkle Seite der Zeit. Und darum bin ich hier." Er nahm wieder ein ernstes Gesicht an. "Ihr könnt nicht weiter. Bis hier hin seit ihr vorgedrungen
und habt die andere Seite gesehen. Aber weiter geht es nicht." "Warum?", flüsterte Simon.
"Ich will euch bewahren. Und das kann ich nur, indem ich euch töte." "Nein!", stieß Simon hervor. Er packte in seine Reisetasche. "Ihr könnt mich nicht aufhalten. Und das wisst ihr." Simon nahm das magische Seit aus der Tasche, band es um einen Felsen, dabei aber Sordanus nicht aus den Augen lassend.
"Ihr habt Recht, großer Held", sagte Sordanus. "Ich kann euch nicht aufhalten." Simon warf das Seilende in die Tiefe und machte Anstalten, hinabzusteigen.
"Aber wollt ihr das wirklich?", fragte Sordanus. "Wisst ihr denn immer noch nicht, was euch dort unten erwartet?" "Nein.", entgegnete Simon. "Ich habe meine Aufgabe zu erfüllen und ich werde es auch tun." Damit schwang sich Simon über die Klippe und seilte sich hinab.
"Dann geht.", rief Sordanus mit ruhiger Stimme hinterher. "Erfüllt eure letzte Aufgabe." Er lachte.
Immer tiefer hangelte sich Simon hinunter. Obwohl das Seil immer direkt unter ihm zu Ende zu gehen schien, verlängerte es sich doch immer wieder von selbst. Doch musste Simon vorsichtig sein, der Wind blies ihn immer wieder kräftig von der Seite. Doch das war im Vergleich zu seiner gesamten Reise ein aushaltbarer Zustand. Einige Stunden brauchte er, bis er endlich den Boden erreicht hatte. Kaum hatte er festes Erdreich unter seinen Füßen, da löste sich das magische Seil in Luft auf. Lange Zeit lag er keuchend
auf dem Rücken. Doch die Sonne wärmte ihn und macht ihm Mut. Es musste schon Spätnachmittag gewesen sein, als er sich aufmachte, die Goldenen Landen zu erforschen. Vögel zwitscherten und auch sonst machte alles auf ihn einen seltsam vertrauten Eindruck. Es war, als kenne er diese Gegend. Die Hügel, die Flüsse, die Seen. Nur etwas verändert. Seltsame harte Straßen durchzogen die Landschaft. Irgendwann traf er auf andere, fremdartig gekleidete Menschen. Mit der Zeit trug er ebenfalls derartige Gewänder. Die Menschen
fuhren Wagen ohne Pferde. Auch er besaß bald einen solchen. Sie beherbergten sich in komfortablen Häusern, wie auch er irgendwann. So lebte er lange mit den Menschen zusammen. Doch er fühlte sich allein. Er glich allen anderen und empfand sich nicht mehr als Helden. Oft dachte er noch an seine Gefährten. Hatten sie je existiert? Er wurde sich mit der Zeit immer unsicherer. Wenn, dann lebten sie allerdings noch. Da war er sich sicher.
Doch er verdrängte die mühseligen Gedanken immer häufiger, bis er nicht mehr darüber nachsann. Überhaupt dachte er nicht mehr viel nach. Viel lieber saß er vor dem Kasten, der ihm unaufhörlich bewegte Bilder darbot und ging ansonsten irgendeiner Arbeit nach. Zurück zu seinem König Tarmin konnte er nicht mehr. Denn von dieser Seite des Berges gab es keinen Aufstieg. Nur magische Artefakte hätten ihn wieder zurückbringen können.
Doch in den Goldenen Landen gab es keine Magie. Auch diese Gedanken verdrängte er mit der Zeit immer besser. Hin und wieder träumte er von seiner großen Reise. Sein größtes Abenteuer. Nach solch einem Traum ging es ihm nicht gut. Es war sein letztes Abenteuer gewesen.
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.