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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Bittere Schatten

© Herbert Schick


Wie jeden Freitag, wenn das Wochenende angefangen hat, geht Andreas auf dem Heimweg von seiner Arbeitsstelle durch den Park der kleinen Heimatstadt, in der er aufgewachsen ist und bis heute lebt. Es ist für ihn mittlerweile zu einer festen Gewohnheit geworden, die Arbeitswoche mit diesem erholsamen Spaziergang zu beenden. Andreas ist gerade im dritten Ausbildungsjahr in der Firma von Hubert Koller, einem älteren Mann, den er aufgrund seiner Lebensleistung sehr bewundert. Wie jeder in der kleinen Stadt weiß auch Andreas, dass Herr Koller, der sein Senior-Chef ist, diese Firma aus eigener Kraft und ohne Hilfe anderer Leute aus dem Nichts aufbaute und nahezu sein ganzes Leben dafür gearbeitet hat, damit diese zu der heutigen Größe angewachsen ist und für über 300 Menschen einen Arbeitsplatz bietet. Herr Koller ist nur noch selten in der Firma anzutreffen, seit er die Leitung seiner Tochter und deren Ehemann übertragen hat, aber die wenigen male, wenn er in der Firma ist und Andreas ihn sieht, denkt dieser sich insgeheim, dass er selbst auch gerne diesen Erfolg haben würde, den Herr Koller hat. Nur wusste Andreas bislang beim besten Willen nicht, wie er selbst sein Leben so erfolgreich führen könnte, welche Talente er besitzt und wie er diese zu seinem Vorteil einsetzen kann. Zu gerne hätte er mal seinen Senior-Chef auf dessen Leben angesprochen und gefragt, wie man zu dieser Ausdauer kommt, um etwas dauerhaftes schaffen zu können. Allerdings war dieser alte Mann für Andreas nicht gerade leicht zu erreichen, denn Herr Koller führt seit vielen Jahren ein eher zurückgezogenes Leben und ist in der Öffentlichkeit nur noch selten zu sehen, wenn es nicht gerade besondere gesellschaftliche Anlässe gibt.
Vor dem Eingang zum Park fährt Andreas mit seinem Fahrrad von der Hauptstraße auf den Fußweg, steigt ab und läuft nun, das Rad neben sich her schiebend, in langsamen und gemächlichen Schritten durch den Park. Andreas ist täglich mit seinem Fahrrad unterwegs, denn das ist für ihn ein Teil seines sportlichen Trainings. Er ist sehr stolz auf seinen Körper und auch ein wenig eitel. Bei einer Größe von 1,86 Metern wiegt Andreas gerade mal 73 kg, was ihm eine sehr athletische Erscheinung vermittelt. Durch die kunstvoll und wohl durchdacht angelegten Blumenarrangements zwischen den wild gewachsenen Sträuchern und dem alten Baumbestand ist diese Gartenanlage ein perfekter Ort für Andreas, um von allen Gedanken abschalten zu können und seine Seele so richtig baumeln zu lassen. Am liebsten setzt er sich, bevor er nach Hause geht, eine Weile auf eine Bank vor dem künstlich angelegten See, der den Mittelpunkt des Parks bildet, und betrachtet verträumt die Enten, die auf der Wasseroberfläche ihre Runden drehen. An jenen frühen Nachmittagen am Freitag ist der Park nur mäßig besucht, und die wenigen Menschen, die sich darin aufhalten, verbreiten kaum Lärm und Unruhe, so dass sich Andreas völlig ungestört seinen Gedanken und Träumen hingeben kann. Wie sonst auch, ist er auch an diesem Tag dabei, in aller Ruhe und Gelassenheit zu jener Bank zu gehen, auf die er sich immer setzt, als er auf dem Weg dahin auf einer anderen Bank, die nicht weit weg von seinem angestammten Platz ist, seinen Senior-Chef entdeckt. Es war heute das erste mal, dass Andreas jenen Mann hier im Park sieht. Trotz der heißen Temperaturen an diesem Sommernachmittag ist Hubert Koller gewohnt akkurat im Straßenanzug gekleidet, und die Krawatte an seinem Hemd fehlt niemals, wenn er sich in der Öffentlichkeit sehen lässt. Selbst für jemanden, der völlig fremd in dieser Stadt ist, ist es sofort erkennbar, dass Herr Koller nicht nur ein einfacher Rentner ist, sondern dass er es in seinem Leben zu Wohlstand und Ansehen gebracht hat. Seine ständig aufrechte Haltung, seine gepflegten Gesichtszüge, die wohl niemals auch nur vom Hauch eines Bartwuchses gestört wurden, und seine weißen, perfekt gekämmten Haare, geben jenem alten Mann, der von vielen Menschen respektiert und hofiert wird, eine aristokratische Ausstrahlung. Andreas war nur wenige Meter von ihm entfernt, als er Herrn Koller bemerkte, und für einen Moment fühlte er sich unsicher und wusste nicht, ob er jetzt zu seinem angestammten Platz gehen soll, an Herrn Koller vorbei, oder ob es besser wäre, einen anderen Weg zu wählen.
Für gewöhnlich nimmt Andreas von den Passanten, die er während seinem regelmäßigen Besuch im Park antrifft, keine Notiz und geht nahezu achtlos an ihnen vorüber. Hier ist es allerdings alles andere als angebracht, jenen Mann nicht zu beachten, in dessen Firma man seine Ausbildung absolviert in der Hoffnung, nach deren Ende in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen zu werden. So beschließt Andreas eben, jene Variante seiner Möglichkeiten zu wählen, die am naheliegendsten und auch logisch ist. Er geht seine Schritte gewohnt weiter und begrüßt Herrn Koller so freundlich, wie es eben diese Situation erfordert. Andreas spürt, was für ihn völlig ungewohnt ist, eine leichte Anspannung in sich. Normalerweise ist er eher unerschrocken und geht auf andere Menschen offen und herzlich zu, und es war für ihn noch nie ein Problem, andere Menschen anzusprechen, selbst dann nicht, wenn sie ihm völlig fremd sein sollten. Andreas war von klein auf ein Menschenfreund, und es war für ihn immer wieder schön, durch diese heitere und ungezwungene Art, die ihm zu eigen ist, seinen Bekanntenkreis zu erweitern. Nun allerdings war es für Andreas ein völlig neuartiges Gefühl, einem Menschen gegenüber zu stehen und eine leichte Hemmung zu spüren.
"Guten Tag, Herr Koller." Nach dieser kurzen Begrüßung hatte Andreas schnell seine innere Ruhe wieder gefunden, und er wollte eigentlich, nachdem er diese Worte an den alten Mann gerichtet hat, ohne eine Pause einzulegen weiterlaufen.
"Guten Tag, junger Mann.", hört Andreas nun sagen. Für gewöhnlich ist Hubert Koller ein Mensch, der Gesprächen eher aus dem Weg zu gehen scheint, und sich auch dementsprechend verhält, wenn er von anderen Leuten gegrüßt wird.
Er erwidert zwar die Freundlichkeit, bleibt dabei allerdings merklich auf Distanz und bemüht sich, nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. In jenem Augenblick jedoch war es ganz und gar gegen die Gewohnheit dieses Mannes, denn Andreas hört in diesen Worten nicht nur einen überaus freundlichen Tonfall, sondern Herr Koller entgegnet diese Worte auch mit einem angenehm wirkenden Lächeln, während er Andreas direkt anblickt. "Du freust dich wohl auch schon auf das Wochenende." "Ja, natürlich.", entgegnet Andreas, etwas verblüfft über diese Frage, und auch etwas irritiert, hat er doch in keiner Weise mir irgendeiner Reaktion seitens des alten Mannes gerechnet. Er würde jetzt normalerweise noch einige mehr oder weniger belanglose Worte sagen, aber in dieser Situation gegenüber diesem Mann fällt Andreas absolut nichts mehr ein, und er spürt wieder eine leichte Unsicherheit. Doch diese etwas seltsame Situation, in der sich Andreas gerade befindet, wird durch Herrn Koller schnell behoben, indem dieser selbst weiter redet. "Das kann ich verstehen, so geht es wohl den meisten jungen Menschen heutzutage. Das Wochenende kann eben nicht schnell genug kommen. Ich nehme an, du wirst dich mit irgendwelchen Freunden treffen und die freie Zeit genießen." "Eigentlich habe ich das schon vor.", antwortet Andreas darauf, während er nun vor Herrn Koller stehen geblieben ist. "Allerdings habe ich bald Abschlussprüfung, und darauf sollte ich noch ein bisschen was lernen." "Das hat natürlich Vorrang, das ist verständlich. - Du machst doch deine Ausbildung in der Firma meiner Tochter, kann das sein? Zumindest meine ich, dich dort schon einmal gesehen zu haben." "Ja, das stimmt." Andreas ist etwas irritiert über Herrn Kollers Worte, als dieser sagte, es sei die Firma seiner Tochter. "Ich mache dort eine Lehre zum Industriekaufmann." "Gefällt es dir dort?", will Herr Koller wissen.
Andreas ist erstaunt über den Gesprächswillen, den sein Senior-Chef zeigt, aber auch ein wenig angenehm überrascht. Und Andreas erkennt nun auch die Möglichkeit, mit Hubert Koller ein wenig ins Gespräch kommen zu können.
"Ja," antwortet Andreas auf die Frage, die ihm gestellt wurde. "Es macht Spaß, in ihrer Firma zu arbeiten, zwar manchmal etwas anstrengend, aber es ist im großen und ganzen ganz nett." Ganz nett... Andreas könnte sich in diesem Moment selbst ohrfeigen für diese selten dumme Formulierung. Doch scheint sein Gesprächspartner diese Worte entweder gar nicht so abwertend zu betrachten, wie es Andreas macht, oder er hat sie ganz einfach nicht besonders zur Kenntnis genommen. Denn immer noch lächelnd und in einem angenehm warmen Tonfall entgegnet der alte Mann darauf: "Es ist immer wichtig, dass man Freude an seiner Arbeit hat, nur so kann man sie auch korrekt ausführen. Und man muss sich natürlich ein Ziel setzen, wofür man arbeitet und welche eigenen Wünsche man sich erfüllen möchte. Ich nehme mal an, bei dir wird der erste Wunsch ein eigenes Auto sein." "Stimmt." Andreas kann sich nun ein eigenes Lächeln nicht mehr verkneifen, wobei dies ein Wunsch von nahezu allen Menschen kurz vor ihrem 18.
Geburtstag ist. "Ein eigenes Auto wäre schon klasse, wenn man endlich mal einfach so eine Spritztour machen kann oder sonst irgendwo hinfährt, ohne dass man andere Leute um Hilfe bitten muss." "Alles zu seiner Zeit, Junge. Solche Wünsche erfüllen sich meist schneller, als man denkt. Und hast du dir sonst schon Gedanken gemacht über deine Zukunft? Was wäre denn dein Lebenstraum? Hast du darüber schon mal nachgedacht?" Andreas ist überrascht. Hat er lange Zeit immer daran gedacht, Hubert Koller danach zu fragen, wie er sich seinen Lebenstraum von Erfolg und Reichtum erfüllt hat, stellt nun ausgerechnet jener alte Mann ihm eben diese Frage, welche Wünsche und Ziele er in seinem Leben hat. "Na ja, also...", Andreas weiß nicht so recht, wie er das, was er eigentlich sagen möchte, in Worte verpacken und am besten ausdrücken soll. "Am liebsten wäre ich so wie sie." "Wie ich?" Die Reaktion des alten Mannes war eine Mischung aus Erstaunen, Irritiertheit und auch angenehmem Stolz. "Wie kommst du denn darauf, ausgerechnet in mir ein Vorbild zu sehen und so sein zu wollen wie ich?" "Sie sind eben ein erfolgreicher Mann. Sie haben es geschafft, eine Firma aufzubauen, die Leute respektieren und mögen sie. Und manchmal träume ich eben davon, ebenfalls einmal so zu sein wie sie. Sie waren eben immer ein erfolgreicher, glücklicher und wohlhabender Mensch, den die Leute mögen." In Herrn Kollers Gesicht zeigt sich bei diesen Worten, die Andreas eben ausgesprochen hat, ein leichtes Lächeln, das Andreas nicht so richtig einordnen kann. Einerseits könnte es ein Lächeln sein, dass durch Freude aufgrund der anerkennenden Worte hervorgerufen wird, aber es könnte auch ein Lächeln sein, das eben jene Worte eher ablehnend betrachtet, regelrecht abwertend, weil diese einfach absolut nicht zutreffen und die Wahrheit eine ganz andere ist.
"Glücklich..." Bei diesem einen Wort, das Herr Koller daraufhin ausspricht, war ein deutlich unterkühlter Ton zu spüren. "Dass ich wohlhabend bin, kann ich sicher nicht leugnen, und ein gewisses Maß an Erfolg habe ich auch in meinem Leben gehabt. Aber glaube nicht, dass es immer so war. Es war ein weiter und mühsamer Weg, bis ich das erreicht habe, was die Menschen heute von mir sehen." "Das kann ich mir irgendwie gar nicht vorstellen." Andreas weiß nicht, wie er nun auf diese Worte reagieren soll. Und so stellt er nun in diesem Augenblick jene Frage, die er schon lange stellen wollte: "Wie haben sie es eigentlich geschafft, diesen Erfolg zu haben und reich zu werden?" "Tja, junger Mann,", Andreas hört diese Worte mit einem leichten Seufzer, und Herr Koller fährt in einem fast erschöpft wirkenden Tonfall fort: "wie schafft man es, reich zu werden...?" Und schlagartig verstummt Herr Koller, als er vor seinem geistigen Auge wieder jene Situation sieht, über die er bis zu diesem Augenblick noch nie mit jemandem gesprochen hat, und die sich fest in seine Erinnerung eingebrannt hat. "Was du brauchst, wenn du Erfolg haben willst, ist ein fester Wille, Fleiß und eine eiserne Disziplin." Und mit einem stechenden Blick in die Augen von dem jungen Mann, der immer noch vor ihm an sein Fahrrad angelehnt steht, sagt Herr Koller mit festen Worten und in einem etwas strengen Tonfall: "Und vor allem darfst du nie vergessen, was es bedeutet, arm zu sein. Das darfst du niemals vergessen!" Andreas ist nun ein wenig erschrocken über diese Worte und auch über die Reaktion des alten Mannes, der eben noch ein warmherziges Lächeln zeigte, und nun regelrecht kühl wirkt. "Ich kann mir ehrlich gesagt überhaupt nicht vorstellen, dass sie mal arm gewesen sein sollen." Ein banaler Satz, der aber bewirkte, dass Andreas nun von dem alten Mann gebeten wird, sich neben ihn zu setzen. Nun spürt er wieder diese Unsicherheit in sich, aber dennoch stellt Andreas sein Fahrrad ab und setzt sich neben Herrn Koller auf die Bank. Herr Koller dreht seinen Körper ein wenig in die Richtung von Andreas, blickt ihn allerdings nicht direkt an, sondern richtet seine Augen eher an dem Jungen vorbei auf den Boden, als er, etwas in Gedanken versunken, zu erzählen beginnt; zu erzählen von einer Zeit, die er niemals in seinem Leben vergessen hat, und er schildert Andreas auch jenen Moment, in dem er sich zum ersten mal geschworen hat, reich zu werden. Der alte Mann erinnert sich noch genau an jenen Tag, als ob alles erst gestern geschehen wäre. Jedes noch so kleine Detail scheint wie in einem geistigen Gemälde für immer in dessen Kopf festgehalten zu sein. Und Andreas beginnt, gespannt und neugierig der Erinnerung jenes Mannes zu lauschen, als Herr Koller zu erzählen beginnt von einem Abend im November 1945. Der Krieg war seit einem halbem Jahr zu Ende, und Hubert Koller, zu dieser Zeit ein Schuljunge von 12 Jahren, lebte mit seiner Mutter in Köln. Die Stadt war damals nicht von allen anderen Städten zu unterscheiden, die im besiegten Deutschland, das nach langen Jahren des sinnlosen Krieges endlich wieder Frieden gefunden hatte, übrig geblieben waren. Wo vor weniger als 5 Jahren noch das pulsierende Leben herrschte, war jetzt eine einzige Ruine, die jeweiligen Häuser, die von unterschiedlicher Bauart das damalige Stadtbild prägten, waren nun zu einer einzigen, endlosen Trümmerlandschaft verschmolzen. Sein Vater wird vom Krieg nicht wieder heim kehren. Das bezeugt ein Schreiben der Wehrmacht, worin Frau Koller mitgeteilt wurde, dass ihr Mann im Dienste des Vaterlandes "für den Führer und das Volk" an der Ostfront gefallen ist, und so lebten der junge Herr Koller und seine Mutter alleine in dieser ausgebombten Stadt. Sie waren in einem Kellerraum untergekommen und wohnten in sehr beengten Verhältnissen. Die einzigen Lebewesen, die diesen Raum mit dem Jungen und seiner Mutter teilten, waren Ratten, die ab und zu herein kamen, über den Kellerboden krabbelten und die letzten Reste an Nahrung, die nicht mehr genießbar waren, mitnahmen. Herr Koller erinnert sich daran, dass seine Mutter es geschafft hat, für sich und ihren Sohn immer genug zu essen zu haben. Jenes Kind, das Herr Koller damals war, wusste genau, wie schwer die Zeit war und in welch großer Not die Menschen lebten. Es war sehr schwer, sich immer mit Lebensmitteln versorgen zu können, und jetzt, wo der Winter anbricht und die Temperaturen nachts bereits den Gefrierpunkt erreichten, war es ebenso notwendig wie nahezu aussichtslos, für ausreichend Heizmaterial zu sorgen. Die einzige Energiequelle in ihrem Kellerraum war ein alter Herd, der mit Brennholz angefeuert wurde und der als Heizung und als Kochstelle gleichermaßen diente. Herr Koller erinnert sich noch genau, dass er an jenem Abend, der sein späteres Leben nachhaltig beeinflussen sollte, seine neue Hose trug, die ihm von seiner Mutter an diesem Tag überreicht wurde. "Danke, Mama.", sagte dieses Kind damals mit einer schuldlosen Freude und einem leuchtenden Lachen im Gesicht, als es seine Mutter für dieses zur damaligen Zeit fast unbezahlbare Geschenk um den Hals fiel und so fest wie es nur ging umarmte. Für Frau Koller war es das oberste Gebot, dafür zu sorgen, dass es ihrem Kind gut ging und es ihm an nichts fehlte. Das hat sie sich geschworen, als sie vom Tod ihres Mannes erfahren hat. Ihren Ehemann hat sie diesem Krieg überlassen müssen, aber ihr Kind wird diesem Krieg nicht zum Opfer fallen, weder körperlich noch seelisch.
Diesen Vorsatz umzusetzen war eine Lebenskunst, doch Frau Koller hat es sich in den Kopf gesetzt und es bislang auch geschafft, dass ihr Sohn zwar nicht in einer gemütlichen Wohnung lebt, so aber doch genug zu essen zum einen, und genug Kleidung zum anderen hat. Wie schon mehrere male vorher kam es auch an diesem Abend vor, dass Frau Koller sich noch zurecht macht, um weg zu gehen. In gewohnter Weise sagt sie ihrem Kind, es solle zuhause bleiben und auf das wenige, was ihnen von ihren Möbeln geblieben ist, achten. Die Zeiten sind schlecht und die Menschen holen sich, was sie gebrauchen können, hört Hubert wie üblich von seiner Mutter, als diese sich mit einem Kuss auf die Wange von ihrem Jungen verabschiedet mit den Worten, wieder Lebensmittel zu holen, welche sie bei ihrer Lieferantin bestellt hatte. Der Junge von damals wollte zwar immer wissen, wer diese Lieferantin, von der seine Mutter sprach, ist, und weshalb sie diese nicht auch tagsüber besuchen könne. Zu gerne würde er mal mitgehen, um seiner Mutter beim Tragen der teilweise schweren Essenspakete zu helfen. Doch diese hat immer abgelehnt mit den für ihn einleuchtenden Worten, jemand müsse auf ihr Heim achten. Doch an jenem Novemberabend tat der Junge das, was er vorher schon mehrmals vor hatte, es aber bis jetzt nie getan hat. Hubert wartete, bis seine Mutter einige Meter gegangen war, um ihr dann unauffällig zu folgen. Es war bereits kurz nach 22.00 Uhr, als der Junge die Türe des Kellerraumes hinter sich zuzog und provisorisch verschlossen hat, als er, mit einer Fliegerjacke, die ihm etwas zu groß war, bekleidet, auf die Straße ging. Die Nacht war unangenehm kühl, und es lag ein feuchter Nebel über den Straßen, die vom Bombenschutt und den Trümmern bereits wieder weitgehend befreit waren. Der Junge folgte in schnellen, aber leichten und leisen Schritten seiner Mutter durch die Stadt, vorbei an ausgebrannten Häusern und kahlen Mauern, die langsam von Unkraut überwuchert wurden und in der Dunkelheit wie eine gespenstische Kulisse wirkten. Nur durch den momentanen Vollmond, der die einzige Lichtquelle bildete, konnte sich der Junge in der Umgebung orientieren und seiner Mutter folgen. Vereinzelt war in den Ruinen ein Licht zu erkennen, meist durch Kerzen oder Petroleumlampen, ein Zeugnis dafür, dass in dieser einer Geisterstadt gleichenden Ansammlung von Gemäuern noch Menschen lebten. Der Junge spürt, wie die kalte Nebelluft langsam durch seine Kleider dringt, und er wäre am liebsten wieder nach Hause gegangen und hätte versucht, wenigstens ein kleines Feuer im Ofen anzuzünden und sich daran zu wärmen.
Außerdem denkt Hubert auch immer wieder an die mahnenden Worte, auf ihr Hab und Gut zu achten, wie es ihm von seiner Mutter aufgetragen wurde. Was wäre, wenn ausgerechnet jetzt in diesem Augenblick jemand in ihren Keller einbricht? Was wäre, wenn jetzt, während er seiner Mutter heimlich nachläuft, jemand das wenige Essen, was sie zuhause in ihrem winzigen Schrank aufbewahrten, stiehlt? Wie soll er das später seiner Mutter erklären? Einen kurzen Augenblick lang denkt er daran, schnellstens wieder nach Hause zu gehen in der Hoffnung, dass keine seiner Befürchtungen wahr geworden ist. Doch seine Neugier war stärker, wollte er doch wissen, wer diese ominöse Lieferantin ist, von der seine Mutter immer sprach und von der er so gut wie nichts wusste. Unbeirrt folgt Hubert seiner Mutter, die scheinbar ziellos durch die Stadt läuft und immer wieder mal vor dem einen oder anderen Haus stehen blieb, ein wenig verweilte, um danach weiter zu gehen. Der Junge merkt langsam die in ihm aufkommende Müdigkeit, gegen die er nun ankämpfen muss. Hubert ist schon fast eine Stunde unterwegs, seine Mutter immer ein paar Meter ihm voraus, weit genug, um nicht von ihr entdeckt zu werden, und nah genug, um sie nicht zu verlieren. Die Straßen der einstmals stolzen Domstadt sind vollkommen verlassen, nur manchmal wird die unheimlich wirkende Stille der Dunkelheit durch drohend laute Schritte einzelner Soldaten der Siegermächte gestört, die auf ihrem jeweiligen Rundgang kontrollieren, dass die nächtliche Ausgangssperre auch eingehalten wird. Erst beim Anblick der bewaffneten Soldaten bemerkt der Junge, dass er sich in einer nicht zu unterschätzenden Gefahr befindet. Wie soll er sich verhalten, wenn er entdeckt wird? Würde es Sinn machen, davon zu laufen und sich in einem der Häuserreste zu verstecken? Wie würden die Soldaten reagieren, wenn sie ihn finden? Er wusste nun, dass er sich selbst und somit auch seine Mutter einer Gefahr ausgeliefert hat. Und trotzdem - er geht nicht nach Hause zurück, sondern folgt unbeirrt seiner Mutter weiter durch die Stadt, die nach all der Zeit, in der sie nun schon unterwegs ist, immer noch kein Ziel zu haben scheint. Langsam zweifelt der Junge daran, dass seine Mutter überhaupt zu irgendjemandem gehen möchte, doch kann er sich absolut nicht denken, was sie denn sonst nachts auf den Straßen machen will.
Nach einigen weiteren Metern des planlosen Dahingehens bleibt seine Mutter stehen, und Hubert sieht, wie sie sich in eine Mauernische verkriecht und darin ausharrt, als ob sie nun auf jemand wartet. Hubert selbst hat sich hinter einem Haufen aufgestapelter Steine versteckt, die am Straßenrand stehen, von den sogenannten Trümmerfrauen in mühevoller Handarbeit gereinigt, um aus ihnen später neue Häuser bauen zu können. Bereits nach wenigen Minuten beginnt Hubert, langsam am ganzen Körper zu zittern, wobei er nicht einschätzen kann, ob das nun von der Kälte herrührt, oder von der Anspannung und auch von der Angst, die er in diesem Moment in sich spürt. Es herrscht eine für Hubert fast unheimlich wirkende Stille über diesem Geschehen, nichts rührt sich, und er sieht seine Mutter immer noch unbewegt in der Mauernische verharrend. Nach einigen Minuten bemerkt Hubert, wie ein paar Meter weiter aus einem Haus, das für damalige Verhältnisse sehr gut erhalten war, eine Gestalt aus der Tür kommt und auf die Straße tritt.
Hubert hat Mühe, zu erkennen, dass es sich dabei um eine Frau handelt, die einen halb gefüllten Sack auf ihrem Rücken trägt. Er vermutet nun, dass es sich dabei um jene Person handelt, die seine Mutter als deren Lieferantin erwähnt hat, und dass seine Mutter mit ihr nun zu sprechen beginnt. Doch nichts davon tritt ein. Die Frau mit dem Sack auf dem Rücken geht die Straße entlang an seiner Mutter, die sie nicht bemerkt, vorbei und direkt auf ihn zu. Hubert drückt sich ganz zwischen den Stapel und einer Hauswand und hofft, nicht entdeckt zu werden. Er sieht, wie die Frau achtlos an ihm vorbei läuft. Durch seine dunkel gehaltene Kleidung und der Tatsache, dass er sich eng an die Mauer kauert, ist Hubert auch nicht zu erkennen. Er blickt der Frau noch einige Sekunden nach, als er sieht, wie plötzlich hinter der Frau eine andere Gestalt auftaucht, sich nahe an den Stapel mit den Mauerresten schleicht, einen Stein davon nimmt, und mit diesem der Frau folgt. Hubert erschrickt, denn in einem kurzen Augenblick hat er im Mondlicht erkennen können, dass gerade seine Mutter einen Stein genommen hat und der Frau leise hinterher schleicht. Der Junge spürt eine noch nie da gewesene Angst in ihm und wünscht sich, jetzt an irgendeinem anderen Ort auf dieser Welt zu sein, völlig egal wo, aber nicht da, wo er sich gerade befindet, um in der nächsten Sekunde Zeuge von etwas zu werden, was ihn noch eine sehr lange Zeit verfolgen wird. Denn kurz bevor die beiden Frauen völlig in der Dunkelheit verschwunden wären und Hubert sie nicht mehr hätte sehen können, bemerkt er, wie seine Mutter mit dem Stein ausholt und der Frau vor ihr einen Schlag auf den Kopf versetzt, so dass diese entsetzt und mit einem Schmerzensschrei auf den Boden sinkt. Hubert hört, wie die Frau auf dem Boden wimmert und sich dann heftig zu wehren beginnt gegen ihre Gegnerin, welche ihr den Sack entreißt und wegrennt. Dieses Geschehen hat weniger als drei Sekunden gedauert, für Hubert war es jedoch eine nicht enden wollende Ewigkeit, als er aus seinem Versteck hervor kommt und apathisch die Situation betrachtet, die sich vor ihm anbietet. Bleibt er zunächst regungslos stehen, unfähig, auch nur einen Muskel an seinem Körper zu bewegen, geht er nun mit mechanisch wirkenden Schritten und leicht traumatisiert auf die Frau zu, die einige Schritte von ihm entfernt auf dem Boden liegt und, während sie ihren blutenden Kopf hält, leise um Hilfe bittet, obwohl sie weiß, dass ihr in diesem Moment niemand, kein einziger Mensch, zur Hilfe kommen würde. Als Hubert nun vor der Frau steht, sieht er trotz der Dunkelheit deren blutüberströmte Hand, welche die Frau auf ihrer Kopfwunde hält und die nun gleichfalls den Jungen bemerkt und zu ihm aufblickt. In diesem Moment, als die Frau beginnt, ihre andere Hand auf den Jungen zu richten und diese ihm hilflos wirkend entgegenstreckt, beginnt Hubert zu rennen. Er rennt unentwegt und ohne Pause nach Hause. Dass er dabei zu hören ist, wie seine Schritte fest und deutlich auf den Boden aufprallen, und durch seine hastigen Bewegungen, die er macht, auch leicht zu sehen ist trotz der fehlenden Beleuchtung, war ihm zwar bewusst, aber es hat ihn in keiner Weise interessiert. Er wollte nur noch nach Hause, so schnell wie möglich, und all das, was er eben gesehen hat, vergessen. Hubert wollte das alles, seine Mutter, wie sie mit einem Stein eine andere Frau niederschlägt, wie sie ihr den Sack mit ihren Habseligkeiten entwendet, die Frau, die blutüberströmt vor ihm auf dem Boden liegt und ihn hilflos mit tränenden Augen anblickt, nur noch vergessen und für immer aus seinen Gedanken verbannen. Doch je mehr Hubert das versuchte, um so stärker frisst sich das eben Erlebte in seiner Erinnerung fest. Völlig außer Atem erreicht der Junge den Kellerverschlag, zieht seine Jacke aus, die er achtlos auf den Boden wirft, und verkriecht sich unter seiner Bettdecke. Seine Mutter war noch nicht zurück, und so würde sie auch nicht bemerken, dass Hubert ihr nachgefolgt ist. Dass nichts von ihren Dingen, auf die Hubert hätte aufpassen sollen, fehlte, war ihm gleichgültig. Hubert lag in seinem Bett und hatte immer wieder die gleichen Bilder vor sich, als er hört, wie die Tür aufgeht und seine Mutter mit eben jenem Sack herein kommt, von dem Hubert wusste, wem dieser noch vor weniger als einer Stunde gehört hat. Er bemerkt, wie seine Mutter erst die Lebensmittel, die sie erbeutet hat, verräumt, und sich dann über ihn beugt und leise die Frage stellt, ob er schon schläft. Hubert schließt seine Augen und stellt sich schlafend, als sich seine Mutter zu ihm runter beugt, um ihm einen sanften Kuss auf seine Wange zu drücken. "Schlaf gut, mein Junge!" Hubert liegt die ganze Nacht wach in seinem Bett und denkt an all die Dinge, die seine Mutter von ihrer Lieferantin nach Hause gebracht hat. Plötzlich ist ihm bewusst, wer diese Lieferantin war, und plötzlich haben all die Dinge, die er jeden Tag von seiner Mutter bekommt, ein Gesicht - das Gesicht jener geschlagenen und auf dem Boden liegenden Frau, die beraubt wurde. Die ständigen und immer wieder kehrenden Verabredungen, die seine Mutter hatte mit einer Lieferantin, die in Wirklichkeit nie existierte, waren Beutezüge. Hubert musste feststellen und sehen, dass seine Mutter stehlen geht, um selbst genug zu essen zu haben. Automatisch muss Hubert an die mahnenden Worte denken, die er von seiner Mutter immer zu hören bekommt, wenn diese weg geht, dass jemand zuhause bleiben und auf ihre Sachen aufpassen muss. Oft hat seine Mutter zu ihm gesagt, dass Stehlen ein Verbrechen sei, dass man das Eigentum des anderen nicht einfach weg nehmen darf. Frau Koller war eine religiöse Frau, und es war ihr immer sehr wichtig, ihren Sohn zu einem ehrlichen Menschen zu erziehen und ihm Werte wie Menschlichkeit, Ehrlichkeit und Nächstenliebe zu vermitteln. In dieser Nacht musste Hubert die bittere Erfahrung machen, dass eben jene Werte in diesen Zeiten eher zu den Fremdwörtern zu zählen sind.
Und Hubert geht in dieser Nacht wie auch in den darauf folgenden Tagen eine andere Frage nicht aus dem Kopf: wie soll er sich nun seiner Mutter gegenüber verhalten? Soll er ihr sagen, dass er ihr gefolgt ist? Dass er gesehen hat, wie sie sich in einer Mauernische versteckt hat? Wie sie eine andere Frau nieder geschlagen hat, um sie zu berauben? Hubert fühlt sich, während er darüber nachdenkt, einsam, hilflos und gelähmt, und es kommt ihm vor, dass alles Leben aus seinem Körper gewichen ist. Das einzige, was ihm noch zeigt, dass er nicht völlig leblos ist, waren die Tränen, die über sein Gesicht fließen. Am anderen Morgen bemerkt Hubert, der immer noch wach in seinem Bett liegt, wie seine Mutter bereits aufgestanden ist und für sich und ihren Sohn ein Frühstück zubereitet. Hubert erfreute sich bis dahin immer an dem Geruch frisch aufgebrühten Kaffees, der zwar die typische Qualität von Nachkriegsware hatte, der aber für Hubert etwas wunderbares war und ihm jeden Tag beim Aufwachen ein Gefühl von vertrauter Gemütlichkeit vermittelte. An diesem Tag jedoch war alles anders. Es war kein Gefühl der Angst, was Hubert in sich spürt, als er aufsteht und auf seine Mutter zugeht. Für einen kurzen Augenblick war diese Frau, die vor ihm steht und ihn liebevoll anlächelt, während sie ihm einen Guten Morgen wünschte, ihn herzlich umarmt und ihm einen Kuss gibt, nicht seine Mutter. Hubert erschrickt, als er merkt, dass diese Frau für den Bruchteil einer Sekunde eine völlig fremde Person zu sein scheint, eine Frau, die er heute zum ersten mal zu sehen glaubt. Doch nimmt er nun seine Mutter gerade deswegen umso stärker in den Arm und möchte sie am liebsten gar nicht mehr loslassen.
Hubert versucht, sich nichts anmerken zu lassen und bemüht sich, so zu sein wie immer, was ihm auch gelingt. Er trinkt die Milch, die seine Mutter ihm warm gemacht hat, und isst das Brot, das leicht mit Butter und Marmelade bestrichen ist. Doch bei jedem Bissen hat er das Gefühl, daran zu ersticken.
Während der ganzen Zeit, in der er mit seiner Mutter am Tisch zusammen sitzt und frühstückt, hat er nur das Gesicht jener Frau von der vergangenen Nacht vor seinen Augen. Kurz nach dem Frühstück, als Hubert seiner Mutter geholfen hat, den Tisch aufzuräumen und das Geschirr sauber zu machen, legt er sich wieder auf sein Bett und tut so, als würde er in einem jener Bücher lesen, die ihm und seiner Mutter von der Zerstörung geblieben sind. Er liegt auf dem Bauch ausgestreckt auf seinem Bett, das aufgeschlagene Buch vor sich auf dem Kissen, sein Kopf auf die Hände gestützt, und denkt über die letzte Nacht nach. Er beschließt, niemals seiner Mutter zu erzählen, was er gesehen hat. Er beschließt, seine Mutter auch weiterhin zu lieben, da er nun weiß, was sie für sich und auch für ihn alles riskiert. Er beschließt, seine Mutter niemals als Diebin zu betrachten, und er würde alles tun, was ihm möglich ist, um ihr zu helfen, diese Zeit der alltäglichen Not und Entbehrungen zu überstehen. Und Hubert beschließt an diesem Vormittag als zwölfjähriger Junge, alles zu versuchen, um seiner Mutter eines Tages das zurück geben zu können, was sie momentan für ihn macht, nämlich dafür zu sorgen, dass sie niemals hungern muss. Hubert hat sich allerdings auch vorgenommen, sich an die Werte der Menschlichkeit zu halten, die seine Mutter ihm immer zu vermitteln versucht hat. Nun wusste er in diesem Augenblick zwar, dass er diesen Schwur nicht gleich am nächsten Tag umsetzen kann, und er wusste auch nicht, wie er das alles erreichen kann, aber er hat sich selbst diesen Schwur gegeben, dafür zu sorgen, dass er und seine Mutter, wenn diese Zeit einmal vorbei und er erwachsen ist, niemals mehr hungern müssen. Niemals mehr.
"Ja, niemals!" Andreas hört diese beiden letzten Worte von Hubert Koller ebenso gespannt wie die gesamte Geschichte, die der alte Mann ihm gerade erzählt hat. Sie haben beide nicht bemerkt, dass die Temperaturen immer weiter gestiegen sind an diesem Sommertag, während sie gemeinsam auf der Parkbank sitzen, und der junge Mensch jener Geschichte lauscht, die dazu beigetragen hat, dass aus einem armen Kriegskind ein erfolgreicher Fabrikant wurde. Tief in seinem Inneren bemerkt Andreas eine Gefühlsmischung aus Schockiertheit und Bewunderung. Alles, was Andreas aus den Zeiten des letzten Krieges wusste, kannte er bis dahin aus dem Geschichtsunterricht und diversen Dokumentationssendungen im Fernsehen. Andreas kannte bis dahin die Bilder der ausgebombten Städte und der darin lebenden Menschen, die versuchten, den Alltag dieser Zeit so gut es ging zu meistern. Doch so nahe wie an diesem Nachmittag war Andreas dem Krieg noch nie. Und er hört nun wieder die Worte von Herrn Koller, der immer noch neben ihm sitzt, den Blick auf die Erde gerichtet und mit einer müden Stimme weiter spricht: "Das ist es, was du nie vergessen darfst. Du darfst nie vergessen, was es bedeutet, Hunger zu haben. Und du darfst nie vergessen, was es bedeutet, in der Schuld eines Menschen zu stehen, der alles getan hat, um dafür zu sorgen, dass es dir gut geht." "Darf ich sie etwas fragen?" "Natürlich, mein Junge. Was möchtest du wissen?" "Sie haben ihrer Mutter nie etwas davon erzählt? Dass sie wussten, was ihre Mutter in jener Nacht getan hat?" Nun hebt Herr Koller seinen Blick und richtet seine Augen direkt zu Andreas, als er antwortet: "Bis heute habe ich zu keinem Menschen auch nur ein Wort von dieser Nacht erzählt. Niemand weiß etwas davon. Weder meine Mutter, noch meine Frau, und auch nicht meine Tochter. Und ich bitte dich, das, was ich dir eben erzählt habe, für dich zu behalten. Was damals geschehen ist, spielt für die Menschen, die heute leben, keine Rolle mehr. Meine Mutter ist längst tot, und für meine Familie konnte ich glücklicherweise sehr gut sorgen." "Sie waren wohl sehr stolz auf ihre Mutter." "Das bin ich heute noch. Und eben deswegen, weil ich auf meine Mutter stolz bin und weil ich mir geschworen habe, alles mögliche zu versuchen, um ihr ein schönes Leben zu ermöglichen, habe ich damit angefangen, an allen möglichen Dingen herum zu basteln, neue Geräte zu entwerfen, die das Leben und manche Arbeiten einfacher und schneller machen. Und so kam es eben, dass ich eines Tages die Idee hatte für ein einfaches Gerät, das es bis dahin nicht gab, obwohl es völlig einfach und simpel war. Dadurch, dass ich schon ein paar Jahre in einer Schlosserei gearbeitet habe, habe ich zum einen ein bisschen Geld gehabt und zum anderen die Möglichkeit, einen Prototypen zu bauen und diesen patentieren zu lassen." "Meinen sie etwa die Verschlussvorrichtung, die heute in der Firma im Foyer steht? In dem Glaskasten?" "Ganz richtig. Genau die meine ich. - Nun, es war ein langer Weg, um das alles zu erreichen. Aber wie ich dir vorhin mal sagte: du brauchst einen eisernen Willen und Disziplin." Andreas wartet darauf, dass Herr Koller auch jene mahnenden Worte erwähnt, niemals den Hunger zu vergessen, aber das sagt Hubert Koller nun nicht.
"Auf dem Weg zu deinem Erfolg darfst du eines nicht vergessen, dass es nämlich andere Menschen gibt, die dir wahrscheinlich zu diesem Erfolg verhelfen, auch wenn diese sich darüber gar nicht bewusst sind. Vergiss diese Menschen nie, und danke ihnen für deren Unterstützung." "Sie haben ihrer Mutter bestimmt jeden Tag dafür gedankt." "So wie sie damals in Köln für mich gesorgt und sich um mich gekümmert hat, so habe ich bis zuletzt für sie gesorgt. Ja, es kam die Zeit, in der wir ein angenehmes Leben hatten. Erst nur wir alleine, und dann zusammen mit meiner eigenen Frau und meinen Kindern. Und jetzt, wo sie nicht mehr da ist, kümmere ich mich eben um andere Menschen." "Echt? Inwiefern?" Andreas wusste nicht, was er sich darunter vorzustellen hat, wenn Herr Koller anderen Menschen hilft. Dieser beginnt nun leicht zu lächeln und antwortet dem Jungen, der neben ihm sitzt: "Irgendwo am Ammersee gibt es ein SOS-Kinderdorf, wo gerade eines der Häuser renoviert wird. Im Rheinland wird ein neues Altenzentrum gebaut. Und vor ein paar Jahren wurde hier in unserem Ort ein Behindertenheim errichtet." Andreas blickt nun den alten Mann neben ihm mit großen Augen und einem noch größeren Erstaunen an: "Das waren sie? Sie haben das Geld für das Heim gespendet? Das wusste ich gar nicht." "Auch davon habe ich nie jemandem was gesagt." Als sich Herr Koller nun erhebt und weiter gehen möchte, sieht er Andreas noch einmal tief in die Augen und sagt: "Es mag sich jetzt vielleicht verrückt anhören, was ich dir sage, mein Junge. Aber ich habe irgendwie das ganz sichere Gefühl, dass auch du irgendwann einmal deinen Traum von Glück, Reichtum und Erfolg erfüllen wirst. Denke aber bitte an eines: Reichtum und Erfolg kannst du beeinflussen und erhalten. Aber das Glück ist ein Geschenk, das nicht für jeden selbstverständlich ist. Es gibt auch heute noch Menschen, die arm sind und kein Glück haben. Und die wird es auch dann geben, wenn du dein Ziel erreicht hast. Denke immer daran. Und dann wirst du auch das wunderschöne Gefühl kennen lernen, wie es ist, wenn man andere Menschen an seinem Glück teil haben lassen kann. Ich wünsche dir alles Gute für dein Leben, und jetzt natürlich erst mal ein schönes Wochenende." Andreas bleibt noch eine Weile auf der Bank sitzen, als er jenem alten Mann nachblickt, der in langsamen Schritten den Park verlässt. Herr Koller geht aufrecht mit der Ausstrahlung eines Königs, und es ist für Andreas nur schwer vorstellbar, dass dieser Mann einmal ein Kind war, das erlebt hat, was es bedeutet, in Armut und Not zu leben.
Es war bereits früher Abend, als Andreas aufsteht, sein Fahrrad nimmt und es neben sich her schiebt. Auf seinem Heimweg genießt er die herrliche Luft des Sommertages, und die Parklandschaft mit dem See im Hintergrund, den majestätischen Bäumen und der prachtvollen Blumenanlagen, dem Gezwitscher von Vögeln in den Sträuchern am Wegesrand, der strahlendblaue Himmel, der von klarem Sonnenschein dominiert wird, all das in seiner Gesamtheit bildet für Andreas eine Oase des Friedens und der Ruhe. An diesem Tag wurde Herr Koller erst recht ein Vorbild für den Jungen, allerdings nicht nur wegen seines Reichtums, wie es vorher noch war. Waren es bis zu diesem Tag lediglich Äußerlichkeiten, die Andreas an seinem Senior-Chef erkennen konnte, die große Villa ebenso wie jene Autos, die Andreas selbst gerne besitzen würde, war es jetzt etwas anderes, was in Andreas solchen Respekt und Achtung hervorruft. Es waren die Hilfsbereitschaft und Unterstützung, die Hubert Koller stillschweigend vornimmt. Die ganze Zeit über rätselt man in der Stadt, von wem die Spende für das Behindertenheim gekommen ist.
Andreas würde es niemals erzählen. Hubert Koller tat diese Spende anonym, und Andreas würde diese Anonymität niemals lüften. Er denkt intensiv an die Worte und die Geschichte, die Herr Koller ihm erzählt hat. Und Andreas denkt auch daran, was Herr Koller zuletzt sagte, wie schön das Gefühl sein muss, wenn man andere Menschen an seinem Glück teilhaben lassen kann. Dieses Gefühl ist Andreas unbekannt. Und in diesem Moment ist es für Andreas auch noch unbekannt, dass diese letzten Worte jenes alten Mannes, den er schon lange bewundert, sein eigenes Leben noch sehr stark beeinflussen wird.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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