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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Kreuzigung
© Sarah Köhler
Das Kreuz. An einer feinen Goldkette hängt es um ihren Hals. Ihr bleiches Spiegelbild erscheint ihr fremd. Obwohl es nur ein Kreuz ist. Ohne leidenden Jesus nur ein schlichtes goldenes Kreuz. Ihre Hand umschließt es, verdeckt es, löscht es aus. Aber wenn sie die Hand sinken lässt ist es noch da.
Ihr Stolz reißt die Kette von ihrem Hals. Aber ihre Angst legt sie ihr wieder um. Die Kette - eine Fessel.
Die Jungen stehen an der Bushaltestelle als sie sich nähert. Sie sehen normal aus. Weshalb sollte sie sich fürchten? Ihre Mitmenschen, Mitbürger. Aber ein Blick trifft sie. Du bist nicht wie wir, du bist fremd, du gehörst nicht zu uns. Stolz, Wut und Trauer ringen um die Herrschaft über ihre Gesichtszüge, als die drei auf sie zukommen. Einer sagt etwas zu ihr, die Worte erreichen ihre Ohren, aber sie versteht nichts. Ihr Stolz herrscht sie an, stehen zu bleiben, keine Schwäche zu zeigen. Die Wut will ihm Beleidigungen
entgegenwerfen, aber die Trauer wünscht sich Ruhe und Einsamkeit um zu weinen.
- Was willst du hier? - Wo ist dein Kopftuch? - Wo sind deine Brüder, du sprichst hier mit fremden Männern, werden sie da nicht böse werden? - ...
Hinterhältig besiegt die Angst mit Hilfe der Panik Stolz und Wut. Sie weicht zurück.
- Hast etwa Angst? Vor uns brauchst du doch nicht wegzulaufen. Wir sind anständige Kerle - ...anständige deutsche Kerle! - Bete doch um Hilfe! Allah wird dir helfen...-
Sie spürt die Wand im Rücken. Die Gesichter vor ihr...wie grauenvolle Masken, wie aus einem Albtraum. Sie wird keine Schwäche zeigen, sie wird stark sein; es sind nur Menschen, Jugendliche, fast noch Kinder! Sechs Fäuste, sechs Stiefel, sechs Eisaugen. Drei Münder voll Grausamkeit, drei Herzen voll Schwäche, drei Schädel voll Leere. Stark...
Eine Gruppe Schüler kommt die Straße entlang. Türkische Jungen, ahnungslos und frei.
- Deine Brüder kommen wohl um dich zu retten. -
Die Ruhe kehrt zu ihr zurück.
Männer! - Verachtung statt Wut. - Anständig. Deutsch. - Feiglinge! Schwächlinge!
Sie glaubt nicht an Gott, betet nie, geht nie in die Kirche. Aber jetzt trägt sie ein Kreuz. Sie selbst hat sich die Nägel durch die Hände geschlagen, sie selbst hat ihre Füße angenagelt. Niemand wird kommen und ihr helfen die Last zu tragen.
Einer ihrer Retter schenkt ihr einen Blick und ein Lächeln. Wir sind uns ähnlich, wir sind anders als die. Sie kann das Lächeln nicht erwidern.
Entschlossen zieht sie die Kette aus. Legt sie in die Schatulle zurück, wo sie seit Jahren geschlummert hat. Befreiung. Sie zieht die Nägel aus dem Holz, ihr Stolz ist ihre Zange.
An der Tür zögert sie. Ihre Hand am Griff, sie zittert, die Venen treten hervor. Sie drückt ihn nach unten, sie lässt ihn los. Die Tür fällt ins Schloss. -
Das Mädchen in der Straßenbahn schnieft. Ihre Nase ist rot, aber sie lächelt, lacht, freut sich an der schneekalten Luft. Ihr Kopf mit dem blonden Pferdeschwanz verschwindet fast in einem roten Schalungetüm.
Als die Bahn bremst, verliert das Mädchen das Gleichgewicht und fällt gegen sie. Lächelnd entschuldigt es sich, nachdem es das Gleichgewicht wiedergefunden hat. Es ist neugierig und möchte ein Gespräch beginnen. Sie zögert. -
Schließlich die Frage, die immer gestellte. Mal freundlich-neugierig, manchmal mit Mitleid in der Stimme, oder mit einer kaum wahrnehmbaren Spur Ablehnung. Diesmal mit aufrichtigem Interesse, aber dennoch, die Frage, die verhasste.
Woher kommst du?
Zum ersten Mal in ihrem Leben zögert sie einen Moment, bevor sie antwortet. Die Kette schnürt ihren Hals zu.
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.