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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Sein letztes Telefonat oder wenn das Glück die Seele erdrückt

© Jürgen K. Brandner


Eigentlich begann der Tag für Andre, wie jeder andere Donnerstag in seinem ruhigen, eintönigen Leben. Müde schälte sich der Dreiunddreißigjährige aus dem Bett. Schwarze Ringe schimmerten unter seinen Augen. Er hatte die Nacht kaum geschlafen. Die Schichtarbeit raubte ihm den Schlaf. Oft lag er stundenlang im wach, den Augenblick ungeduldig erwartend, an dem ihm die Lider einfach zufielen.
Nichts ahnend, dass dieser Tag sein Leben und seine Sichtweise von Glück und Zufriedenheit verändern würde, schlich Andre ins Bad. Er schaute in den Spiegel. Ein blasses Gesicht blickte ihm entgegen. Die Pupillen gerötet, schwarze Bartstoppeln wucherten auf Kinn und Wange. Andre seufzte tief. Seine Hand griff nach der Dose mit Rasierschaum. Da hörte er das Handy klingeln. Eine verzerrte Melodie drang aus dem Lautsprecher.
Gähnend trat auf den Flur der Zweizimmerwohnung, die er bewohnte. Das Handy lag auf der Kommode. Sein Blick fiel auf das Display.
Steffe? Um diese Zeit? Andre schaute auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Kopfschüttelnd griff er nach dem Handy und nahm den Anruf entgegen.
"Morgen, hab ich dich geweckt?" Steffes Stimme klang ungewohnt ruhig und gelassen. Es war keiner von seinen üblichen Anrufen, bei denen er nur schnell Hallo sagte und dann wieder auflegte.
"Nein, ich war schon wach … mehr oder weniger …", sagte Andre. Er gähnte leise.
"Wenn ich dich störe, sag es nur."
"Wieso solltest du stören?" Andre öffnet die Tür zum Wohnraum und trat an die Küchenzeile, um Teewasser aufzusetzen, während er das Handy zwischen Schulter und Ohr einklemmte.
"Ich dachte nur, weil du so genervt klingst." Ein zynischer Unterton schwang in Steffes Stimme mit.
Er hat wohl wieder etwas zuviel geraucht, dachte Andre, sprach es jedoch nicht laut aus. Er stellte den Tee Kessel beiseite. "Liegt wahrscheinlich daran, dass ich Spätschicht hatte und kaum geschlafen hab."
"Schon gut." Im Hintergrund war leises Rauschen zu hören. "Was machst du gerade?"
"Frühstück", antwortete Andre und zwang sich dabei fröhlich zu klingen. Etwas an Steffes Anruf verunsicherte ihn. Er konnte aber nicht sagen was es war. Langsam schlich er in den Wohnbereich des Raumes und ließ sich auf die Couch sinken.
"Kennst du das Sprichwort: Wenn es am schönsten ist, dann soll man aufhören?" Steffe hustete leise.
"Ja, das kenn ich", antwortete Andre. Er tastete nach der Zigarettenpackung, die halb zerknüllt am Couchtisch lag, fingerte einen Glimmstängel hervor und suchte nach dem Feuerzeug, das sich in eine Ritze der Couchpolster gerutscht war. "Aber …", er unterbrach, um sich die Zigarette anzuzünden. Der Rauch schmeckte bitter. Er hatte noch nichts gegessen und für gewöhnlich rauchte er vor dem Frühstück nicht, weil ihm ständig schlecht davon wurde. " … Aber man sollte diesen Sprichwörtern nicht all zu viel Beachtung schenken."
"Vielleicht hast du Recht", flüsterte Steffe abwesend. "Weißt du: Mich hat das Leben mit materiellen Glück gesegnet …"
"Wenn du es sagst." Andre nahm einen tiefen Zug und ließ den Rauch langsam durch die Nasenlöcher qualmen.
"Ich hab meine eigene Wohnung eine heiße Freundin und ich hab Geld", brüllte Steffe ins Telefon.
"Schon gut, du musst nicht schreien." Andre hielt das Handy ein gutes Stück vom Ohr weg, als lautes Husten und Krächzen aus dem Hörer drang. "Geht es dir gut? Rauchst du schon wieder irgendeinen billigen Scheiß?"
"Ich …"Wieder unterbrach lautes Husten Steffes Antwort. " … ich fühle mich fabelhaft. Ja und ich rauche diesen billigen Scheiß, wie du ihn nennst, und ich brülle wann und wo ich will. Hast du mich verstanden?" Dümmliches Kichern, gefolgt von husten.
Andre seufzte. Nachdenklich strich er sich über die Bartstoppel am Kinn und versuchte einen Gedanken zu fassen. "Wo bist du eigentlich?"
"Wo ich bin? … Nun ja, eine gute Frage. Rate mal?"
"Komm, sag schon, ich hab keine Lust zu raten." Dennoch konzentrierte Andre sich einen Augenblick lang auf das Rauschen im Hintergrund. Jetzt sag schon, flehte er innerlich. Er wollte dieses Martyrium endlich hinter sich bringen.
"Wozu hat man eigentlich Freunde, wenn sie dann keine Zeit haben?", knurrte Steffe zornig "Weißt du, dass materielle Werte die Seele nicht befriedigen. Geld macht ebenso wenig glücklich wie mein Wagen oder etwa diese elendige Schlampe mit der ich zusammen bin."
"Geht es dir darum? Hattet ihr Streit?"
"Kein Streit, nein. Wieso auch? Sie hat doch alles was sie will."
Das Gespräch schweifte in eine Richtung ab, die Andre nicht gut hieß. Am liebsten hätte aufgelegt. Doch sein Gefühl sagte ihm, ruhig zu bleiben und zuzuhören was Steffe ihm zu sagen hatte. Er kannte Steffe und er kannte seine gelegentlichen Gefühlsausbrüche, wenn der Grasqualm ihm zu Kopfe stieg. Aber sie führten solche Diskussionen niemals um diese Zeit und schon gar nicht am Handy.
"Ich liebe sie nicht, ebenso wenig wie sie mich liebt. Ich hasse mein Geld, ich hasse meine Wohnung, meinen Wagen und … und … na einfach alles", schrie Steffe.
"Wer hasst sein Leben nicht", seufzte Andre.
"Mach dich nicht lustig über meine Probleme. Ständig machen sich alle über mich lustig, ich hasse das."
Du hasst heute aber sehr viel, mein Freund, dachte Andre. Wieder war er es, der nach Worten suchte. Worte mit denen er Steffe beruhigen konnte.
"Wie lange kennen wir uns schon? Acht, … neun Jahre?"
"Neun Jahre", sagte Andre. Er fragte sich, worauf sein Freund nun wieder hinaus wollte.
"Und hast du diese Zeit genossen? Kannst du dich noch an die Nächte erinnern, die wir gemeinsam durchzecht haben; ohne an die Zukunft zu denken, ohne uns von Stress und Erfolgszwang beirren zu lassen."
"Ja, es war eine schöne Zeit. Aber leider werden wir älter."
"Älter? Ich weiß nicht, ob noch ich Lust dazu habe."
"Was meinst du damit?", fragte Andre verwirrt. Er drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und fingerte eine neue aus der Packung.
"Ich sagte doch vorhin: Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören", meinte Steffe gelassen. Zynismus schwang wieder im Ton seiner Stimme mit. "Hörst du mir eigentlich zu?"
"Steffe, … wo bist du? Verdammt noch mal, sag mir endlich wo du bist?" Dieses Mal war es Andre, der die Stimme erhob.
"Hm", machte Steffe. Lautes Hupen tönte im Hintergrund.
Andre legte die Zigarette, ohne sie anzuzünden, beiseite. Seine Konzentration floss auf diesen einen Anruf zusammen. Es schien, als arbeiteten seine Sinne plötzlich mit hundertfacher Schärfe. Etwas stimmte nicht, etwas stimmte ganz und gar nicht, und er musste herausfinden was es war. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit. Die kurze Gesprächspause kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor. "Steffe? Bist du noch da", sagte er schließlich.
"Ja."
"Du hast meine Frage noch nicht beantwortet?"
"Und du hast noch nicht richtig geraten."
"Lass den Scheiß und sag mir endlich was mit dir los ist!"
"Also gut, du warst ja noch nie der Hellste", lachte Steffe. "Wahrscheinlich hättest du nicht mal die Schule ohne mich geschafft."
"Wahrscheinlich. Und wo bist du?"
"Du kennst doch diesen Berg, der unsere schöne Stadt trennt und du kennst auch diese Steilwand."
" … kenn ich … Worauf willst du hinaus?"
"Ich steh hier und blicke gerade nach unten. Wie weit ist es? Vielleicht zwanzig, dreißig Meter. Unter mir ist der Tunnel, der durch den Berg führt und die beiden Stadthälften miteinander verbindet."
Andre sprang mit einem Ruck auf. Plötzlich hatte er ein Bild vor Augen. Zu gut kannte er diese Steilwand. "Bleib wo du bist. Ich komm zu dir", keuchte er.
"Nein, dass wirst du nicht. Das brauchst du nicht. Ich sehe Menschen unter mir, dutzende Menschen. Sie blicken zu mir hoch, ich winke ihnen. He Andre, ich bin ein Star." Wieder war es Husten das Steffe unterbrach.
Andre zitterte am ganzen Leib. Seine Gedanken überschlugen sich. Wenn er auflegte, war alles vorbei. Aber er musste etwas unternehmen. Er musste die Polizei verständigen. Doch wie? Er hatte keinen Festnetzanschluss, kein zweites Handy. Vielleicht hatten die Schaulustigen bereits die Polizei gerufen. Egal, er musste dort hin und zwar auf der Stelle.
"Ist schon ein angenehmes Gefühl, bewundert zu werden."
"Was hast du vor?", fragte Andre, obwohl er diese Frage als überflüssig empfand. Es gab nur eines, was Menschen vorhatten, die dort oben auf der Geländerbrüstung dieser Steilwand standen. Es war auch nicht schwer, dort rauf zukommen. Ein Wanderweg führte dort oben durch den Wald und wurde an dieser Stelle von jenem steinernen Geländer geschützt.
"Du weißt sehr wohl was ich vorhabe. Du bist mein Freund, du müsstest mich kennen."
Andre suchte nach Worten, während er in seine Kleider schlüpfte und die Schuhe anzog. Ungewaschen und unrasiert verließ er die Wohnung. Frau Berger, seine Nachbarin, kam ihm auf dem Weg durch das Treppenhaus nach unten entgegen. Sie musterte ihn mit einem verächtlichen Blick. Die alte Frau mochte ihn nicht. Hielt ihn für einen Drogendealer und hatte ihm auch schon einmal die Polizei deswegen geschickt.
"Wissen sie, dass Ihr lieber Freund, wie heißt er doch gleich, Steffe, oben an der Brüstung unserer Todeswand steht? Ich hab es gerade im Supermarkt gehört. Nichtsnutz … ", keifte die Alte.
Andre antwortete nicht, sondern eilte stumm weiter. "Bist du noch dran, Steffe?", fragte er als er das Parterre erreichte und nach draußen auf den Hof trat.
"Hast du mir die Polizei geschickt?"
"Nein, wie sollte ich denn, wenn ich mit dir telefoniere? Aber scheinbar spricht schon die ganze Stadt von dir."
"Würdest du meinen Eltern ausrichten, wie sehr ich sie hasse, dass sie mein ganzen Leben mit ihren Regeln, ihren Wunsch, aus mir etwas Großes zu machen, versaut haben."
"Warum kommst du nicht da runter und sagst es ihnen selbst?", fragte Andre.
"Weil ich nicht den Mut dazu habe, verdammt. Ich bin abhängig von ihnen. Du weißt das. Sie haben mich von ihrem Geld abhängig gemacht."
Du Idiot, dachte Andre, während er zu seinem Fahrrad eilte. Du naiver Idiot.
"Ich hab nicht mehr die Kraft, so zu leben."
"Aber dann leb doch dein eigenes Leben. Es bringt nichts, dort runter zu springen. Du sagtest doch, wenn es am schönsten ist, soll man Schluss machen. Aber ist es das für dich?" Andre sprang auf das Fahrrad, klemmte das Handy wieder zwischen Schulter und Ohr; und fuhr los.
Steffe antwortete nicht. Unter das Rauschen im Hintergrund mischten sich aufgeregte Stimmen.
Andre raste durch die Vorstadtsiedlung. Die Pedale des alten Fahrrads knirschten laut. Lange waren sie nicht mehr mit solcher Wut und Kraft getreten worden.
"Steffe?", keuchte Andre immer wieder. In weniger als fünf Minuten hatte er den Berg und den steil ansteigenden Weg erreicht. Er schaltete mehrere Gänge zurück, wollte aufstehen um noch kräftiger zu treten, als plötzlich ein lautes Krachen ertönte. Das rechte Pedal brach weg. Andres Fuß trat ins Leere. Seine Turnschuhe streiften den Boden. Ohne Handy an der Schulter, hätte er wahrscheinlich den Sturz noch abgefangen. Das Vorderrad rutschte weg. Er stürzte über den Lenker. Das Telefon flog ihm weiten Bogen davon und zerschellte am Asphalt. Einen Lidschlag später schlug Andre hart am Boden auf. Alles um ihn herum verschwamm für einen Augenblick. Er hörte das Blut in den Ohren rauschen. Fluchend richtete er sich auf, taumelte ein zwei Schritte weit. Wankend blickte er zuerst auf sein Fahrrad, dann zu seinem Handy. Verzweifelt hob er das Telefon auf. Das Display war zersplittert, die Akku zerbrochen. Andre blickte nach oben. Es waren mehr als zehn Minuten, bis er zu Fuß die Stelle erreichen würde. Hinzu kamen nun auch noch die Schmerzen, die in ihm tobten. Zumindest Schwindelgefühl begann sich zu legen. Er lief los. Bei jedem Schritt explodierte ein grausamer Schmerz in seinem rechten Fuß. Aber er biss die Zähne zusammen, dachte dabei an Steffe. Wahrscheinlich war Andre der einzige auf dieser Welt, der ihn noch zurückhalten konnte.
Andre lief noch schneller. Seine Beine fühlten sich bald taub an, sein Magen krampfte und hinter seinen Schläfen raste ein fürchterlicher Kopfschmerz.
Der Weg führte durch dichten Laubwald und trassenförmig den Berg hinauf. Schließlich entdeckte Andre vor sich mehrere Polizisten, die das Gebiet mit gelben Plastikbändern absperrten.
"Tut mir Leid, der Weg ist gesperrt", rief ihm ein Polizist zu.
"Ich muss …", keuchte Andre. " … da rauf … mein Freund. Er steht dort oben und hat mich angerufen." Vor der Absperrung hielt Andre an. Er blickte fragend in das Gesicht des Beamten. Eine traurige Miene war darin fest gefroren.
"Es tut mir Leid´", sagte der Mann.
"Was meinen Sie damit?" Andre begann zu zittern. Sein ganzer Körper zitterte plötzlich und sein Verstand weigerte sich, die Wahrheit zu glauben.
"Sie kommen zu spät."
"Nein, ich … wir … haben eben noch telefoniert, das ist nicht möglich." Tränen füllten seine Augen, verschleierten den Blick. "Darf ich wenigstens durch?", flehte er. Alles kam ihm unwirklich vor. Wie ein böser Scherz.
Der Polizist atmete laut aus. "Eigentlich nicht. Aber kommen Sie. Ich begleite Sie."
Gemeinsam gingen sie das letzte Stück, bis sie an die Brüstung kamen. Zwei weitere Beamte standen dort und vermaßen die Stelle.
Sein Blick fiel auf das nagelneue Handy, das zerbrochen am Boden lag. Dann trat er nach vorne an die Brüstung. Er blickte in die Tiefe und es war dieses Bild, das sich auf ewig in seine Erinnerung einprägen sollte. Andre hatte Steffe immer für sein leichtes Leben beneidet, hatte immer geglaubt, dass man mit genügend Geld keine Probleme haben konnte. Doch offensichtlich hatte Andre in den Stunden, in denen Steffe sich bei ihm ausgeweint hatte, nie richtig zugehört, ihn nie verstanden. Wie sollte er auch? Er selbst hatte sich alles in seinem Leben erarbeitet. Wie konnte er verstehen, dass jemand, der alles vor die Nase gesetzt bekam, auch noch Probleme haben konnte. Aber das Sprichwort, das Geld allein nicht glücklich machte, schien doch etwas Wahres an sich zu haben. Erst jetzt begann Andre vieles ihm Leben seines Freundes zu verstehen. Steffe hatte nie gelernt zu kämpfen. Sein einziger wirklicher Konflikt, war der mit seinen Eltern, die für ihre Geschenke als einzigen Lohn, die Seele ihres Sohnes forderten, die Kontrolle über sein Leben, um es hart auszudrücken. Andre war oft dabei gewesen, wenn Steffes Vater deswegen einen sinnlosen Streit vom Zaun gebrochen hatte. Steffe hatte zwar alle materiellen Geschenke in seinem Leben bekommen, aber das Wichtigste wurde ihm verwehrt, nämlich die Liebe, Nähe und Geborgenheit.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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