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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Silberdisteln am Simmelsberg

© Hildegard Wessels


Durch die Fenster des Esssaales blickte man über die kleine Stadt auf einen baumlosen Grashügel mit einem Windschutz auf der Spitze. Für die fußkranken Kurenden war auch dieser Hügel noch beschwerlich. Mir würde er etwas bedeuten, ich erklärte ihn zu meinem kleinen Mont Ventoux. Ich wusste, er würde das einlösen. Das ist nur der Köppel, sagte Frau Hubrich. Solche Hügel gibt es hier überall. Auf dem Köppel haben wir uns früher verlobt, sagte Frau Schritter, und zur Zeit der Maikäfer haben wir auf dem Köppel nach ihnen geschnappt. Dass dieser Grashügel nicht der Simmelsberg war, für den ich ihn hielt, schmälerte dessen Versprechen für mich nicht. Hat man den Hügel bis auf die letzte Kuppe geschafft, liegt das Kurhaus auf einer Anhöhe gegenüber, in direkter Fluchtlinie eines asphaltierten Weges Richtung Nachbardorf.
An diesem Sonnabend im frostigen Vorfrühling hatte ich erst einen Gülleberg zu bestehen, bevor ich zu dem Grashügel ansetzen konnte. Der unvermutet reich bewachsene Rücken zeigte Birken, Ebereschen und Dornensträucher. Der Rundblick endlich auf der Spitze bot weites Rhönpanorama. Neben der Hütte auf einem Vorsprung hatte sich vulkanischer Basalt gehalten.
Als ich auf dem asphaltierten Weg noch in das Nachbardorf einbog, wusste ich, woher die Gülle kam. Der ganze Ort stank danach, und was vom Hügel aus den Eindruck von drei Häuschen erweckte, war eine kleine Gemeinde mit Hinweisschildern zur Schwedenschanze und zum Hochwildschutzpark. Das Dorf erschien verschandelt, die letzten abrissreifen Häuser würden vermutlich ebenfalls weißgetünchten Eigenheimen mit grauen Dächern weichen.
Meinen letzten Grund für dieses Dorf sah ich in zwei Bauernkaten. Sie standen parallel zueinander, die Fensteraugen zugepappt oder zerbrochen, wenige Zentimeter an die verbreiterte Straße herangerückt, neben aufgetürmten Gummireifen und Wellblech. Das ganze Anwesen schien todgeweiht. Wie es darin aussah, glaubte ich aus meiner Kindheit zu wissen. Viel Licht kam nicht hinein, nur einzelne Sonnenstrahlen brachen sich auf dem alten Holzfußboden.
Im Sommer möchte ich einmal kommen, sagte ich Frau Schritter.
Ich bekam Donnergrollen in den Ohren. Eine Mischung aus Brummkreisel, Kühlschrank, Zahnarztbohrer und startendem Flugzeug. Fahren Sie diesmal länger, riet mir der Ohrenarzt.
Und Sie, fragte mich eine Realschullehrerin, mit der ich in Richtung Köppel spazierte. Ich hatte sie vor dem Arztzimmer kennen gelernt, wie kamen aus der gleichen Stadt. Nur ein Intermezzo sagte ich, während wir gegen den Wind kämpften. Es war oktoberartig. Sinnlos, den Grashügel zu besteigen. Bauchschmerzen, sagte ich, immer leicht verschnupft. Und von etwas anderem nicht erholt. Tückische Viren, vor vielen Jahren, der Name der Krankheit sei fast niemand geläufig. Viren mutieren so leicht, sagte die Realschullehrerin. Viren hatten bei ihr anderes angerichtet.
Oft kam ich mit vor wie eine Kerze mit zu schwachen Docht. Der Realschullehrein sagte ich nicht, dass ich hier vor allem Anderes suchte. Was viele hier vermutlich suchten. Ich fühlte mich zuhause unsichtbar, war dort auf unerwünschte Weise sichtbar geworden. Heute leitete ich meine Daseinsberechtigung manchmal von der Freundlichkeit einer Supermarktkassiererin ab.
Ich wäre auch gern einmal in den Pyrenäen, in Schottland oder Norwegen, sagte ich zu der Realschullehrerin. Sie sagte, da war ich schon überall. Mit der Realschullehrerin traf ich mich auch wegen dem Abend zuvor. Ich hatte beim Frühstück erfahren, dass ich am Abend zuvor etwas versäumt hatte. Der leitende Doktor hatte die Gäste des Hauses zu einem Vortrag gebeten, im großen Terrassenzimmer, dem Doktor ging es vor allem um die gemeinsame Diskussion.
Mein Zimmertelefon war defekt, ich fror falsch angezogen auf der Suche nach einem Münztelefon, am zweiten Abend. Hatte vermutet, der Doktor würde über erweiterte Bauchräume, geschwollene Zungen oder neue Störfelderkenntnisse sprechen. Hatte am nächsten Morgen beim Frühstück die Diskussion über den Abend erfahren. Der Doktor hatte die Runde gefragt, wie das Böse in die Welt gekommen sei. Er schien an diesem Abend etwas entscheiden zu wollen, was den Philosophen der Welt bisher nicht geglückt war, und ich war nicht dabei gewesen.
Keiner konnte mir wirklich sagen, worum es genau gegangen war. Man reimte sich manches zusammen, mutmaßte über ein Buch, aus dem der Doktor zitiert hatte. Mutmaßte eine bekannte Autorin, deren Namen keiner wusste und keiner nachgefragt hatte. Ich besann mich auf eine meiner leichtesten Übungen aus beruflichen Zeiten. In denen ich in Klassenzimmern zwischen Tischen hin und herwanderte. Landete am Tisch von Conny und Frau Baumann, die ich sowieso kennen lernen wollte. Erfuhr weitere Mutmaßungen, dieses Buch schien dem Doktor ein Schlüssel zur Deutung von Krieg, Zerstörung und Barbarei in der Welt.
Der Doktor selbst habe von einer Übermacht des Yin gesprochen, sagte die schmächtige, eher zurückhaltende Frau Baumann. Sie führte klarer als Conny den Mangel an materieller Entbehrung bei der jungen Generation ins Feld. Neben ethisch-kulturellen Mängeln in der Erziehung. Conny, die Jüngste hier, sagte, der Doktor sei in Sorge, die neue Weltmacht fördere das zutage, wogegen sie anzutreten meine. Bei diesem Psychopathen an der Spitze, sagte Conny und gab dem Doktor prinzipiell recht.
Die Realschullehrerin hatte sich in die Diskussion wenig eingemischt. Es frischte weiter auf, vom Wind durchgepeitscht, hielten wir unsere Worte knapp. Die Realschullehrerin fand, das Ganze habe wenig Grund und Boden besessen, sie hatte auf Drogen, Messer und Gewaltvideos in Schultaschen verwiesen, auf die verlotterte Sprache junger Erwachsener. Ich sagte, ich läse soeben Sartre, über das Böse könne man auch bei Sartre etwas erfahren. Entschuldigte mich, weil ich hiermit sicher nicht auf dem neuesten philosophischen Stand sei.
Die Grundschullehrerin nannte ein esoterisch klingendes Buch, von dem sie begeistert schien. Wir kämpften mit unseren Schirmen gegen den Wind und wurden trotzdem nass. Ich rief mir mühsam ins Gedächtnis, was ich morgens bei Sartre über den Dichter der Blumen des Bösen gelesen hatte. Jeder Mensch werde zu jeder Stunde von zwei Forderungen bewegt, die eine führe ihn zu Gott, die andere zu Satan hin. Diese beiden Forderungen seien wie zwei entgegengesetzte selbstständige Kräfte, die gleichzeitig am selben Punkt ansetzen. Von denen die eine die Funktion der anderen sei.
Als ich den Grashügel ein zweites Mal bestieg, atmete ich den Duft der Sommergräser ein, der Köppel war dicht bewachsen mit Rot- und Weißklee, Glockenblumen, Trümmernelken und Johanniskraut, das Dorf dahinter lag sauber und aufgeräumt wie mein Kindheitsdorf am Samstagnachmittag. Die Abendsonne übertünchte einen unwirklichen Traum. Die beiden uralten Schuppen mit Biberschwanzwänden und vernagelten Fenstern standen immer noch an der Straße, auf dem Grundstück dazwischen waren Ziegelsteine aufgeschichtet. Ich überquerte den Dorfplatz hinter einem Feuerwehrgerätehaus und passierte ein Gehöft mit Kettenhund. Eine halbe Stunde durch den Wald, sagte ein kleiner Junge. Ein roter alter Citroen, in einen Bretterverschlag gesperrt, stand für einen ganzen Fuhrpark klappriger Autos, hinter einem herausgeputzten Ferienhaus.
Für einen Abendspaziergang war es zu knapp, ich beschloss, nicht zu spät in den Kurort zurückzukehren. Als ich den Waldrand hinunterging, marschierten mir acht Jungs in Vierergruppen entgegen, direkt auf den Grashügel zu, nachdem mir auf dem Hinweg keiner begegnet war. Ob die irgendwas mit den Sprühern zu tun hatten? Eine Waldrandhütte zierten farbige Symbole Full Metal Jacked, Fuck Tod, Fuck dog, Peace out. Ein verschämter weißer Zettel dazwischen gab Auskunft über den Orientierungslauf Nr.1. Jetzt kamen noch einmal sechs Jungen im Sportdress, einer mit einem Mountainbike. Sie sahen mich erstaunt an. Ich dachte, gottseidank, Gymnasiasten. Der eine regte sich über den Fredy auf, mokierte sich über den Windschutz oder Schießschutz auf der Spitze. Der andere grüßte und sagte, ey, was sehe ich hier, und grinste verlegen.
Ich war längst in Richtung Ortseingang, auf einem asphaltierten Wirtschaftsweg, wenige Meter neben der Bundesstraße, die den Ort durchschneidet. Ich sah die Jungs mit dem Mountainbike den Grashügel hinunterrollen, zwei hatten sich auf den Gepäckträger gesetzt. Ich drehte mich noch einmal zu den Milchkühen um, die mir auf dem Hinweg schon aufgefallen waren. Ihre geschwollenen Euter baumelten ihnen wie schwere Säcke zwischen den Beinen. Ich hatte mich schon auf dem Hinweg gefragt, wieso befreit die keiner? Da hatte ich auch schon diese Kuh mit dem Geschwür unter dem Schwanz gesehen, ein unförmiger fleischroter Fladen, eine leuchtendrote Ausstülpung, eine Riesenzunge, wie ein blutender Lavaschwamm aus dem After geronnen, hing unter dem fast zarten Schwanz. Ein nach außen gestülptes Krebsgeschwür, dachte ich. Glutrot glänzte der Fleischklumpen in der Abendsonne. Erschöpft legte sich das Tier auf die Wiese. Ich musste mir den Hals ungeschickt verrenkt haben, plötzlich lag ich auf dem asphaltierten Weg. Auf losem Schotter war ich ausgerutscht, mit meinem linken Knie auf den Asphalt geknallt. Meine dünne Sommerhose war an der Stelle aufgerissen, das Knie ebenfalls, meine Sonnenbrille in meiner Rechten hatte den Aufprall heil überstanden. Eine Prellung mindestens, spürte ich im ersten Schreck, als ich in das Dorf humpelte. Dabei hatte ich mich in den letzten Monaten gerade um meine Knie gesorgt.
Mir begegnete keiner, als ich auf mein Zimmer schlich. Auch nicht im Fahrstuhl, auf den ich jetzt angewiesen war. In der Küche gab man mir einen eiswassergefüllten Plastikbeutel, groß wie ein Kinderkissen. Nachts watete ich in knietiefem Schlamm, verpasste meinen Zug nach Hause und in einem Souvenirladen im Bahnhof sah ich eine Frau, die ihre Augen über der Stirn hatte. Man flüsterte um sie herum. Ich dachte, was für ein Leben, sie begibt sich unter Menschen, und schon fangen sie an zu flüstern, über ihre missglückte Operation. Ich wachte häufig auf vom pochenden Schmerz, auch das Schienbein schien angeschlagen. Ich dachte, was passiert anderen? Sie brechen sich das Genick, beginnen den Urlaub mit einem Schleudertrauma, meine Schwester hatte sich bei einem Sturz im letzten Jahr gleich den Arm gebrochen. Ich erfuhr erst am Morgen von einer Nachtschwester. Das Knie war angeschwollen und blau, auch ein Teil des Schienbeins von blauen Flecken übersäht. Meine Tischnachbarinnen bemerkten besorgt mein Humpeln, ich soll sofort den Doktor... Ich beruhigte die beiden, heute Nachmittag bekäme ich sowieso Spritzen in den Bauch.
Ein Rutengänger, in Designeranzug und modischer Krawatte, drückte die Türklinke zum voll besetzten Terrassenzimmer hinunter. Im Terrassenzimmer fanden sich montags oder freitags besondere Gäste ein. Der Doktor hatte den Rutengänger bereits angekündigt. Im Stau aufgehalten, platzte der Ersehnte in das gemeinsame "Wer recht in Freuden wandern will". Der Doktor empfahl gemeinsames Singen gegen schlecht fließende Lymphe.
Nanu, bin ich hier in einen Volksmusikabend eingedrungen, begrüßte der Rutengänger strahlend die Anwesenden. Der junge Hochgewachsene mit tadellosen Zähnen nannte Namen und beruflichen Werdegang, erklärte gestörte Plätze in Straßen, Parks, Kuhställen und Wohnungen. Sein Mund, bis zu den Ohren seiner fein gemeißelten Wangen reichend, öffnete mühelos sein Reklamegebiss. Seine schmale Adlernase ragte in das Abendrot über Schlosspark, Dorfkirche, Köppel und Simmelsberg.
Sie sind viel zu gut angezogen für dieses Haus, begrüßte ihn jetzt offiziell der Doktor. Aber die jungen Männer müssen doch heute nicht in Lumpen gehen, ereiferte sich eine ältere Dame. Die hiermit offenbarte, dass ihr Hosenanzug aus fließendem grauen Tuch nicht von der Stange war.
Einen Einblick in seine Arbeit wollte der Rutengänger geben. Die fünfzigmalige Richtungsänderung des Wechselstroms pro Sekunde habe nichts mehr mit dem menschlichen Magnetismus gemein. Sie reize die Nervenzellen, beeinflusse den Kalzium-Ionen-Austausch in jeder Zelle und den Sinus-Punkt, der den Herzschlag regelt. Achtzehn Körperfunktionen würden durch elektromagnetische Felder beeinflusst, der Körper unnatürlich erwärmt. Die Grenzwerte der Versorgungsunternehmen für niederfrequente elektromagnetische Felder lägen mehrfach über Baubiologischen Empfehlungen. Ein einziges Watt reiche aus, um per Funk über den gesamten Atlantik zu kommen. Er legte es darauf an, die Runde zu betören. Tiefe schwarze Seen, ich beobachtete, wie die Runde darin eintauchte. Bemüht, mich nicht weich klopfen zu lassen, sah ich das Immergleiche, der männliche Hypnotiseur und seine vorwiegend weibliche Gemeinde. Ich sah lieber in die Weite. Es hätte mich vielleicht ebenso dahinraffen können. Wäre ich außerdem noch so jung, wie mich gestern meine Tischnachbarin geschätzt hatte. Und hätte ich keine profunderen Sorgen.
Ein Mobiltelefon müsse heute mit größtmöglicher Feldstärke den Sender erreichen, die Versorgungsunternehmen rechnen mit täglichem Überverbrauch. Mobilfunkkästen seien so getarnt, dass man sie im Straßenbild kaum erkennen könne. Glanzfolien reichte der Rutengänger herum, Bilder von Kühen mit krummen Beinen und glotzenden Augen. Skizzen zum Verlauf der Störlinien, die Ehepaaren quer durchs Doppelbett Migräne, Bandscheibenvorfälle und kaputte Blasen bescherten, zum Schaden ihres Liebesleben also.
Mir wurde übel, ich fürchtete, das Rote Beete-Abendessen, gedämpft und glasig-glibbrig, würde wieder aus meinem Magen wandern. Ich dachte an die Nervenbotenstoffe, während rechtseitig mein vertrautes Kopfschmerzprogramm aufstieg. Den eisigen Wasserbeutel auf dem linken Knie, bedeckte ich dieses mit einem Buch des Doktors. Sah wieder in die Weite, es war noch hell. Ich hatte den Doktor gleich nach seinem Buch gefragt. Noch bevor ich mein verletztes Knie erwähnte, den versäumten Abend bedauert. Er versprach mit überraschtem Blick, mir das Buch am Rutengängerabend mitzubringen. Hielt sich zuverlässig daran, händigte mir sogar Schreiber und Blatt für Notizen aus. Das Blatt Papier auf meinen Notizkalender gelegt, machte ich mir Aufzeichnungen, über den Einfluss des Luziferischen auf das Leben der Menschen. Notierte parallel dazu unverzichtbare Sätze des Rutengängers. Dass ich ihn mit seinen schick hochgeklappten Anzugrevers ziemlich affig fand, half mir, die von seinen Wahrheiten ausgehende Bedrohung abzuwehren.
Magnetfeldkissen nützten nichts, Messungen von ungeübten Rutengängern seien zu neunzig Prozent falsch. Netzfreischalter brächten auch meist keine Lösung. Der Strom sei in der Wand, er demonstrierte es mit seinem Funkgerät, das nervös aufflackerte. Erst in der Mitte des großen Terrassenzimmers gelang ihm zu beweisen, dass dieses Haus vorbildlich wenig gestört ist. Messen sei aber der einzige Weg, überhaupt zu Lösungen zu kommen. Die gebe es in Ansätzen, man solle nicht zu früh verzweifeln. In wie viel Fällen er wohl den sofortigen Wohnungswechsel empfiehlt, flüsterte ich aufseufzend Conny zu. Äußerst selten, eilte der Rutengänger meiner Frage entgegen und lächelte zu mir herüber. Conny beschwor, ihr Bett nicht einen Zentimeter verrücken zu können, das Zimmer sei viel zu schmal.
Ich konzentrierte mich parallel auf das Luziferische. Vor unvorstellbar langer Zeit lebten Menschen feinstofflich in einer feinstofflichen Welt, las ich. Männliche und weibliche Pole waren sich ergänzende Bewusstseinsenergien. Christus höchster Ansprechpartner und König der Geisterwelt, Luzifer jedoch gleich machtvoll. Ganze Völker wiegelten Luzia und Luzifer in gemeinsamer Eifersucht zum Chaos auf. Mit einem kleinkindgemäßen Schlüssel sprengte diese Autorin das Faustische Dilemma. Hinaus mit Luzifer aus dem hoheitlichen Himmel, hinab auf die Erde. Naturwissenschaften und Experimentalphysik hießen Luzifer willkommen und schlossen mit ihm den teuflischen Pakt. Ich erinnerte mich an Sartre. Sobald sich die Poesie das Böse zum Gegenstand wähle, vereinten sich die beiden Arten einer Schöpfung mit begrenzter Verantwortung und gegeneinander, schrieb er.
Ein Fass ohne Boden, tönte ein Kölner durch das Terrassenzimmer. Der gutaussehende Mittfünfziger hatte sich an dem langen Esstisch im Speisesaal vor drei Tagen als ehemaliger Pharmareferent vorgestellt. Vehement tremolierte er, der Rutengänger konzentriere sich einseitig auf Elektrizität in und um Bauten. Was sei mit den U-Bahn-Baustellen, diesem einzigen Kabelsalat tief unter der Erde. Der Kölner trommelte mit Faust und Unterarm auf die Lehne des Sofas. Was sei mit den Polstern, auf denen er sitze, dem Teppich, den Decken über ihm? Alles formaldehydverseucht. Der Rutengänger versicherte, dass diese hier es ganz bestimmt nicht seien. Es gehe doch gar nicht um vollständige Entseuchung, beruhigte er, nur um das Übermaß, da gebe es nahezu für alle Wohnungen eine individuelle Lösung. Seine schwarzen Augen entstörten das Panikfeld rund um den Kölner. Der Rutengänger schloss seinen Vortrag, gab Adresse und Rufnummer bekannt. Seine Mobilität erlaube ihm, seine Kunden prinzipiell bis nach Alaska aufzusuchen. Er brauche eins vor allem, Zeit, für jeden einzelnen Raum.
Jetzt gehen wir alle unter die Dauerbrause, schlug der Kölner vor. Nachdem der Doktor sich bereits ohne die übliche gemeinsame Entspannungsübung verabschiedet hatte. Ich behielt den kinderkissengroßen Eisbeutel noch auf meinem Knie, wollte die kühle Energie bis auf den Rest nutzen. Notierte mir die Telefonnummer des Rutengängers und überlegte, wann ich mit den Aufräumarbeiten in meiner Wohnung beginnen würde. Meine speziellen Chancen, die Netzwerkbetreiber zu überlisten, schienen mir hoffnungslos.
Das Buch über den Einfluss des Luziferischen hatte der Doktor mir leihweise überlassen. Ich hatte ein Ehrenwort geschworen, es ihm am nächsten Tag wieder zu überreichen. Ich erfuhr von den immer mehr durch Inzucht und Ausschweifungen degenerierten Menschen, den vielen Geistesgestörten, die es damals gegeben habe, von unheilbar Kranken, Krüppeln, Blinden, Tauben und Sprachgestörten. Bis zum Engelssturz Luzifers aus dem hoheitlichen Himmel, dem Aufbruch in das Wassermannzeitalter.
Wie kann ein lebenspraktisch ausgerichteter Arzt, erfolgreich und begehrt, aus einer gebildeten Traditionsfamilie, dieser Simpelei aufsitzen, fragte ich die Realschullehrerin. Wir spazierten durch den Park, ein Stück auch die asphaltierte Straße aufs Feld, dort konnte man noch den Köppel gegenüber erkennen. In den Blumen des Bösen heiße es, das Böse im Sinne des Bösen tun, bedeute, willentlich genau das Gegenteil dessen tun, was man als das Gute erkennt. Das ist ja das Kreuz mit den Gewaltvideos in Schultaschen, sagte die Realschullehrerin. Sie sei einiges gewöhnt, aber das letzte Jahr habe sie doch das Fürchten gelehrt. Ob ihre Symptome vielleicht doch etwas damit zu tun hätten, frage sie sich ernsthaft. Der Doktor sei auch nur ein Mensch. Die tüchtigsten Praktiker träten angesichts der zunehmenden Verrohung der Welt eine Besinnung auf den Glauben an. Ohne ihren Glauben sei sie ebenfalls verloren, stellte die Realschullehrerin klar.
Der Kölner war am Morgen überzeugt, alle hätte hier die Fastenkur nötig. Alle machen es sich hier viel zu leicht und ganz falsche Hoffnungen. Beschwörend hielt er auf der Marmortreppe seine Wasserflasche der älteren Dame mit dem maßgeschneiderten Hosenanzug entgegen, versicherte, mit festem Griff die Flasche umklammernd, nahezu drohend, dass das jetzt seine Nahrung sei, er lebe nur noch von seinen Reserven, habe kein Hungergefühl mehr. Die im Zellstoffwechsel entstandene Übersäuerung sei der springende Punkt. Der menschliche Körper aber sei weise, trenne sich nur von Schädlichem, und von diesem jetzt ganz konsequent. Der Kölner pfiff auf Kabelsalat, Formaldehyd und die Reizung des Nervensystems durch fünfzigmalige Richtungsänderung des Wechselstroms. Jetzt sei sein Körper am Ausscheiden, von allem, was stört, verdreckt, verfilzt und verklebt, ein Hausputz total, ein Absondern von allem Überflüssigem, dem Seelengift ebenso. Mir riet der Kölner, das verletzte Knie nicht übermäßig zu schonen. Immer in mäßiger Bewegung bleiben, empfahl er. Nicht auf die Milseburg oder den Simmelsberg, aber Ausruhen sei vollkommen falsch.
Am späten Vormittag, zwei Tage vor meiner Abfahrt öffnete ich dem Hausmeister und einem Techniker der Telefongesellschaft. Der Techniker schälte aus einem Karton ein neues schwarzes Gerät. Ein Gast vor Ihnen hat sein Büro immer mit hierher genommen, sagte der Hausmeister. Schreibtisch ans andere Ende, Telefon ausgestöpselt, Kombi-Fax angeschlossen. Der Techniker sondierte, schraubte auseinander und steckte den neuen Apparat wieder in den Karton. Eine kleine Platine tauschte er aus. Angenehmen weiteren Aufenthalt!
Ich telefonierte nicht lange mit meinem Weggefährten, weil Conny mich besuchte. Sozialarbeiterin, rutschte mir raus. Richtig und falsch zugleich, sagte sie. Man soll sich nicht von Äußerem täuschen lassen, wusste ich. Heute bin ich gebeugte Sucherin für ditt und datt, sagte sie. Wir wollten in Verbindung bleiben. Um den Simmelsberg beneidete ich den Kölner, Frau Baumann, Conny und die Realschullehrerin, die alle mindestens noch eine Woche blieben.
Zuhause wollte ich endlich ein Leben als freischaffende Hausfrau. Unerwartet gab ich den Versuchen meines langjährigen Weggefährten nach, er hatte schon öfter mit Beförderungsaussichten gewunken. Hatte selber begonnen, sich für den Simmelsberg zu interessieren. Er würde nicht am Ätna feiern müssen, den hatte er einmal mit dem Rad umrundet. In diesem Sommer wurde es in der Stadt nicht so kochend heiß wie auf dem Ätna. Aber so staubig, dass meine Hochzeitsschuhe nach einem kurzen Weg vom Rathaus in den Stadtpark wie nach einer Wüstendurchquerung aussahen. Das Standesamt im Alten Rathaus wies an, andere Glücksbringer als Reis oder Konfetti für ein gemeinsames Leben zu suchen. Auf einem gelben Merkzettel warnte das Standesamt davor, mit Reis oder Konfetti das Erscheinungsbild des Rathauses zu beeinträchtigen, es wies auf die Gefahr des Ausrutschens, Stürzens und Anlockens von Tauben hin. Das Atrium des Rathauses war eine moderne Imbisshalle mit galvanisierten Kaffeeautomaten und Designerstühlen. Vom Korridor aus sahen wir Frühstückern beim Bestreichen splitternder Hörnchen zu. Hörten Tamla Motown-Revivals, während sich eine zwanzigköpfige deutsch-russische Hochzeitsgesellschaft mit einer hochschwangeren Mädchenbraut im Trausaal versammelte, vor einer Standesbeamtin mit rotbraungebranntem Dekollté.
Das Erscheinungsbild meiner Hochzeitsschuhe erinnerte mich daran, dass ich lieber rutschigem Rollsplitt ausweichen würde als Tauben vom Rathaus fernzuhalten.
Was fehlt Ihnen eigentlich nicht, Herzinfarkt oder was, fragte der Augenarzt. Fusionsschwäche, sagte er. Was treiben Sie tagsüber? Mit Zauberei kommen Sie da nicht weiter.
In die Weite der Rhön würde ich sehen, Habichten und den Grillen zuhören, die Köppel und natürlich den Simmelsberg besteigen. Eine Hochzeitsreise mit großem Ziel sollte es nicht geben. Zwei Tage später machte ich in der Bischofsstadt Halt, wandelte ich im Schlossgarten unter schattigen Bäumen, an sprudelnden Wasserfontänen und rotierenden Sprengschläuchen entlang. Zwei Bäumchen vor der Orangerie des Schlosses trugen in diesem Sommer Orangen in Originalfarbe und Größe. Nach dem Abschreiten der Ahnengalerie sämtlicher Bürgermeister dieser Stadt überzeugte ich mich, dass dieses Schloss den Magistrat der Stadt einschließlich Trausaal I und II beherbergte. Jetzt wusste ich, wo mein Hochzeitsmarsch mich weniger missmutig zurückgelassen hätte. Everybody from 3-1-3 putch the motherfucking hands and follow me and smile, lockte die Schlossmauer am Rande des Schlossgartens. Ich folgte nicht weiter, wegen meines Anschlusszuges. In diesen Augustwochen wurden die Temperaturen auch in der Mitte Deutschlands tropisch. Die Rhön mit ihrem typischen Mittelgebirgsklima, die im Sommer eher unter Abkühlung litt, war ein glühender Backofen. Abends saßen wir ermattet auf der Terrasse eines Ferienhauses, blickten hinter Stockrosen, Sonnenhut und Zinnien auf einen versteppt scheinenden Köppel. Daneben thronte der Simmelsberg, versprach schattigen Wald und eine weite grüne Bergwiese.
Auf der Wasserkuppe muss man gewesen sein, sagte der Ferienhausbesitzer. Um halb sieben brachen wir auf, hockten zwei Stunden später auf dem Pferdskopf, wie eine kleine Pyramide ragte dieser in die Landschaft. Ein gigantisches Netzhautauge wachte über ein zweites Nevada, die silberne Kuppel gehörte den Amerikanern. Die Wasserkuppe drohte zu einer Einöde zu werden. Wie Pioniere auf Expeditionen fühlten wir uns, so früh am Morgen, so allmachtsbenommen bei dieser Hitze. Ein ungleiches Paar trug auf dem Gipfel des Pferdskopfs einen Streit aus. Auf dem Rückweg begegnete uns eine Achtergruppe auf Wanderstöcken. Wie Skiläufer in der Wüste, höhnten wir. Ein Stück weiter unten hockte eine Gestalt schweißtriefend im Wald.
Der nächste Morgen war noch wärmer, aber ein kühler Wind strich um die Schützhütte des Köppels. Wir durchquerten das Dorf rasch. Eine eingezäunte Ziege sehnte sich nach Ansprache, ich konnte mich von ihre klugen wachen Augen kaum trennen. Im Wald waren wir uns uneinig über den Weg. Da hüpfte unser Wanderführer einen Hang im Wald hinunter, im Dorf war er uns bereits begegnet. Wie schnell er hier plötzlich auftauchte. Mit seinen langen braunen Beinen wirkte dieser ältere Mann jungenhaft, eine Mischung aus asketischem Läufer, Gnom und Nichtsesshaftem in ausgefransten Shorts und uraltem Pullover. Ein Übriggebliebener, kein Einheimischer, fand ich, solche Gestalten vermutete ich eher auf Gomera.
Ich zeige Ihnen den Weg, versprach er und drückte mir einen Strauß Silberdisteln in die Hand, die schenke ich Ihnen. Rolf sagte, die stehen doch unter Naturschutz. Die sind aus meinem Waldstück, versicherte der drahtige Mann. Uns voran stieg er federndes Schrittes auf einem der typischen Rollsplitt-Wege. Ob er von hier sei. Mehr vorübergehend, zur Restaurierung eines Anwesens, deutete er an, er habe hier noch viel zu erledigen. Lieber würde er in der Bretagne leben, die Franzosen seien menschlicher geblieben als die Deutschen. Er fragte nach unserem Aufenthalt. Kur oder Urlaub, und nach unserer Profession, wie er sagte. Meine Antwort war knapp, ich gab diesen Dialog lieber weiter. Man landete mühelos bei den Räumkommandos der Spontiszene. Nicht zu widerstreitend, das würde ihn uns als Wanderführer erhalten. Dieser grazile Mann, dessen Stimme ebenfalls zart klang, war ausgehungert. Nicht nach Nahrung, das hätte er bestritten. Er hungerte nach Austausch. Weit war der Weg auf den Berg nicht, der Aufstieg nur mäßig beschwerlich. Rolf und der Ältere blieben bei den Roten und den Grünen, den Immobilienspekulanten im Westend der Mainmetropole und der Putzkolonne um den jetzigen Außenminister. Hilfstruppen der Westendmafia, sagte der Mann, er schien plötzlich erregt. Auch darüber, dass in dessen Auto das Gewehr gelegen habe, mit dem der Wirtschaftsminister umgebracht wurde Er selbst habe längere Zeit auf der Seite der "Gewinnmaximierer" gestanden. Den Aufsichtsratsvorsitzenden einer großen Bank habe er ebenfalls gekannt, der sei ein anständiger Mensch gewesen.
Auf Wildschweinspuren zeigte er, erläuterte die geologischen Schichtungen des Simmelsbergs. Auf der Bergwiese machte mir plötzlich die Hitze zu schaffen, die Wiese war reich übersäht von Herbstzeitlosen, das Grün noch sommerfrisch. Wir blickten weit über die Bischofsstadt hinaus. Er empfahl uns unbedingt noch den Gipfel. Er laufe den Berg täglich, man sah es seinen braunen Jungsbeinen an. Warum nur Männer von Frauenbeinen schwärmen! Ein Pflanzenesser, folgerte ich, aber woher dieser Gebissrest in seinem Mund, dieser typische eingefallene Mund des beinahe Zahnlosen, diese Kerbe über dem spitzen Kinn an einem jugendlichen Kopf, dem zarten Gesicht unter flaumig weißen Haaren? Ein Abgestiegener, der zum Ausgleich täglich auf den Simmelsberg steigt?
Ich habe aus meinem Körper nie einen Schrottplatz gemacht, beschwor er, neben mir auf dem grünen Plateau schreitend: Schwer sei es geworden, sich dies zu erhalten; Auch hier benutzen die Bauern zur Schädlingsbekämpfung Anthrazin, empörte er sich. Wasser sei Quelle allen Lebens, das wollte er uns mit auf den Weg geben. Aber was sollen die Leute trinken? Bier, Wein, Milch und Schnaps. Statt Wasser oder Tee. Diese elende Profitmaximierung, wiederholte der Mann. Er regte sich über eine Sturmflut auf, die längst angerollt war. Zu beschäftigt, ihre ersten Anzeichen zu hören? Als Siebzigjähriger sei unser Wanderführer auf den Simmelsberg zurückgekehrt. Auf dessen Gipfelplateau thronten wir jetzt, vor geräumigem Holztisch. Auf dem weiten Rastplatz war sonst keiner, ich griff nach den heruntergewehten Silberdisteln. Die Anhöhe lenkte den Blick auf einen etwas höher gelegenen Berg hinter uns. Kasernen des Truppenübungsplatzes waren zu erkennen, der Platz gehörte heute der Bundeswehr. Unser Ferienhausbesitzer hatte erzählt, wie sein Heimatdorf seinerzeit für einen nationalen Truppenübungsplatz des Führers ausradiert wurde. Rolf vermutete einen Zusammenhang mit dem hohen Gedenkstein im Kurort, zu Ehren von dreißig jüdischen Mitbürgern.
Warum sagen Sie Nazis, empörte sich unser Kundiger ein, warum sagen Sie nicht die Deutschen? Dieses unausrottbare Mea Culpa der Deutschen. Die KZs habe eine andere Nation erfunden, bei den Deutschen seien die Verbrechen nur zur Perfektion getrieben worden. Er sei viel in der Welt herumgekommen. Modellbauer, sagte er, als wir nach seinem Beruf fragten. Er nannte große Namen von Banken, Brücken, moderne Denkmäler, sprach über Bauhaus und gesundes Wohnumfeld. Wir waren uns einig, dass man heutige klinisch reine Überspanntheiten gerade anprangern muss. Die Statik schwingender Hängebrücken und freischwebender Seebühnen interessierte Rolf, über Zeppeline seien wir ja längst hinaus, meinte der Mann. Die Statik habe er nur verstehen müssen. Ein Stammgast in der elterlichen Kneipe war Architekt. Er zeichnete drei Linien. Machen Sie was draus, sagte er. Der Architekt wurde sein langjähriger Arbeitgeber, er habe sich stets auf ihn verlassen können. Er sei Künstler, beharrte unser Wanderer, die Arbeit habe ihm in den Fingern gelegen. Arbeit rette auch den Körper, er sei davon besessen gewesen. Während der Wettbewerbe vergaß das Team die Zeit, man fieberte jeder Ausscheidung entgegen. Schlief und aß kaum. Die Zwillingstürme in der Mainmetropole stammen ebenfalls von unserem Team, sagte er stolz und zurückhaltend zugleich. Die Zwillingstürme, sagte ich.
Auf Speer, den Leibarchitekten des Führers kamen sie. Der Volkstreue sei ein großer Lichtkünstler gewesen, bei allem Verschulden, fand der Modellbauer. Was heißt das heute, fragte Rolf. Welchen Dienst erweisen große Lichtkünstler der Menschheit, fragte ich. Illuminierte Fußballstadien für neue Heilsbotschafter? Anstelle eines roten Fahnenbergs vor nachtblauem Himmel, sagte Rolf. Die Massen müssen immer irgendwo abgeholt werden, sagte der Modellbauer, mit Zauber, Show und Magie. Er nicht, er brauche das nicht. Mit dem Sohn des Volkstreuen habe er eine fruchtbare Zeit verbracht. Ein feiner Mann, sagte er. Schwere Zeiten hätten sie erlebt. Vertrauen sei missbraucht worden, wenn Projekte platzten, sei es um Millionen gegangen.
Wer die letzte Verantwortung übernehme, bei den Hängebrücken und Seebühnen, wollten wir wissen. Andere, erklärte unser Begleiter. Nachdem es heute nur noch um prickelnde Glasprismen gehe, nach dem Motto: mehr Mut für die Mainmetropole, neue Türme zu Babylon für aufgekratzte Banker. Gegen die Banker habe er wirklich nichts. Aber sie scheinen ihm wie ein Korps von Gleichgesinnten. Jeder solle einmalig sehen, fand der Modellbauer. Von der Einmaligkeit der Goetheschen Farbenlehre könne man heute noch lernen, sagte er. Jeder sehe Farben anders, das Auge sei ein Satellit des Großhirns, viel komplizierter, als man bisher glaubte.
Er komme nicht von hier, in einem kleinen Ort in Thüringen sei er aufgewachsen. Bis die Mutter im Krieg mit den Söhnen in das Dorf floh, zu dem der Simmelsberg gehörte. Dreizehn war er, die Stadt seiner Schulzeit sei ein magischer Ort gewesen. Eine Stadt, die heute touristisch verramscht werde. Jetzt war ich mit ihm eins. Meine Reise dorthin im letzten Jahr war überfällig gewesen Eine lang verehrte Romanfigur habe dort ihr erstes Glück gefunden, erklärte ich, vor fast zwei Jahrhunderten, ein junger Eigensinniger, ein Vernachlässigter, habe in der Stadt Freunde und Anerkennung gefunden. Wegen eines verstiegenen Jugendtraums später auf alles gepfiffen. Der Modellbauer nickte, als würde er den Roman kennen. Jugendträume habe er sich reichlich spät erlaubt, sagte er. Ein halbes Jahr Indien, Kalifornien, als dort noch die Blumenkinder waren. Das Tach Mahal. Davon sei leider nichts geblieben, fügte er kleinlaut hinzu.
Der kühle Wind oben täuschte über die Hitze, wir wurden sanft durchgestriegelt. Eine Birne nahm er gern, er ernähre sich von Obst, überwiegend, sagte er. Dass es ihm mit Obst gut gehe. Er sei ein Apfelkind. Ich sollte gar nicht geboren werden, plötzlich rutschte ihm schüchtern dieses Geständnis heraus. Er dürfte eigentlich nicht auf der Welt sein, sagte er leise. Wie leicht ihm seine Lebensbeichte gegenüber Wildfremden fiel. Der Jüngste von drei Brüdern, nach zwei Kindern riet der Arzt der Mutter von weiteren ab. Schwanger wurde sie doch wieder, bekam starke Blutungen, der Fötus lag ihr quer auf einem Nerv. Der Arzt empfahl die Austreibung, einen Abort im sechsten Monat. Die Mutter saß auf dem Krankenhausbett. Griff nach ihrem Koffer und reiste zurück. Der Vater betreute sie, sie lag bis zur Geburt. Aß ausschließlich Äpfel, das einzige, was sie noch vertrug. Vom Kaiserschnitt entkräftet, sei es ihr danach besser als zuvor gegangen. Sechsundneunzig sei sie geworden, der Kampf um eine künstliche Hüfte aber wurde ein marternder Kampf, gegen Pflegeverhältnisse, Ärzte und Pharmazie. Sieben Jahre habe der Modellbauer die Mutter gepflegt, ein Kampf auch gegen seine älteren Brüder und seine Frau. Die ihn verließ. Eine Emanze, sagte der Modellbauer. Wenn der liebe Gott manches ganz allein weiß, sie wusste es besser.
Von dem Vater sprach der Modellbauer wenig. In russischer Gefangenschaft rodete er Wälder, baute Straßen im Kaukasus. Bis zu den Hüften standen die ausgemergelten Gestalten im Schlamm. Jeden Tag kippten einige um, wurden am Abend abgeknallt. Der Vater kam erst zehn Jahre nach dem Krieg zu der Familie, die bereits am Simmelsberg wohnte. Die Eltern eröffneten eine Gaststätte, in der Nähe der Mainmetropole. Ein Autounfall riss dem Vater auch das zweite Bein ab, auf Entschädigung bestand er nicht. Ein guter Kunde, vor Gericht habe er alles abgestritten. Der Mann sei am Ende elendig verreckt, mit einer Spur von Schadenfreude fügte unser Begleiter dies an.
Und seine Arbeit? Vorbei. Der Architekt war in der Zwischenzeit gestorben.
Wieso erzähle ich Ihnen das eigentlich alles, fragte er mit schüchternen Seitenblick zu mir. Ich bin immer zu gut gewesen, sagte er scheu und trotzig. Viel zu freigebig. Ja, sagte ich.
Schön wäre es, in der Bretagne zu leben, wiederholte er. In Neuseeland wollte ihm jemand eine Schaffarm schenken. Nachdem er bei den Hippiekindern gewesen war. Manchmal denkt er, er hätte sie nehmen sollen. Sein Gesicht wirkte noch ratloser. Wenn man vorher wüsste, was man am Ende weiß! Plötzlich sah mir ein alterndes Nesthäkchen entgegen, er hatte sich selbst einmal so genannt. Ein Kindergesicht.
Ich sah zwei Kindergesichter, vor Schilfrohr oder Gilbgras, an Kissen gelehnt, in Häkelkapuzen, auf einer Wiese. Die Schwester krallt ihre Händchen lebenstüchtig gegen das Kissen, blickt mit liebenswürdig geweiteten Augen und lächelndem Mund. Daneben eine gefurchte Stirn, die Augen zwei Schlitze. Ein zerquältes altes Kindergesicht blickt trüb in eine entlegene Welt. Die bergende Höhle war ein Kampfplatz für zwei, die Mutter schachmatt, der einzige Sohn verließ sie nach elf Monaten, ließ sie mit vier Töchtern im Stich, zusammen mit dem Vater, in zwei kleinen Zimmern. Matt versucht das Kind nachzuahmen, was die Schwester tut, eine leblose Puppe, nach vorn gebeugt, hängt schlaff zwischen Schilfrohr und dem großen Kissen, neben dem wohlgefälligen Gesichtchen der Schwester. Der wütende Vorwurf eines Kollegen nach fünfunddreißig Jahren, sie liefen mit Gruppen durch einen Tunnel zum Nasezuhalten. Du siehst aus, als ob du gerade auf die Welt gekommen bist. Oder aus dem Gefängnis.
Und die Main-Metropole?, fragte Rolf. Eine Stadt, in der jeder sein darf, wie er ist, zitierte ich Conny. Nicht für mich, sagte das Nesthäkchen. Gern würde er uns sein Anwesen zeigen, sagte er zögernd. Auf das waren wir immer neugieriger geworden. Äpfel von dort hatte er mir auch versprochen. Es sei noch nicht fertig, ein Ferienhaus wolle er daraus machen. Wenn wir Interesse hätten, macht er uns ein Angebot. Er suche Menschen, die Lust haben, gemeinsam etwas aufzubauen, dann garantiere er Wohnrecht auf Lebenszeit.
Ich atmete tiefer, spürte mein Herz hüpfen, sah seine bereisten Orte vor mir ausgebreitet: San Fransisco, die Bretagne, Neuseeland und das Tach Mahal. Ich dachte an meine stickige Wohnung zuhause, meine Abneigung gegen die Stadt, die Furcht, dort alt werden zu müssen. Stück für Stück die Zelte in der Messestadt abbrechen, die immer meine ungeliebte Maulwurfsstadt bleiben würde. Ich hatte so viel an diese Stadt verloren. Einmal fiel auch etwas in den Krankenhaus-Sondermüll, das Votum des Gutachters brauchte nur einen dicken Stempel. Die Bekanntschaft war frisch, war anders gemeint, der Sucher bewies es regelrecht mit seiner Riesenwohnung, die war beinahe ausgeräumt, die Dame hatte ihn ganz schon ausgenommen. Vaterpflichten hätte ihm die Klientin wohl am liebsten aus dem Vollmond herausgelesen. Der Gutachter betonte vor allem den sehnlichen Wunsch der Klientin, endlich wieder ganztägig zu arbeiten.
Ich schwärmte gemeinsam mit dem Mann in Gipfelwehmut. Rolf sah mich an und sagte nichts. Bevor wir aufbrachen, sandte der Modellbauer seinen zarten Zorn vom Simmelsberg auf die Menschen herab. Das gefräßigste aller Raubtiere, das niemals wieder große Pyramiden bauen werde, die Pyramiden habe er alle gesehen. Er zürnte über die Rockefellers, die heute die Erde regieren und über die skandalösen Pflegeverhältnisse. Sinnierte über verlorene Träume auf neuseeländischen Farmen und das Aus und Vorbei seiner Weltreisen.
Das ist mein Haus, sagte er nicht ohne Stolz. Was wir sahen, wollten wir immer weniger glauben. Es waren die beiden uralten Schuppen, mit den verwitterten Biberschwanzverkleidungen, um Haaresbreite von der Straße entfernt. Ich sah, wie baufällig sie waren. Wir stelzten zwischen den beiden parallel zueinander stehenden Häusern, suchten auf wenigen freien Zentimetern Trittfläche einen Trampelpfad inmitten eines Warenlagers hoch aufgeschichteter Baumaterialien. Zwischen roten Dachpfannen, weißen und naturfarbenen Steinen und hoch aufgetürmten Holzbrettern und Planken. In eines der Fenster hatte ich von der Straße zu sehen versucht. Sie waren zu hoch, verstaubt, zugepappt, mit Plexiglas geflickt, teils von Wurfgeschossen eingeschlagen. Spätaussiedler gebe es im Dorf, denen alles in den Rachen geworfen wurde. Die werden hier mit Geldern überhäuft, die haben zwei oder drei Autos und seien immer noch unzufrieden, sagte er erbittert. Er habe niemals einen Groschen vom Staat genommen.
Ich hatte noch nicht aufgegeben. Er lockte mich auf einen Trampelpfad, ich schlängelte mich zwischen querliegenden, gegen das Haus schlagenden Ästen und störrischen Zweigen von Stachelbeersträuchern entlang. Wand mich durch die Sträucher hindurch, aus einer alten Tonne schlug mir vermoderter Geruch entgegen. Ich ratschte mich am Arm, blieb an spitzen Ästen hängen. Ein Buschmesser hätte ich benötigt, einen Einblick in das Haus bekam ich nicht. Als ich es fast umrundet hatte, gestand er zaghaft, dass alles versperrt sei. Sie brechen alles auf, sagte er, nichts sei vor ihnen sicher.
Das andere Haus war zugänglich durch eine Art von Schleichweg in eine Höhle, der Weg dorthin führte in ein dunkles Maul. Stapel von alten Obstkisten schichteten sich vor dem Eingang der Höhle auf, in denen lagen blaue Trauben, in Mengen, wie sie ein Obsthändler auf dem Großmarkt für ein gutgehendes Geschäft einkauft. Die meisten Trauben waren vertrocknet, Wespen tummelten sich darauf. Plastiktüten mit allerlei Zeug lagen neben dem Eingang. Auch das Auto voller Tüten, der weiße Variant prangte wie ein ferner Bote aus dem Industriezeitalter auf dem restlichen freien Platz. Rolf erkannte, dass er fahrtüchtig war.
Der Modellbauer war in seiner Höhle verschwunden, blieb unerklärlich lange in dem dunklen Schlund. Hatte etwas von einem Buch gemurmelt. Wir standen vor dem Höhleneingang, ein kleiner Junge aus dem Dorf beäugte uns. Ein strubbeliger Hund schnupperte an unseren Füßen und auf dem Platz vor dem Auto herum. Wir hatten längst wieder in der Ferienwohnung sein wollen. Dachten an den Rückweg in der Mittagssonne und dass wir dringend noch einkaufen mussten. Der Höhlenbewohner überreichte mir die Tüte mit Äpfeln, mürbe Äpfel, sie schienen sein restlicher Bestand. Enttäuscht berichtete er, er habe das Buch nicht gefunden. Wir müssten es unbedingt ansehen, sollten uns gedulden. Was für ein Buch, fragte Rolf gereizt. Von Wasser und Salz handele es, unser Höhlenbewohner hielt verzweifelt daran fest. Nachdem ich erklärt hatte, wir seien an dieser Ferienwohnung nicht interessiert. Der Aufwand sei viel zu groß. Nach unseren Telefonnummern fragte er. Wir schlugen seine Bitte aus. So schroff fand ich mich.
Er hielt an dem Buch fest. Es sei zu heiß, erklärten wir. Kraft für den Wiederaufbau seines Anwesens wünschte ich ihm. Kraft dafür, fragte er zweifelnd. Auch für eine andere Entscheidung, sagte ich. Er verschwand wieder in der Höhle, kam bald mit einem Paket Vollkornbrot wieder. Das Brot war angeschimmelt, es war ihm entsetzlich peinlich, das ließ ihn erst recht ratlos zurück. Dieser Mann hat genug Schroffheit erfahren, fand ich. Als ich bereits ahnte, es würde Momente geben, da würde ich ihn in seiner erbärmlichen Welt so menschlich finden. Wenn es kalt wird. Die nicht geboren werden sollten, sind mir doch nah.
Zwei haben es leicht, sagte ich zu Rolf, als wir ihm aus den Augen waren. Willst du, dass er bald vor deiner Tür steht? Ich stellte mir das Dorf im Winter vor, fernab von Bus und Bahn und Lebensmittelladen. Wir waren schon hinter der einsamen Ziege, nahe der Bank, von der aus man bereits auf die Klinik sah. Da kam er hinter uns hergelaufen, ganz außer Atem. Er hatte das Buch gefunden. Wasser und Salz, sagte er Sie müssen es lesen, beschwor er uns, er würde es uns leihen. Ein großformatiges Buch, weißblau, abwaschbarer Einband. Wir durchblätterten es, immer noch unwillig. Der menschliche Körper sei auf das reine Wasser zwingend angewiesen, beschwor er. Das Salz, das die Industrie in alle Lebensmittel hineinmogele, sei ein Ruin für den Körper, es zerstöre die Zellen, das müsse er uns unbedingt noch auf den Weg geben. Er beschwor uns ein halbes dutzend Mal, das Buch ganz bestimmt zu kaufen oder es von ihm zu leihen. Ich schenke es Ihnen, entschloss er sich. Sie kaufen es sowieso nicht. Sie sagen doch nur, der spinnt. Das Buch sei einer der letzten Wegweiser in einer verseuchten kranken Zeit.
Abends saßen wir ermattet auf der kleinen Terrasse des Ferienhauses. Der Hausbesitzer trug immer noch einen nackten Oberkörper, jätete immer noch in seinem Gemüsebeet. Das Gießen der Stockrosen, Astern und Zinnien hatte das Paar längst hinter sich. Ein nachbarschaftlicher Bautrupp aus sechs Zimmerleuten schraubte, fräste und bohrte seit Tagen an einem neuen Obergeschoss auf ein Eigenheim, vor aufgeheizten Asphalt. Wir hatten alles im Blick, die Geräusche im Ohr, die Helfer und Bauleute rackerten bis abends halb zehn. Bei dieser Hitze, sagte ich zu Rolf. Fleißig fand das vor allem der Hausbesitzer.
Warum helfen die einem, der längst ein Haus hat, warum nicht dem Mann am Simmelsberg, sagte ich. Las Marquez, Die Liebe in den Zeiten der Cholera. Las von Gewitterwolken blutgieriger Moskitos, die abends aus den Sümpfen aufsteigen, las von Dünsten aus Menschenscheiße im Seelengrund der Todesgewissheit Wir saßen vor verzweifelt gegossenem Sonnenhut und Oleander, das ältere Paar verstand das verhexte Rhönklima nicht mehr. Nach neun Uhr ging über dem Himmeldunkelberg ein bernsteinfarbener Mond auf, wanderte über den Simmelsberg hinweg bis zum Morgen zum Köppel.
Zuhause ordnete ich die Silberdisteln in einer Vase. Stellte sie ans Fenster, wo früher ein Baum die kahle Hauswand gegenüber belebt hatte. Die Disteln würden hier lange stehen, wusste ich, als ich wieder über ihre samtigen Köpfe strich. Wie es ihm wohl geht, fragte ich mich. Dem Bewohner des Simmelsbergs mit den flinken Jungsbeinen?



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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