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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Spiegel

© Ines Molfenter


Als Rosa an diesem Vormittag die Mutter besuchte, hob diese die Hände, was nicht neu war und schaute Rosa mit dem einen noch sehenden Auge an, was allerdings erstaunlich war, da ein Blick einer Wiederauferstehung gleichkam und sagte leise, aber deutlich: "Paul". Und als Rosa: "Wer?", fragte, indem sie ihren Kopf zu ihrer Mutter herabsenkte, drehte diese den Kopf zur anderen Seite und sprach gegen die Wand: " Du warst ja weg." Fast jeden Vormittag saß Rosa auf einem braunen, heruntergesessenen Hocker neben dem Bett der Mutter. Beobachtete die leisen Zyklen ihres Dämmerschlafs, die manchmal tief und hingegeben waren, dann wieder in eine kaum wahrnehmbare Anspannung glitten, bis dann die Mutter plötzlich von einer Unruhe erfasst wurde, in der sie alles abstreifen wollte, das Nachthemd, die Bettdecke, den Schlüpfer, vielleicht die Vergangenheit oder das Leben.
Bis zu diesem Vormittag hatte die Mutter sich immer mehr zu einem in sich geschlossenen System entwickelt. Sie nahm nichts mehr zu sich und Rosa rührte der zarte Körper, die schmale Wade, der bestrumpfte Fuß, der selbstvergessen über der weggestrampelten Bettdecke lag: "Wer ist Paul?", drängte Rosa noch einmal. Aber die Mutter hörte nicht mehr. Lag lauschend - nach innen. "Auf was?", fragte sich Rosa und fragt sich das auch noch, als sie aus einem heißen, sonnigen Werktag heraus in die abgestandene Kühle ihres Elternhauses tritt. Sie riecht den erkalteten Bodensatz aus dem Leben ihrer Mutter, vermischt mit dem Geruch von Urin, der ihr immer noch in der Nase hängt, obwohl die Mutter ja nicht hier in ihrem Haus stirbt, sondern ein paar Straßen weiter in einem Pflegeheim. Einem Mansardenzimmer, in der Schräge ein Holzbett, an dem der Katheter baumelt und vor dem Fenster himmelblaue Gardinen. Rosa lässt die schwere Tür hinter sich ins Schloss fallen. Halb heruntergelassene Rollläden tauchen Ecken und Zwischenräume in ein Zwielicht, das einen feinen Schleier aus Misstrauen vor Rosas Augen webt. "Hallo, ist da wer?", ruft sie lauter als es notwendig wäre, tastet sich entlang der Stores vor den Fenstern, schaut dahinter. Sie stößt an den blaugrauen Ohrensessel ihres Vaters, der ihr stumm den Weg versperrt und Rosa denkt an Einbrecher oder Geister und: "Keiner würde mich hier schreien hören." Sie drückt schnell auf den Dimmer neben dem letzten Store und der große Lüster brandet auf, leuchtet alle Ecken aus. Ein mitleidloses Licht über den verwaisten Möbeln. Rosa zieht die Rollläden nach oben. Dabei fallen ihr die Hände ihrer Mutter ein, wie sie energisch routiniert an den Bändern gezogen hatten, bis sie es dann irgendwann nicht mehr konnten und dass diese Hände jetzt jedes Mal, wenn Rosa sich neben sie auf den Hocker setzt, wie zufällig zum Gebet zusammenfinden. Dank, Abbitte, eine letzte Geste des Erkennens? Sie hatten als Kinder soviel beten müssen. Weil der liebe Gott alles sieht, auch die heimlichen Gedanken kennt. Aber er hatte sie nicht geschützt, nicht vor ihrer Mutter, nicht vor der Schwester. Gott war ein Mann, der sie nicht hörte, wie ihr Vater.
Rosa steht an der Türschwelle zu seinem Arbeitszimmer. Seit seinem Tod vor Jahren hatte die Mutter nichts darin verändert. Wenn Rosa die Erinnerung an ihn zum Leben erwecken will, fällt ihr nur ein, als hätte in einem solchen Moment sein Körper einen Abdruck in ihrem hinterlassen: Ihr Vater vor dem Panoramafenster im Wohnzimmer, leise summend und wippend von den Fußballen zur Ferse und zurück, während sein Blick durch das blanke Fenster über den Grunewald schweift und irgendwo in der Ferne festmacht. Rosa hat erst in den letzten Jahren gedacht, dass ihn der Krieg an einen Abgrund geführt hatte, vor dem er den Rest seines Lebens verharrte. Und, um nicht abzustürzen, sich so wenig wie möglich bewegte. Das zarte Summen vor dem Fenster, ein gelegentliches Wippen war das Äußerste. Rosa steht noch immer an der Tür, eingeklemmt zwischen den Zeiten. Sie legt die Hände auf den Rücken, summt und wippt an seiner Stelle. "Was soll ich jetzt tun?", denkt sie in den Raum, in dem noch immer sein Schreibtisch steht.
Ein Schlüssel wird ins Schloss gesteckt. Als Nike die Tür öffnet und sogleich hinter sich schließt, strömt der erdige Duft von Sommerregen in den Raum. Einen Augenblick lang denkt Rosa an Flucht. "Hallo, Röschen! Wie geht`s Mutter?" Sie eilt auf Rosa zu. Der teure Hosenanzug schließt sich weich um ihre kleine Gestalt. "Immer auf dem Sprung", denkt Rosa und sagt: " Sie stirbt". Es war, als hätte sie Nike im Lauf ein Stück Holz zwischen die Beine geworfen. "So, so", sagt Nike spöttisch und stellt die Thermosflasche auf den Tisch. "Möchtest du Tee?" Wieder einmal hat Nike an alles gedacht. Sie hat sogar Brote für sie beide geschmiert. "Ganz die ältere Schwester", denkt Rosa, nimmt eine Tasse Tee und nippt an der grünen, staubig schmeckenden Flüssigkeit, die kochend heiß sofort ihre Zunge verbrennt. Nike schlürft laut: "In China trinken sie den den ganze Tag und schlürfen auf Teufel komm raus", und dann lacht sie mit ihrem weit offenen roten Mund, ein großes Lachen, das nicht im Zwerchfell ankommt und nicht ansteckend ist. Rosa sieht Nike im Spiegel gegenüber und sich selbst, wie sie versucht ein Lachen zu produzieren. Ihre Blicke kreuzen sich: Zwei elegante Frauen Anfang und Mitte sechzig mit den halben Pobacken auf den Kanten des Tisches … "Baumeln mit de Beene und Butterstullen mit Zucker druff", lacht Nike immer noch, "wie in alten Zeiten," und, "das hätte Mutter nicht erlaubt, dass wir auf dem Tisch sitzen. Sogar die Stühle am Tisch waren tabu. Weißt du noch? Als wir klein waren, hatte sie immer diese dicken Plastikfolien über die Stühle gestülpt. Darauf mussten wir dann sitzen.". Rosa denkt, dass sie da nun sind, die Weißt-du-noch-Sätze, die über die Vergangenheit gleiten wie über einen zugefrorenen See.
Das kalte Plastik unter Rosas nackten Beinen im Sommer und die ständige Angst vor einem Fleck auf der goldenen Stuhlbespannung, die kann Rosa noch spüren. Einmal war Nike der Füller auf die gute Tischdecke gefallen. Der baumwollene Stoff hatte die blaue Farbe sofort eingesaugt. Nike hatte gerieben, mit ihrer Schürze, den Armen, den Fingernägeln und dann hatte sie Rosa bei der Mutter angeschwärzt. Die hatte Rosa solange geschlagen bis sie keine Kraft mehr hatte. Rosa spürt, wie ihre Hände kalt werden und sie sehnt sich nach der Hitze draußen vor der Tür, vor den getönten Fenstern, durch die sie dunkel die Sonne sieht.
Nike zieht kleine runde Kleber aus ihrer Tasche. "Ringverstärker!", triumphiert sie, indem sie die Hand hoch hält. " Die Weißen sind meine, die Roten deine", erklärt sie Rosa, " damit wir nachher noch wissen, wie wir alles verteilt haben". Sie schiebt sie in die Tasche ihrer Hose, schlendert durch die offenen Flügeltüren ins Wohnzimmer, zwischen den Händen ihre Tasse mit Tee. Die kleine Folie mit roten Ringverstärkern in der Hand bleibt Rosa sitzen.
Von der Küche zum Tisch, vom Tisch zur Küche, immer war die Mutter unterwegs gewesen für Geschirr und Gläser. Rosa folgt dem abgetretenen Pfad mit den Augen, vorbei an dem kleinen Plattenschrank, auf dem ein in Gold gefasstes Photo ihrer Eltern steht. Rosa rutscht vom Tisch, geht zu dem kleinen Schränkchen und nimmt das Photo. Auf die Rückseite hatte die Mutter in ihrer schnellen Schrift, ,Goldene Hochzeit´ geschrieben. Rosa dreht den Rahmen wieder um und betrachtet das Bild: Mutter und Vater sitzen nebeneinander am Tisch. Sie lehnt ihre Wange an seine und zieht, wie es ihre Art war, den Vater unter dem Kinn zu sich heran. Sie umfängt ihn, zwingt ihn zu einem kleinen porösen Lächeln, versucht die Heiterkeit dieses Ereignisses allein zu gestalten. Hinter ihren zusammengesteckten Köpfen, an der seidenen Textiltapete, hängen Miniaturgesichter der Familie in kleinen ovalen Rähmchen. Rosa schaut auf das Photo, schaut auf den Platz, an dem jetzt keine Familienbilder mehr hängen, sondern der große Spiegel. Der Rahmen rot, mit gelben Blumen verziert, einem goldenen, schnörkelhaften Aufbau und einem kleinen Bild darin: Drei Damen auf einer Waldlichtung. "Ich hab nie verstanden, warum Mutter den aufgehängt hat, der passt doch gar nicht hier rein", sagt Rosa zu Nike, die sich gerade über eine kleine Tänzerin auf einem Glockenspiel beugt. "Auf jeden Fall hing der noch nicht zur Goldenen." Nike richtet sich auf: "Du weißt doch gar nichts über Mutter." Der Satz dringt in Rosa ein, implodiert - die Ungerechtigkeit splittert durch ihre Gedanken. Sie will sagen: "Ihr…", und kommt nicht weiter und spürt, wie sich die Schleusen öffnen und schließen und öffnen, wie ihr das Wasser in die Augen steigt. Sie dreht sich zum Fenster. "Und Paul?", fragt Rosa und fühlt sich, als stünde sie auf einem hohen schwankenden Seil. Nike dreht sich um und schaut Rosa direkt in die Augen. "Wer?", fragt sie und trinkt leise, konzentriert ihren Tee, den Blick auf Erinnerungen gerichtet, die Rosa nicht teilt. Als hätte sich der Boden unter ihr geöffnet, fühlt sie die alte Verlassenheit, die sie seit ihrer Kindheit begleitet. Rosa erinnert sich noch an den Zeitpunkt, als ihre Erinnerungen abrissen, weiß noch genau, was an diesem Nachmittag geschah. Nike saß vor ihr auf dem dunkelroten Läufer im Hausflur und überredete sie gerade, mit ihr Kofferpacken zu spielen "Was würdest du mitnehmen, wenn du jetzt verreisen müsstest?", hatte Nike sie gefragt. Und Rosa hatte "nachher" gesagt. Sie wollte erst mit den Puppen spielen, aber Nike lief weg und rief "warte" über die Schulter und holte den kleinen schwarz-rot karierten Koffer mit Reisverschluss vom Speicher. "Was wär' dein Liebstes?" fragte sie noch einmal, als die Tür aufging, und vier erwachsene Frauenbeine sich den Weg durch ihr Spiel suchten. "Guten Tag", hatte Mutters Freundin Ella gesagt und Rosa über den Kopf gestreichelt. Ella kam fast immer nur sonntags, deshalb dachte Rosa, dass es ein Sonntag war, als winzige Staubpartikel im Sonnenlicht über der Hutablage tanzten und Ella ihr, was sie noch nie vorher getan hatte, über das Haar strich und Rosa sich ausnahmsweise mal Nike gegenüber bevorzugt fühlte. Die beiden Frauen verschwanden ins Wohnzimmer und flüsterten, so dass ein ungewohnter Klangteppich unter der sonntäglichen Idylle lag. Doch dann, während Nike Rosa gerade half den Koffer mit ihrer Puppe, einem weißen Kamm darin und dem einohrigen Hasen zu schließen, denn der Reisverschluss verklemmte sich immer wieder im Futter, kamen die vier Beine wieder zurück und blieben neben Rosa stehen. Und da hatte sie plötzlich das Gefühl, dass es um sie ging und schaute vorsichtig nach oben, mit eingezogenem Kopf, und kurz überlegte sie, ob sie irgendetwas ausgefressen hatte, und dann beugte sich Ella zu ihr hinunter und sagte sehr weich: "Wir beide müssen jetzt gehen." Rosa erinnert sich an die schwarzen Schuhe ihrer Mutter, die an den Seiten und an der Spitze so abgeschabt waren, dass das graue Leder durchblitzte. Und Nike rannte aus dem Zimmer, rannte einfach weg und die Mutter holte sie nicht zurück, sondern löste Rosas Hände von ihren Knöcheln. Dann nahm die Mutter sie in die Arme, ließ sie los, richtete sich auf und, als wäre das eine gute Erklärung sagte sie: " Der Vater ist an der Front und in der Schweiz wird es dir gut gehen." Für Rosa war es eine unangekündigte Abschiebung. Eine plötzliche Fahrt ins Ungewisse, während Nike zu Hause bleiben durfte, um der Mutter zur Hand zu gehen, wie es hieß. Später sagte dann Ella, dass es ein Nachmittag im Sommer 1942 war, ein Sonntag. Zu diesem Zeitpunkt war Rosa vier Jahre alt gewesen. Ella hatte einen Halbbruder in der Schweiz gehabt und so waren sie mit viel Geld, Mutter sagte später "all unserem Geld", über die Grenze gegangen. Fünf Jahre verbrachte sie in einem fremden, sonnigen, auf einem Hügel liegenden Dorf mit dem merkwürdigen Namen Zumikon.
Nike klebt den weißen Punkt auf den roten Spiegelrahmen und sagt: "Weißt du, dass Mutters einzige Angst darin bestand, dass jemand ihren Körper nackt sehen könnte? Obwohl sie schon über achtzig war?" "Nein", hätte Rosa gerne gesagt oder auch etwas von der Mutter erzählt. Aber Rosa weiß, dass in dem Moment, in dem sie beginnen würde etwas zu erzählen, Nike ihre Aufmerksamkeit zurückziehen würde, wie man die eigene Hand zurückziehen kann, bevor die andere sie berührt. Für einen Moment stehen ihre Gedanken still, werden geschluckt
vom geschäftigen Hin und Herlaufen der Schwester. Ihr eigenes Schweigen droht sie zu erdrücken. Sie tritt ohne nachzudenken an den Spiegel heran und sagt: "Entschuldige", in dem Bewusstsein, dass er seit etwa zwei Minuten Nike gehört, "vielleicht steht ja irgendwo ein Datum:" Sie hebt den Spiegel an. Aus den Augenwinkeln sieht sie Nike auf sich zulaufen. Plötzlich interessiert es Rosa, wie und wann ihre Mutter zu diesem Spiegel kam. Ihr fällt eine Reise ein, die ihre Mutter gemacht hatte. Da war der Vater ein Jahr tot. "Noch einmal New York sehen", hatte sie gesagt und war mit einem Schwung "I love N.Y." - T-Shirts zurückgekehrt. Der Spiegel ist schwer und Rosa braucht beide Arme, um ihn zu halten; sie erkennt noch die kleinen hell gebliebenen ovalen Formen der Familienbilder auf der Tapete und dann sieht sie etwas Braunes, ein Stück Papier mit Paketband auf der Rückseite des Spiegels befestigt. Rosa löst es ab, entwickelt es. "Guck", sagt sie erstaunt zu Nike, "ein Lieferschein. Picture - frames and decoration - Goodman. N.Y.C. Five mirrors / Fünf Spiegel." Die untere Kante des Lieferscheins ist noch eingeschlagen. Sie klappt sie vorsichtig auf und liest unter der Rubrik, notes: "Vielen Dank für Deine Großzügigkeit. Ich hoffe, die Spiegel sind gut angekommen - meine letzten Entwürfe. Vater leidet noch immer darunter, dass Du wieder fort bist. In großer Liebe Dein Sohn Paul."
Rosa steht an der Wand. "Ich muss mich setzen", denkt sie und, "wie im Film". Und dann überkommt sie eine übergroße, kindische Wut. "Wann ist das passiert?", schreit sie und zerrt an dem Spiegel, dass die Dübel aus der Wand springen. Ihr gehen sieben Jahre Pech durch den Kopf und, die hab ich schon abgeleistet. "Du hast es gewusst!" Rosa geht auf Nike zu, ein Mord wäre angebracht. Nikes ausdrucksloser Blick ruht auf Rosa: "Was erwartest du jetzt von mir? Du warst ja fein raus in der Schweiz oder wären dir der Hunger, die Bomben lieber gewesen?" Ja, will Rosa sagen und schreit: "Ihr habt mich weggeschickt. Ich wollte nicht fort!" Sie hätte gerne gesagt: das bisschen Hunger, die paar Bomben. Und saß wieder einmal in ihrer kleinen Zelle aus Scham - so etwas durfte nicht gedacht werden. Nach dem Krieg waren die Sätze zwischen den Eltern und der Schwester voll von Hunger und Bomben gewesen, dann ratterten sie herunter wie eiserne Gatter zwischen Rosa und ihre Familie. "Du hast das ja alles gar nicht miterlebt, du warst ja nicht dabei", sagte die Mutter immer wieder und machte es damit noch schlimmer. Nike steht, ein Zinnsoldat auf seinem Posten. Wie jemand, der aus dem Stand einen Salto macht, erzählt sie, dass die Mutter gelogen hatte, dass es ihnen nicht gut ging, dass sie schon ´42 wusste, woher weiß Nike nicht, dass alles noch viel schlimmer kommen würde. "Aber Ella konnte nur eine von uns mitnehmen, für eine konnten wir das Geld auftreiben. Du warst ja die Kleine. Mutter hatte sich für dich entschieden. Ich hätte sofort mit dir getauscht." Nikes Blick richtet sich auf ein anderes Leben und Rosa folgt dem Blick durch das Zimmer bis zur Wand, nicht weiter, während sie hört, von weit weg hört, dass die Mutter mit der Schwester ende ´44 nach Vorpommern, nach G. evakuiert wurde, aus Berlin heraus, weil die Bomben gar kein Ende mehr nehmen wollten, direkt Richtung Ostfront, "direkt in die Hölle", sagt Nike. Wie Mutter das Bisschen mitgenommen hatte in großen zusammengenähten Betttüchern und dass sie alles hinter einem Bauernhof auf der Flucht vor den Russen vergrub, auch ein paar Kinderbilder, den Schmuck und dass die Russen wahrscheinlich später alles wieder ausgruben, weil eben jeder diese Idee mit dem Vergraben hatte, sie also schon wussten, wo sie suchen mussten. So musste es gewesen sein, denn die Sachen waren weg, als sie sie holen wollten. "Der Bahnhof war voll von Menschen und kein Zug fuhr mehr und wir konnten nicht mehr fliehen, nur zu Fuß, und dann kamen die Russen." Nikes Stimme schlittert über brüchiges Eis und Rosa starrt gebannt und hofft, dass sie ein bisschen fliegen kann. "Sie hatten leichtes Spiel und einer nach dem anderen" sagt Nike, "und der Geruch und das Klatschen". "Ich konnte ihr nicht helfen". Nikes Augen lösen sich auf, sie atmet tief ein, als hätte ihr jemand die ganze Zeit den Hals zugedrückt und plötzlich losgelassen, das Luftholen einer Ertrinkenden, und Rosa hält die Spannung, will Nike weiterziehen, will nicht zusehen, wie sie untergeht. Nike dreht den Kopf, schaut zum Fenster, hört vielleicht die Schwalben, sieht vielleicht die vertrockneten Geranien draußen im Blumenkasten, "alles nützliche Anker", hofft Rosa und denkt, dass sie nicht gelernt hat, ihre Schwester zu trösten oder vielleicht kann sie auch nur deshalb nicht zu ihr gehen, weil jede Geste lächerlich klein wäre und dass man gerade in diesem Moment keine Gesten gebrauchen kann, weil vielleicht gerade eines kleinen angedeuteten Gefühls wegen die Staumauer unter diesem gewaltigen Druck birst, weil man mit dem bisschen Trost einen Riss in die Wand getrieben hat und es wohl keinen Trost gibt, der einem solchen Dammbruch standhalten könnte, vor allem nicht von ihr, von Rosa, die nicht dabei war und das alles gar nicht miterlebt hat. Plötzlich wendet sich Nike Rosa wieder zu und sagt, dass die Mutter schwanger wurde und alles versucht hätte, das Kind loszuwerden, dass Paul dennoch am 6. August ´46 in Berlin geboren wurde. "Und dann lernten wir auf unseren Hamstertouren Anton Goodman kennen, einen GI. Ich hatte immer vermutet, dass er Mutter liebte, genau wusste ich es nicht", sagt Nike zu sich selbst und etwas entspannt sich in ihr, als sie berichtet, dass er Paul mit in die Staaten nahm, als sein Einsatz beendet war, dass die Mutter Paul weggab, wegen der Schande und weil sie so wenig zu essen hatten und Vater noch nicht zurück war und weil Mutter sagte, dass es nie jemand erfahren dürfe. Auf keinen Fall Vater. Rosa will fragen: warum nicht ich? Und Nike sagt, als hätte Rosa die Frage tatsächlich gestellt: "Niemand!" Nikes plötzliches Schweigen legt sich über die Stühle, Tische, sie selbst, wie ein großes weißes Tuch und sie steht und Rosa steht und kann sich nicht rühren, will so stehen bleiben. Mehr Nähe, das spürt sie, kann es niemals zwischen ihnen geben. Draußen hupt jemand, wie man hupt, wenn man sagen will: "Wo bleibst du denn?" Und Nike geht zum Tisch, stellt die Thermoskanne in die Tasche zurück, packt die Tassen ein, geht zu der schweren Mahagonitür und drückt die Klinke hinunter. Rosa hört das leise Entweichen von Luft. Nike dreht sich um und sagt: "Bis dann". Sie will noch etwas mehr sagen, das spürt Rosa und meint, ein kleines überraschtes Lächeln um Nikes Mundwinkel zu sehen. Der Duft von frisch gemähtem Gras strömt ein, als Nike die Tür hinter sich schließt. Rosa bleibt vor dem Spiegel stehen und erinnert sich an die würzige Luft, die helle Sonne, die grünen Berge von Zumikon und eine Traurigkeit, die durch viele Schichten gesickert war, bis zu ihrem tiefsten Punkt und weiter direkt in ihr Fundament, sich dort absetzte und liegen blieb. "Das ist das Heimweh", hatte Ella gesagt und, "das geht vorüber". Aber das stimmte nicht. Das Heimweh blieb und zog sie durch ihr Leben. Eine Fata Morgana, nach der sie ihren inneren Kompass ausgerichtet hatte. Rosa nimmt den Hausschlüssel, öffnet die Tür und tritt aus der abgestandenen Kühle ihres Elternhauses heraus, hinein in einen sonnigen, warmen Werktag und hofft, dass ihre Mutter noch da ist, wenn sie sich jetzt auf den kleinen braunen Hocker neben sie setzt und die leisen Zyklen ihres Dämmerschlafs begleitet.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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