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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Sommerregen
© Steffi Lange
Seit ich denken kann, habe ich mir gewünscht, zwanzig Zentimeter größer zu sein. Nur so dachte ich, wäre das Leben zu meistern. Immer, wenn etwas schief lief, fehlten wohl im entscheidenden Augenblick diese wenigen Zentimeter. So konnte ich meine wirkliche Größe nie richtig zur Geltung bringen.
In Kindertagen glaubte ich fest daran, dass ich wachsen könne, wenn ich mich oft genug in einen kräftigen Sommerregen stellen würde. Oma hatte mir den Trick verraten. Als ich es das letzte Mal probierte, ging es gründlich schief. Ich erinnere mich noch, als war es erst gestern.
Tagelang hatte die Sonne ihre ganze Kraft aufgewendet, unseren Planeten auszutrocknen. Der Erfolg war überall sichtbar. Vor unserem Haus grünte normalerweise das ganze Jahr über ein herrlicher Rasen. Er war der Stolz von Oma und Opa Blasius aus dem ersten Stock. Sie pflegten dieses wenige Grün inmitten der Betonwüste unermüdlich. Zum Glück hatten sie nichts dagegen, wenn wir Kinder dort spielten.
Jetzt war nur noch unter dem dichten Haselnussstrauch etwas grün zu sehen. Sonst waren braun und grau die vorherrschenden Bodenfarben in der gleißenden Helle, mit der Frau Sonne uns und die Erde beglückte.
Den ständig herrlich hellen, blauen, wolkenfreien Himmel wollte nun langsam keiner mehr sehen. Die Großen redeten nur noch davon, wie gut ein paar Tropfen Regen wären.
Uns Kinder störte das Wetter überhaupt nicht. Nach der 3. Stunde Hitzefrei, dann den ganzen Tag draußen, was konnte eigentlich schöner sein? Als die Mutter meiner Freundin Tina gemeinsam mit meiner Mutter mal wieder über diese Hitze stöhnten, fiel mir das Märchen von der Regentrude ein.
" Bestimmt schläft die Regentrude mal wieder tief und fest", sagte ich zu Tina, als wir dieses Gespräch belauschten.
"Du alte Märchentante", meinte sie, doch ich wusste schon was als nächstes kam: "Kannst du mir das Märchen erzählen? Wir setzen uns unter den Haselnussstrauch, da ist es nicht so warm."
Natürlich tat ich ihr den Gefallen, denn im Märchenerzählen war ich große Klasse. Wenn ich sonst als die "ewige Kleinste" nicht immer die Beachtung fand, die ich gern hätte - es sei denn, ich war mal wieder die Anstifterin für allerlei Blödsinn - wenn ich erzählte, wollten alle zu mir kommen. Und so war es auch diesmal.
Zuerst waren wir mit dem ständigen Begleiter meiner Freundin, ihrem kleinen Bruder Andy, nur drei. Die anderen Kinder hingen träge auf dem Klettergerüst herum. Als sie merkten, wohin wir gingen, hörte ich schon: "Oh die gehen in die Märchenecke, da sollten wir auch hin, außerdem ist es da schön schattig."
So wurde es ziemlich eng im Schatten doch alle lauschten gebannt, wie Trine und Andreas es schafften, den Feuermann zu überlisten und die Regentrude mit ihrem Spruch aufzuwecken, damit die Menschen wieder Wasser hatten und die beiden heiraten konnten.
Zum Ende des Märchens fing die blonde Lisa an, den Spruch für die Regentrude vor sich hin zu flüstern. Sie kam mir vor wie die Trine aus dem Märchen. Sie war genauso groß gewachsen und als sie jetzt aufstand schüttelte sie ihre langen blonden Haare. Es sah aus wie ein goldener Wasserfall.
Ich half ihr aus, wenn sie stockte und dann fiel einer nach dem anderen ein. Bald ertönte es in immer lauterem Chor:
" Dunst ist die Welle
Staub ist die Quelle
Stumm sind die Wälder
Feuermann tanzet über die Felder
Nimm dich in Acht
Eh du erwacht
Holt dich die Mutter
Heim in die Nacht"
Immer wieder und immer lauter wiederholten wir die Zeilen. Wir saßen auf unseren Hacken und schlugen uns dabei auf die Schenkel. Doch das Ergebnis war noch nicht zu sehen. Unvermindert brannte die Sonne auf uns nieder.
Plötzlich sprang Conni, unser Oberclown, aus der Hocke, hüpfte wild herum, und rief: "Ich bin der Feuermann und halte euch fest hier, damit ihr die Regentrude nicht findet. Es soll immer so heiß und sonnig bleiben. Hui Hui Hui !!!" Mit Riesensprüngen umkreiste er uns wild.
Da sprangen auch wir auf: "Los! Wir vertreiben den Feuermann und gehen die Regentrude wecken." Wir brüllten unseren Spruch immer und immer noch lauter. Das Echo zwischen den Häusern verstärkte das Unheimliche dieses Zauberspruches.
Gleichzeitig versuchten wir, den flinken Feuermann zu umrunden, zogen immer engere Kreise um ihn. Conni - Feuermann ließ sich davon nicht beeindrucken. Mit verrückten Sprüngen und Verrenkungen bedrohte er immer einzelne, die dann ängstlich zurückwichen oder wild auf ihn zu sprangen, bis das ganze zu einer lauten, wilden Jagd ausartete.
Wir rannten vorneweg und schrieen: "Auf zur Regentrude" und der Feuermann raste mit weiten Sprüngen und schrillem Johlen hinter uns her, um uns zu fangen und seine Herrschaft zu behalten: " Ich kriege euch und ihr bleibt hier!"
So wetzten wir quietschend und schreiend auseinander und wieder zusammen und um ihn herum und tobten so lange, bis wir völlig außer Atem wieder unter den Schattenbaum fielen. Doch auch hier wurden wir von Conni-Feuermanns wildem Toben immer wieder aufgescheucht.
Einige genervte Stimmen aus den umliegenden Fenstern, die sich Ruhe ausbaten, konnten wir leider wegen des Lärms nicht hören.
Als allerdings Tinas Mutter ganz leise fragte, ob sie uns eine Wanne voll Wasser lassen sollte, ehe sie zur Arbeit gehen musste, waren wir sofort Feuer und Flamme und halfen ungefragt mit.
Sie hatte immer ein Herz für uns und sofort erkannt, was wir bei diesem Wetter am nötigsten brauchten. In Windeseile war die Wanne aus dem Keller geholt und voll Wasser gelassen. Wir sprangen beglückt hinein. Toll diese Abkühlung. Wir spritzten und tobten ohne müde zu werden.
Leider gab es rings um unseren Spielplatz Erwachsene, die wohl vergessen hatten, dass auch sie mal fröhliche Kinder waren - oder vielleicht durften sie es nie sein?
Sie mussten unbedingt etwas tun gegen diese Rasselbande aus lauten, unbekümmerten, pudelnassen Kreischmonstern in Badehosen, die doch nichts als pure Lebensfreude verbreiteten.
Am meisten störten wir die grimmige Frau Kruse aus Parterre. Obwohl sie sich sonst kaum auf ihren schlimmen Beinen vom Sofa zum Fenster schleppen konnte, um uns anzumeckern, hatte sie sich doch tatsächlich die zwei Treppen hoch gequält, um bei meiner Mutter zu petzen.
Fürchterlich schnaufend, aber triumphierend nahm sie dann wieder ihren Ehrenplatz am Fenster ein, um ja nichts von dem Strafgericht zu verpassen, das nun auf uns niederprasselte.
Na gut. Erwachsene sind sowieso immer im Recht und halten zusammen, was können wir da schon tun.
Brav, wenn auch leise murrend, trockneten wir uns ab und jeder verschwand erst einmal bei sich zu Hause, um sich wieder "ordentlich anzuziehen". Als alle zurück waren, kam unsere Stunde, denn so klug, wie sie glauben, sind die "Großen" nun auch wieder nicht.
Meine Mutter hatte harsch den "Befehl erteilt", die Wanne ordentlich wegzuräumen und vorher mit dem Wasser die dürstenden Pflanzen zu gießen. Das brachte neben dem nicht eben leisen Spaß draußen beim Verteilen des Wassers, für uns die unvergleichliche Chance zur Revanche.
Die nun zwar leere, aber nicht eben leichte Zinkwanne galt es, in den Keller zu bringen. Natürlich mussten alle mit anfassen - Hilfsbereitschaft ist doch Ehrensache. Das Treppenhaus hallte wider von dem ungewollt lauten Poltern, obwohl wir uns immer wieder flüsternd ermahnten, leise zu sein.
"Wir räumen jetzt ganz brav die Wanne weg. Sie haben doch vorhin selbst gehört, was meine Mutter gesagt hat, Frau Kruse. Also müssen sie sich nicht wieder auf den beschwerlichen Weg nach oben machen," winkte ich mit einer Hand, als die alte Meckertante ihren Kopf aus der Tür steckte. Sie zog ihn auch gleich wieder ein.
Doch kaum hatte ich das gesagt und wir die Wanne mühevoll bis an den Rand der Kellertreppe gewuchtet - da ließ Conni los.
Die schwere Wanne konnten die anderen dann auch nicht mehr halten. Wie ein Erdbeben hörte es sich an, als sie polternd und ratternd mit großem Gescheppere erfreulich laut dröhnend die Kellertreppe hinunterraste.
Hui ! So schnell konnten wir gar nicht hinterher hasten.
An Aufhalten war natürlich nicht zu denken, die Wanne war viel zu schnell für uns. Aber laut und herzhaft lachen konnten wir, als wir das wütende Gesicht von Frau Kruse über dem Treppengeländer sahen.
Verhalten kichernd feierten wir unsere dicke Freundin, als ungeschlagene Siegerin des Kellertreppenrennens bis ein unverkennbar unmutiges "Ruhe" aus den oberen Etagen dem ein jähes Ende bereitete.
Unter Kichern und Prusten verstauten wir nicht ganz ohne Wehmut unsere Spielkameradin unter der Treppe und verabschiedeten uns mit einem `Bis bald`, ehe wir wieder ins Freie stürmten, um in etwas größerer Entfernung von den Spielverderbern weiter zu toben.
Irgendwann wurden auch die Wildesten von uns müde oder gingen lieber hoch, ehe die Eltern wegen der Hausaufgaben riefen. Schließlich saß ich allein mit Tina und Andy im Hausflur um der Hitze zu entkommen und wir spielten knobeln.
Doch die Regentrude hatte wohl etwas von unserem Rufen gehört. Und da ja selbst Conni-Feuermann ermattet in seinem Zimmer verschwunden war, konnte sich die Sonne ungehindert einige Schleierwolken vor ihr Gesicht ziehen. Ein kleiner Windhauch brachte die zu Staub vertrocknete Erde zum Tanzen.
Wir hatten unser Würfelspiel unterbrochen und schauten diesem geheimnisvollen Treiben fasziniert zu. "Es sieht aus, als ob die Regentrude ihre langen blonden Haare schüttelt. So wie Lisa vorhin, findest du nicht auch?" "Ja" meinte Tina: "aber ich muss jetzt hoch, weil Andy zu ungemütlich wird, wenn ich ihn nicht rechtzeitig ins Bett bringe."
"Ja bis dann." Wir schüttelten beide - wie bei den Erwachsenen abgeschaut - betrübt die Köpfe, ob der schweren Last. Dabei konnten wir uns kaum halten vor Lachen. Winkend stiegen Andy und Tina die Treppen rauf.
Als sie weg waren, hielt mich nichts mehr in der Tür. Mein Geheimnis kannte nicht mal Tina und eine so günstige Gelegenheit zum Wachsen kam sicher so schnell nicht wieder.
Ich trat in den Wind hinaus und ließ mich richtig durchpusten. Da! Ich spürte schon die ersten feinen Tröpfchen, gleich musste es richtig losgehen. Der Zauber konnte beginnen.
Endlich! Als wäre die riesige Schleuse, die das Wasser allzu lange zurückgehalten hatte, mit Gewalt aufgerissen worden, rauschte der erfrischende Regen auf die Erde nieder. Ich breitete meine Arme aus und gab mich dieser erlösenden Wasserflut ganz hin. Jetzt musste es klappen, wenn ich nur lange genug hier draußen bleiben konnte.
Ich freute mich über diese warme Feuchtigkeit; das war eigentlich noch viel besser als Baden. Ich hüpfte auf dem tropfnassen Rasen herum. Es patschte unter meinen Füßen, der Schlamm spritzte nach allen Seiten. Ich war klitschnass und selig, hatte die Augen geschlossen und drehte mich immer schneller um mich selbst. Es gab nichts Herrlicheres.
Ich drehte mich und drehte und lächelte der Sonne zu, die zwar kaum noch hinter den Wolken zu sehen war und doch leise zurückzulächeln schien.
Doch was war das? Mein glückliches Kreiseln wurde mit einem jähen Ruck beendet. Ich riss die Augen auf und konnte nur noch schreien. Etwas unheimlich Großes, Flattergraues hielt mich in seinen Fängen, schüttelte mich wie wild und brüllte auf mich ein.
Durch mein eigenes Schreien konnte ich natürlich nichts verstehen, es gab nur diese riesige, graue, ungeheuerliche Angst.
Als ich dann doch einmal Luft holen musste, hörte ich die wütende Stimme meiner Mutter und erstarrte - ungläubig, fassungslos.
Dieses `Ungeheuer` war meine Mutter?
Na sicher - in ihrem alten grauen Regenmantel.
Ich fiel förmlich in mich zusammen.
Hätte sie nicht immer noch meine Arme umklammert, wäre ich wohl im Boden versunken.
Oh Gott! Der Schreck war schlimmer als jede eiskalte Dusche.
Als ich wieder ein bisschen zu mir gekommen war, dachte ich an den Spruch für die Regentrude. Die letzten zwei Zeilen: "... eh´du´s gedacht, holt dich die Mutter heim in die Nacht", hattest Recht Trine. Nun, das war´s dann!
Die Moralpredigt kann sich sicher jeder vorstellen. Ich trottete schlotternd nach oben, musste mich umziehen und einmummeln und als ich dann wieder aufgewärmt war, die Treppe von oben bis unten von meinen Tropfspuren reinigen. Das freundliche Getue von Frau Kruse musste ich auch noch ertragen.
Und was war seitdem?
Ich kann mich an keinen vergleichbar herrlichen Sommerregen erinnern und bin, wie gesagt, nicht besonders groß. Allerdings auch heute, zumindest dem Alter nach bin ich ja nun erwachsen, kann ich einem heftigen, warmen Sommerregen niemals widerstehen.
Vielleicht sollte ich mal Urlaub im Regenwald machen...
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.