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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Gekappte Verbindung
© Stephan Sigg
Winter. Bis zu jener Nacht hatte ich ihn seit meiner Kindheit an über alles geliebt. Die Kälte, den Schnee und die Dunkelheit. Düsten manche Leute gerade in diesen Tagen gen Süden oder in die Tropen, machte ich es mir zu Hause gemütlich. Kerzen im ganzen Haus, täglich mehrere Kannen heissen Tee und ein dicker Krimi. Das hatte sich nicht geändert, als Mona zur Welt kam.
Im Gegenteil. Mit ihr wurde der Winter noch intensiver, da ich mit ihr lange Schlittenfahrten unternehmen oder Eislaufen gehen konnte. Damit verbrachten wir die Tage, wenn Daniel geschäftlich unterwegs war. Und das war er oft.
Hätte es mir hier draussen nicht so gut gefallen, hätte ich ihm schon längst gefragt, warum wir dieses abgelegene Haus gekauft hatten "Im Zentrum der Pampa", wie es meine Schwester einmal genannt hatte. Sie hatte Recht. Wir wohnten abgelegen. Für manche klang das total langweilig oder vielleicht sogar beängstigend. Aber ich liebte unser Haus über alles. Hier gab es keine Nachbarn, die einen durch die Gardinen beobachteten, mitten in der Nacht das Quartier mit Discolautstärke beschallten oder am Zaun
einen Streit anzettelten.
Ich stellte eine Pfanne mit Wasser auf den Herd. Ich hatte Lust auf einen Tee mit Orangenaroma. Mona sass am Küchentisch und malte. Im Sommer würde sie eingeschult werden. Zum Glück fuhr der Schulbus bis hier raus. "Wann kommt Papa wieder?" "Morgen Abend." "Darf ich heute Abend eine Videokassette anschauen?" Ich seufzte. Mich störte es, wenn Mona zu lange vor der Glotze hing. Sie sollte ihre eigene Kreativität entwickeln und sich nicht dauernd berieseln lassen. Aber heute hatte sie
sich wirklich genug kreativ betätigt.
Ich nickte ihr zu. "Aber um acht bist du im Bett! Wir wollen morgen früh raus." Ich blickte zum Fenster hinaus. Schneeflocken wirbelten auf die Erde.
Der Wetterbericht hatte Schneefall für die ganze Nacht vorhergesagt. Genau die richtige Atmosphäre, um es sich zu Hause gemütlich zu machen. Während der Teebeutel das Leitungswasser in ein angenehm riechende Flüssigkeit verwandelte, schaute auf die Uhr. Bald war es Zeit fürs Abendbrot. "Ich mach heute eine Nudelsuppe und Toastbrot." "Mit viel Marmelade?" Ich lächelte Mona an. Von Marmelade konnte sie nie genug kriegen. Ich musste morgen im Supermarkt unbedingt einige Gläser mitnehmen.
Das Telefon dudelte los. Meine Mutter. Ja, es war alles klar bei uns. Alle gesund, munter und so weiter. Ich liess das Spiel rückwärts laufen. Auch sie bejahte alle Fragen. "Schneit es bei euch auch so?" Ich blickte hinaus. Es war mittlerweile stockfinster geworden. "Bei uns sind die Strassen total eingeschneit." Ich verkniff mir eine bissige Bemerkung. Von eingeschneiten Strassen sprach meine Mutter bereits bei einem Millimeterflaum. Sie berichtete mir von ihrer neuen Frisur, die eine Spur
zu blond war, aber sonst total modern. Ich reichte den Hörer an Mona weiter. Sie plauderte über ihre neuen Zeichnungen. Dann wanderte das Telefon wieder in meine Hand.
"Einen schönen Abend noch!", meinte ich und verabschiedete mich. Ein Blick auf meine Armbanduhr. "Ich fang dann mal mit dem Abendessen an." Mona drückte mir einen Zeichentrickfilm in die Hand. Auf dem Cover grinste mich ein grüner Marsmensch an. Ich fütterte den Videorecorder und warf ihr die Fernbedienung zu. "Aber nicht zu laut!"
Ein weiterer Topf mit Wasser auf dem Herd. Es würde ein paar Minuten dauern, bis das Wasser siedete. Ich stieg die Treppe hinauf. Rote Herzen blinkten auf dem Bildschirm. Mit einem Klick auf die Tastatur löste sich der Bildschirmschoner auf. Ich checkte meine Mails. 10 Spam-Nachrichten aus Übersee, 1 Nachricht von meiner Schwester aus Berlin. Sie erzählte von ihren Weekendplänen. Ich betätigte die Return-Taste. Während ich überlegte, wie lange ihr letzter Besuch zurücklag, vernahm ich einen Knall. Er war nicht
sehr laut. Aber es knallte. Sofort wurde der Bildschirm schwarz, das Licht erlosch. Einige Augenblicke suchte ich die Schuld bei mir. Hatte ich eine falsche Taste gedrückt? Hatte ich aus Versehen ein Kabel aus dem Stecker gezogen? Aber dann würde ich nicht in einem völlig finsteren Zimmer hocken.
Auch der Fernseher war nicht mehr zu hören. Der Strom war weg! Voller Zuversicht blieb ich sitzen. Bestimmt funktionierte in ein paar Sekunden wieder alles einwandfrei. Wir lebten ja im 21. Jahrhundert. Da waren solche Pannen eine Lappalie.
Wenn bloss der Computer den Absturz ohne Nebenwirkungen überstanden hatte.
Seine Kondition liess sonst schon zu wünschen übrig. Ich trommelte auf den PC-Tisch. Wo blieb die Energie? Ich wollte doch noch ein Buch ordern. Wenn die Bestellung nach 18.30 Uhr eintraf, würde man sie heute nicht mehr bearbeiten. Und mit meinem aktuellen Thriller war ich schon bald fertig.
"Mama? Was ist? Mama?" Ich fuhr hoch. "Mona? Ich komme gleich, keine Angst." Mit ausgestreckten Armen tastete ich mich die Treppe hinunter. "Mama, Mama", rief Mona, "was ist passiert?" Mit einem Blick auf Fernseher und Videorecorder erkannte ich, dass das ganze Haus ohne Strom sein musste. Lag das Problem bei uns? "Wahrscheinlich ist eine Sicherung durchgebrannt", glaubte ich und nahm eine der brennenden Kerze in die Hand, "das haben wir schnell wieder behoben."
"Der Fernseher ist aus!" "Keine Angst, er geht gleich wieder. Bleib ja auf dem Sofa sitzen. Ich bin sofort zurück."
Die Dunkelheit machte mir nichts aus. Ich kannte mein Haus in- und auswendig. Die Kerze warf gespenstische Schatten an die Wand. Stufe um Stufe näherte ich mich dem Keller. Im letzten Sommer war auch mal eine Sicherung herausgefallen. Daniel hatte zu viele Ventilatoren eingeschaltet. Ich hielt die Kerze gegen den Sicherungskasten und kontrollierte alle Schalter.
"Komisch", entfuhr es mir. Da war nichts defekt. Alles war so wie es sein musste. Aber warum war denn der Strom weg? War eine Stromleitung kaputt gegangen? Wegen dem Schnee? War irgendwo ein Baum umgestürzt? Bestimmt würden sie den Schaden gleich beheben.
Ich stieg die Treppe hinauf. "Es geht nicht! Es geht nicht!" Mona sah alles andere als begeistert aus. "Der Film war gerade so spannend! Monto-Bello hat gerade die Gruffinis befreit!" Ich seufzte. "Ich glaube, die Stromleitung ist kaputt gegangen - keine Angst, du kannst den Film sicher bald weitergucken." Ich setzte mich neben Mona und nahm sie in den Arm. So eine vorübergehende Störung konnte vorkommen. Das war vor einigen Jahren schon einmal passiert. Nach zwei, drei Minuten hatte
alles wieder einwandfrei funktioniert. Kein Grund, in Panik zu geraten. Schweigend wartete ich auf das erlösende Knacken. Aber nichts geschah. Normalerweise hätte ich mich jetzt im Radio oder im Internet über die Störung informiert. Aber was, wenn weder das eine noch das andere in Betrieb war? Ich überlegte, ob es irgendwo im Haus ein batteriebetriebenes Radio gab. Fehlanzeige. Das letzte hatte Mona im Sommer auf den Boden fallen lassen. "Mir ist langweilig!", verkündete Mona. "Sollen wir miteinander
singen?" "Keine Lust." Ich streichelte ihren Kopf. "Papa anrufen!" Das Telefon! Sollte ich mich doch erkundigen, was los war? Vielleicht wusste die Polizei etwas. Ich tippte die Notrufnummer ein. Doch auf das Freizeichen wartete ich vergebens. Ich versuchte es nochmals. Das Telefon musste doch funktionieren. Den Akku hatte ich erst gestern neu geladen. Enttäuscht legte ich das Telefon auf den Tisch. Die Basisstation war ausser Betrieb, die war auf Strom angewiesen.
Ohne Basisstation, keine Verbindung in die Aussenwelt. Dann blieb uns nichts anderes übrig, als weiter zu warten und Däumchen zu drehen.
"Ich hab Hunger." Mona sah mich bittend an. "Ok, gehen wir in die Küche." Ich nahm eine Kerze in die eine und Mona an der anderen Hand. "Schön vorsichtig, dann passiert nichts." Mona setzte sich an den Küchentisch und ich überlegte, mit was ich unsere Teller und unsere Bäuche füllen sollte.
Der Toaster schied aus. Die Suppe konnte ich vergessen. Das Wasser war eiskalt. Ich zog zwei Joghurts aus dem Kühlschrank. Auch ihn hatte man mitten aus dem Leben gerissen. Das Brummen war weg, genau so das Licht, das sich sonst beim öffnen automatisch einschaltete. Ich behalf mir mit einer Kerze. Zum Glück war es draussen so kalt, sonst hätte ich mir bald Sorgen um die Gefriertruhe machen müssen. Ich stellte die Kerze auf den Tisch. Das letzte Candlelightdinner mit Daniel war eindeutig romantscher gewesen. "Die
Toastbrote müssen wir halt ungetoastet essen", erklärte ich und beschmierte eine Scheibe mit Butter. "Keine Ahnung, bis wann die das Problem behoben haben." "Und wenn es ein böser Mann war?" Ich lachte auf. "Ein böser Mann?
Nein, das war der Schnee." Mona schien nicht überzeugt. "Vielleicht will er uns überfallen." Keine Ahnung, wie sie auf solche Ideen kam. In Kinderbüchern standen solche Märchen wohl kaum.
"Schmeckt nicht so gut." Ich konnte ihr nicht widersprechen. Getoastet waren die knuspriger. Aber ich machte gute Miene zum bösen Spiel. Als Mutter musste ich doch ein Vorbild sein! Und unsere Situation hätte wirklich schlimmer sein können. "So etwas erlebt nicht jeder! Oma wird staunen, wenn du ihr das erzählst." Schlimm war es nicht, aber mühsam. Ich fühlte mich eingeschränkt, behindert, dieser Verbindung völlig ausgeliefert, dieser Verbindung zum Stromnetz, zur Energiezapfsäule, dieser
Verbindung, die jetzt an irgendeiner Stelle, kein Ahnung, ob bei uns in der Nähe, gekappt worden war. "Früher sind die Leute ganz ohne Strom ausgekommen und es war für sie die natürlichste Sache der Welt", sagte ich zu Mona. "Sie hatten keine Maschinen, sondern machten alles von Hand. Die Kleider wuschen sie im Fluss, statt Telefonen verwendeten sie Brieftauben. Und das Essen kochten sie auf dem Feuer." "Auf dem Feuer?" Monas Augen leuchteten auf. "So cool!" Ich steckte
mir das letzte Toaststück in den Mund. Cool würde ich das nicht nennen, eher anstrengend oder sehr zeitaufwändig. Ich wollte mir jetzt gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn ich vor jeder Mahlzeit zuerst ein Feuerchen entfachen bräuchte. Oder die schmutzige Wäsche zum nächsten Fluss hinunter tragen und von Hand einweichen. Und die verderblichen Lebensmittel im dunklen Keller.
Zwei Stunden waren schon vergangen. Nichts hatte sich geändert. Wir sassen wieder im Wohnzimmer und ich versuchte, Mona ein paar Stegreifmärchen zu erzählen. Warum brauchten die so lange? Langsam begann es frisch zu werden im Haus. Ich zog Mona einen dicken Pullover an und holte die Decke herunter.
Sie wollte nicht alleine in ihrem Zimmer bleiben. Ich hatte Lust auf einen heissen Tee. Aber woher das heisse Wasser nehmen? Aus verschiedenen Schubladen kramte ich weitere Kerzen hervor und verteilte sie im Raum. Jetzt war es etwas heller. Unter normalen Umständen hätte ich das ganz gemütlich gefunden. Aber so? Ich beschloss, im Kamin ein Feuer zu entfachen. Dann wurde es wenigstens im Wohnzimmer wieder warm. Ich zog die Holzschachtel hervor. Damit würde ich nicht weit kommen. Drei dünne Scheiten waren eindeutig
zu wenig. "Warte hier auf mich und pass auf die Kerzen auf", mahnte ich Mona und schlüpfte in meine dick gepolsterte Winterjacke. Wenn ich Wärme wollte, musste ich mich vorher wohl oder übel in die Eiseskälte begeben. Wenn wir wenigstens ein Möbelstück im Haus gehabt hätten, dass wir schon lange loshaben wollten. Aber unsere Einrichtung war mir zu kostbar.
Schnee peitschte mir ins Gesicht. Ich fuhr erschrocken zurück. Es fühlte sich an, als ob mir jemand tausend Nadeln ins Gesicht stossen würde. Bis zum Schuppen waren es zehn Meter. Ich kam kaum vorwärts. Die kalte Luft bohrte sich in meine Lungenflügel. Eins war sicher: Ein zweites Mal ging ich heute nicht mehr raus. Meine Hände zitterten. Ich hätte Handschuhe überstreifen sollen. So schnell wie möglich stopfte ich Holzscheiten in die Schachtel und kämpfte mich zum Haus zurück. Mona erwartete mich schon ungeduldig.
Ich gönnte mir keine Pause. Zuerst musste hier drinnen das Quecksilber im Thermometer nach oben steigen. Ich stapelte ein paar Scheiten übereinander, klemmte zerknülltes Zeitungspapier dazwischen und entfachte ein Streichholz.
Wenn das nur brannte! Daniel hatte es viel zu feucht gelagert. Warum hatte er den Vorrat im Haus nicht aufgefüllt? Das Zeitungspapier loderte auf.
Zaghaft bissen die Flammen ins Holz. Ich hielt den Atem an. Doch sie waren zu schwach. Das Holz verzog keine Miene. Ich fluchte auf. Mist. Nach drei weiteren Versuchen gab ich auf. Es war sinnvoller, wenn wir uns stattdessen zwei weitere Pullover und dicke Socken überstreiften. Mona wollte schlafen.
Ich deckte sie zu und trat ans Fenster. Da draussen spielte sich das reinste Schneechaos ab. Flocken wirbelten gegen das Fenster. Ich versuchte es nochmals mit dem Telefon. Kein Ton. Es war tot. So tot wie die Heizung, der Kühlschrank, der Computer und der Fernseher. Mir war langweilig. Was sollte ich tun? Zum Schlafen war ich zu aufgedreht. Zum Lesen hatte ich zu wenig Licht. Ins Internet konnte ich nicht, mit Freundinnen telefonieren noch weniger. Ich dachte an die Schmutzwäsche im Keller. Sie lag bereits in
der Wachmaschine, ich hatte sie über Nacht waschen lassen wollen. Das konnte ich wohl vergessen. Ob bis zum Frühstück wieder alles funktionierte? Ich bezweifelte es. Aber ich hatte wirklich keine Lust auf eine weitere Scheibe weichen Toast. Im Kühlschrank wartete ein leckerer Frischbackzopf. Das hätte unser Frühstück werden sollen.
Meine Augen fixierten am Fernseher den Punkt, der sonst Rot blinkte. Er würde mir anzeigen, wann die Normalität wieder zurück gekehrt war.
Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich völlig aufgeschmissen war. Das Ganz war ja eigentlich bloss eine Lappalie: Irgendwo war das Stromnetz unterbrochen worden. Nicht mehr, nicht weniger. Aber diese Lappalie war verantwortlich für unsere Misere. Sämtliche Geräte in meinem Haus waren in die Gruft der Bedeutungslosigkeit gestürzt. Vom Herd bis zum Fön - alle im Betriebsurlaub. Selbst wenn sie es vielleicht gewollt hätten, hatten sie keine Möglichkeit, Monas und mein Dasein erträglicher zu machen. Weder hatte ich
die Möglichkeit, mit der Aussenwelt Kontakt aufzunehmen, noch gab es für mich eine Alternative. Natürlich hätte ich weiter versuchen können, das Feuer zum Brennen zu bringen. Danach hätte ich darauf einen Topf Wasser erhitzen können. Wäre ich als Kind bei den Pfadfindern gewesen, hätte ich mir jetzt sicher irgendwie zu helfen gewusst. Irgendwann hatte ich alles tausend Mal von hinten und vorne durchdacht. Das beste war wirklich, wenn ich mich wie Mona ins Sofa kuschelte und die Augen schloss. Doch auf den Schlaf
wartete ich vergebens. Ein paar Stunden wälzte ich mich hin und her.
Nach und nach erloschen die Kerzen.
Hinter den Wolken graute langsam der Morgen. Noch immer Schneefall. Ich streckte meine Glieder. Mona schlief noch tief. Sämtliche Kerzen waren aus.
Die meisten ganz heruntergebrannt. Das Wohnzimmer war eiskalt. Aber ich hatte keine Lust, mich in eine weitere Kleiderschicht zu zwängen. Ich blickte nach draussen. Schnee so weit das Auge reichte. Eine endlos weisse Fläche. Selbst die Strasse war nicht mehr zu erkennen. Vergeblich suchte ich den Fernseher nach dem roten Standby-Licht ab. Hier war noch immer alles tot. Und wir zwei wahrscheinlich bald erfroren. Ich kramte aus dem Zeitungsständer sämtliche Zeitschriften und Zeitungen hervor. Dann machte ich halt
ein kleines Feuer aus Papier. Aber etwas Wärme brauchte ich jetzt einfach. Man erkennt die Bedeutung erst, wenn man es nicht mehr hat, fiel mir ein und ich lächelte gequält.
"Was machst du?" Mona rieb sich die letzten Salzkörner aus den Augen. "Ein kleines Feuer!" "Ist der Strom noch immer nicht da?" Ich schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung, was da los ist." Bevor ich den Stapel entfachte, holte ich den Wasser-Topf von gestern. Ich würde ihn darüber halten und hoffen, dass meine amateurhafte Konstruktion zum Erfolg führte. Ich zog das Streifholz über den braunen Streifen. Es zischte. Das Papier loderte auf.
Mona schaute interessiert zu. Schnell hielt ich die Pfanne über die jungen Flammen. Doch das war sinnlos. Mein Feuer verglühte viel zu schnell, als dass es das Wasser auch nur annährend in meinen ersehnten Zustand versetzt hatte. Den heissen Tee konnte ich mir abschminken. Wenigstens wurde es jetzt endlich hell.
Mona kehrte von der Toilette zurück. "Es kommt kein heisses Wasser! Nur eiskaltes, obwohl ich den Schalter auf Rot gedreht habe!" Miteinander stiegen wir die Treppe hinauf. Wenn wir schon keinen Strom zur Verfügung hatten, dann mussten wir uns halt anderwärtig beschäftigen. Wir legten uns in ihr Bett. Mona reichte mir ein Buch und ich versuchte trotz klappender Zähne voller Engagement vorzulesen. Mona drückte sämtliche Teddiebären an sich. Sie schien in eine andere Welt abgetaucht zu sein. Ich wünschte,
mir wäre das auch gelungen. Plötzlich liess uns ein Geräusch aufhorchen. "Da kommt jemand!", begriff Mona vor mir. Ich rannte zum Fenster und hielt Ausschau. Am Horizont entdeckte ich einen Schneeräumwagen, der immer grösser wurde. Ich atmete auf. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Ich riss das Fenster auf und winkte aufgeregt. "Hallo?" Der Wagen kam vor unserem zugeschneiten Parkplatz zum Stillstand. Die Scheibenwischer bewegten sich unruhig auf und ab. Der Fahrer sprang heraus. "Ich
bin ja so froh, dass Sie kommen!" "Sie sind ja mächtig eingeschneit worden", rief er zu uns herauf.
Er blickte sich um. "Und es schneit immer noch." "Warum ist denn der Strom ausgefallen?" Er zuckte die Schultern. "Ein paar Bäume sind halt umgestürzt.
Kein Wunder, bei diesem Sturm gestern. Und dann diese Masse an Schnee." Er hustete. "Es wird wohl noch ein paar Stunden dauern, bis das wieder einwandfrei funktioniert." Mein Gesicht verzog sich zu einer enttäuschten Grimasse. Das waren ja heitere Aussichten! Ich hatte heute einkaufen wollen.
"Ist die Strasse frei?" Er schüttelte den Kopf. "Nicht so hastig, junge Frau. Sämtliche Fahrzeuge sind im Einsatz, aber das hier ist nicht die einzige Strasse! Aber bei den momentanen Verhältnissen würde ich sowieso nicht Ihren Wagen benutzen. Die Fahrbahn ist total vereist, ehe der Streuwagen vorbeigekommen ist, haben Sie keine Chance." Er winkte mir zum Abschied mit seiner roten Mütze und stieg wieder in sein Fahrzeug. "Ich muss weiter. Sie sind ja nicht die einzige hier draussen. Einen
schönen Tag!" Ich verdrehte die Augen. Unter schön verstand ich etwas Anderes. Ich schloss das Fenster. Es brauchte nicht noch mehr Kälte hereinströmen.
"Wann wird das wieder ganz?" "Es dauert sicher nicht mehr lange." Wir legten uns wieder ins Bett. "Weißt du was? Wir spielen jetzt ein tolles Spiel." Mona klatschte begeistert. Ich erklärte ihr die Regeln. "Wir überlegen uns, was wir als erstes machen, wenn der Strom wieder funktioniert." Sie dachte ein paar Augenblicke nach. "Einen Kakao!" "Ich lass mir ein heisses Bad ein.
" Mona nickte. "Ich auch - und dann schaue ich den Film fertig!" "Ich mach uns eine heisse Suppe und schalte Musik ein." "Ich mache alle Lampen an." Ich runzelte die Stirn. "Die Lampen? Es ist doch jetzt nicht mehr dunkel." Sie zuckte mit den Schultern. "Egal, ich hör mir eine Kassette an!" Ich nickte. "Und dann rufen wir miteinander Papa und Oma an und erzählen, was heute Nacht passiert ist." "Von diesem blöden Strom! Dass wir fast erfroren
sind." Und dass mir zum ersten Mal klar wurde, wie sehr unser Alltag auf Strom angewiesen war. Dass so ein kleiner Unterbruch unser ganzes Leben ins Chaos stürzte. Dass wir diesem Ding total ausgeliefert waren, dieses unsichtbare Ding, das nur in der richtigen Dosierung die gewünschte Wirkung erzeugte, das uns ständig umgab und fast jeden Lebensbereich beeinflusste.
Ich würde ihm in Zukunft bestimmt grössere Aufmerksamkeit schenken. Wir konnten wirklich froh sein, dass es ihn gab. Das hatte sich in den letzten Stunden mehr als deutlich gezeigt.
Mona breitete ihre Memorykarten auf der Bettdecke aus. Ich nahm mir vor, mich ganz fest zu konzentrieren. Wir waren so ins Spiel vertieft, dass wir fast gar nicht bemerkt hätten, wie bei ihrem Kassettenrekorder auf einmal das rote Licht aufleuchtete.
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.