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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Auch ein Vogel mit gebrochenen Flügeln kann wieder fliegen lernen

© Melanie Regenscheit


Der Anruf kam völlig überraschend.
Ich war wie immer früh aufgestanden und saß, in eine Decke eingekuschelt, auf meiner Veranda. In meiner Hand eine Tasse dampfender Kaffee, vor mir meine allmorgendliche Zeitung. Ich blickte über den Rasen und sah die kleine Katze von nebenan, die sich lauernd auf den Boden gedrückt hat. Vor ihr ihm Gras saß ein kleiner Vogel, der noch nichts von der drohenden Gefahr ahnen konnte. Das Kätzchen springt nach vorne und begräbt den armen Spatz unter ihren Pfoten. Dieser war nicht darauf vorbereite gewesen und lag nun, vor Angst gelähmt, im vom Tau feuchten Gras.
Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Ich erhob mich von der Bank und ging ins Haus.
Wer kann das so früh am Morgen nur sein? Ich erwarte keinen Anruf um diese Zeit.
Ich nehme den Hörer von der Gabel.
"Hallo?"
"Guten Morgen, spreche ich mit der Mutter von Katrin Richter?"
Noch war ich völlig ruhig, Ich konnte nicht ahnen, was jetzt kommen würde.
"Ja, die bin ich. Aber meine Tochter ist nicht hier, sie hat bei einer Freundin übernachtet. Kann ich Ihnen helfen?"
"Hören sie Frau Richter, ihre Tochter liegt bei uns im Luisen-Krankenhaus. Sie hatte heute
morgen einen Verkehrsunfall. Können sie bitte vorbeikommen?"
Seine Worte trafen mich, wie ein Schlag ins Gesicht. Ich musste an den kleinen Vogel denken, wie er da regungslos im Gras gelegen hatte, erstarrt vor Angst.
"Frau Richter?"
" Ja… natürlich… ich komme sofort!"
Ich legte den Hörer zurück auf das Telefon und ging durch die offene Türe auf die Veranda. Doch die Katze und der kleine Vogel waren beide verschwunden. Er hatte wohl nach dem ersten Schrecken all seine Kräfte zusammengenommen, und ist dann davongeflogen.
Er war dem Tod noch einmal entkommen und hatte seine Freiheit wieder gefunden.
Ich spüre wie meine Hände zittern, und kann das Salzige meiner Tränen auf meinen Lippen schmecken.
Ich laufe zurück ins Haus um meine Autoschlüssel zu holen, und mache mich auf den Weg ins Krankenhaus. In der Notaufnahme angekommen, kommt gleich einer der Ärzte auf mich zu.
"Frau Richter?"
"Ja die bin ich."
Ich kann das Zittern in meiner Stimme hören.
"Ich bin Dr. Vetter, wir haben telefoniert."
"Wie geht es meiner Tochter, kann ich sie sehen?"
"Natürlich, sie dürfen gleich zu ihr. Kann ich zuvor kurz mit Ihnen sprechen?"
Der Arzt öffnet eine Tür und führt mich in sein Sprechzimmer.
"Bitte nehmen Sie Platz."
"Was ist mit meiner Tochter?"
Ich musste an den kleinen Vogel im Garten denken, der dem Tod davongeflogen ist.
"Ihre Tochter hatte einen sehr schweren Unfall. Sie hat überlebt, aber… sie kann nicht mehr gehen, ihre Wirbelsäule wurde verletzt."
Ein Vogel mit gebrochenen Flügeln. Wie soll er überleben, wenn er nicht davonfliegen kann?
"Darf ich jetzt zu Ihr?"
"Aber natürlich, ich bringe Sie hin."
Wir verlassen das Arztzimmer und gehen schweigend nebeneinander her, durch den langen Gang der Station.
"Es ist ein tragisches Schicksal, das Ihrer Tochter heute widerfahren ist. Doch auch ein Vogel mit gebrochenen Flügeln kann wieder fliegen lernen, man muss nur an ihn glauben. Er braucht kein Mitleid, sondern Zuversicht. Danken Sie daran, wenn Sie jetzt zu Ihrer Tochter gehen. "
Ich schaue hoch zu dem Mann, aus dessen Mund diese Worte eben gekommen sind.
Was ich sehe ist kein Arzt, sondern einen Menschen. Ein Mensch, der auch schon, einem dem Tode entrungenen Vogel, wieder davonfliegen gesehen hat.
Ich lächle ihn an und öffne die Türe zu deinem Zimmer.
Mein Kind, auch deine Flügel werden wieder heilen, auch du wirst eines Tages wieder fliegen können.
Ich habe es gesehen, erst heute Morgen in unserem Garten. Ein kleiner Spatz hat es mir gezeigt, als er hoch hinauf in den Himmel davongeflogen ist.
Ein kleiner Vogel, der das Unglück nicht kommen sah, hat mir Hoffnung gegeben für das, was ich nicht ahnen konnte, dass es passieren wird.
Danke mein kleiner Freund. Du hast mir durch dein Schicksal, den Schlüssel zur Zuversicht geschenkt. Dein Flug in die Freiheit, er gibt mir die Kraft, die ich jetzt so dringend für meine Tochter brauche. Auch ihre Flügel werden wieder heilen, auch sie wird wieder fliegen können.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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