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Als die Welt stehen blieb

© Vivian Pasquet


Am 15. Mai blieb die Welt stehen. Leise und von der Umwelt unbemerkt. Es war nicht so, dass ein Sturm aufgekommen wäre, oder dass ein Erdbeben die Menschheit erschütterte hätte. Sie blieb einfach stehen, drehte sich nicht mehr - von einem Moment auf den anderen.
Laura saß am großen roten Küchentisch, als sie davon bemerkte. Gerade biss sie in ihr Marmeladenbrot, als ihr Blick auf den Kalender fiel. Er hing über dem Herd und es war einer von den Kalendern, von denen man täglich eine Seite abreißen konnte. Täglich war dann da ein anderer kluger Spruch, ein Rätsel oder ein Witz zu lesen. Sie hatte ihn zu Weihnachten bekommen und irgendwie war sie immer sehr stolz darauf gewesen mit gerade mal 13 Jahren einen eigenen Kalender zu besitzen.
Etwas stimmte nicht. Sie brauchte nicht lange, um zu bemerken, was es war. Auf dem Kalenderblatt war groß die Zahl 15 zu lesen. Darunter stand in schnörkeliger Schrift Mai1993. An für sich nichts Besonderes. Mal davon abgesehen dass man zu dieser Zeit das Jahr 2003 schrieb.
Zehn Jahre war es nun also schon her, dass sie beschlossen hatte, kein weiteres Blatt von
Ihrem Kalender abzureißen. Was war damals nur geschehen? Lange hatte sie nicht mehr darüber nachgedacht und inzwischen waren die Gedanken an diese schreckliche Zeit tief in ihrem Unterbewusstsein verschwunden.
Die Türklingel riss sie aus ihren Gedanken. "Schon wieder so spät", fluchte sie leise, warf noch einen Blick auf den Kalender, schnappte ihren Laptop und eilte die Treppe hinunter.
Das Mädchen saß alleine in seinem Zimmer und wartete. Wartete auf seine Geburtstagsgäste. Tagelang hatte es liebevoll Einladungen geschrieben. Ihre Mutter hatte ihr dabei geholfen, die blumenförmigen Strasssteinchen auf jede einzelne Karte zu kleben. "Liebe/r ….." stand auf jeder Einladung und das Mädchen setzte überall in seiner krakeligen Schrift den passenden Namen ein. Darunter konnte man Ort und Uhrzeit der Feier entnehmen. Als der große Tag endlich gekommen war, konnte es die ganze Nacht nicht richtig schlafen und schon um 8 Uhr morgens musste seine Mutter aufstehen, um mit ihm das Zimmer zu schmücken. Der Vater half nicht mit. Er war nicht zu Hause. Mal wieder. Arbeiten, dringende Geschäft, keine Zeit. Die Bierflasche stand noch auf dem Frühstückstisch. Ein ganz normaler Tag. Ihr sechster Geburtstag.
Als sich die Welt aufhörte zu bewegen, wehte ein schwacher Nordwind. Aus der Richtung , wo die Sonne niemals zu sehen ist. Nur die Vögel schienen das zu bemerken und flogen tiefer, wollten sich von diesem Wind nicht mitreißen lassen. Tiere haben ein Gespür für Unheilsames. Den Menschen scheint das zu fehlen.
Das Auto streikte. Peter hatte ihn von einem Gebrauchtwagenhändler für 300 Euro gekauft. Ein alter VW Golf Baujahr 84. Laura schnaubte entnervt. Ihr Freund hatte anscheinend eine besondere Gabe für das Abschließen unvorteilhafter Geschäfte. Die U-Bahnstation war zum Glück gleich in der Nähe und so fand sich Laura 10 Minuten später in der U1 zwischen einer Horde schwitzender Menschen in Richtung Innenstadt wieder. Es war erst neun Uhr morgens, aber die Sonne brannte schon jetzt erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel hinab. Peter war ungewöhnlich schweigsam. "Vermutlich verflucht er in Gedanken seinen erbärmlichen Geschäftssinn", dachte sich Laura und schaute sich die Fahrgäste um sich herum genauer an. Es machte ihr Spaß, zu erraten, was sie wohl von Beruf waren. Teilweise war es einfach. Der kleine Mann im dunklen Anzug mit den zurückgegelten Haaren war bestimmt ein Bankier und die blonde Frau mit der silbernen Handtasche, die die ganze Zeit nervös ihre Bluse zurechtrückte, schien seine Arbeitskollegin zu sein. Ob die beiden wohl ein Verhältnis hatten? Die Blondine hielt die Hand des Mannes jedenfalls sehr fest umschlungen und Laura meinte, verheißungsvolle Blicke erkennen zu können. Aber vielleicht war der Mann auch gar kein Bankier und die Frau nicht seine Arbeitskollegin. Vielleicht waren es auch zwei Arbeitslose, die auf dem Weg zu ihrer Hausbank waren, um sie davon zu überzeugen, dass sie noch einen Kredit brauchten. Dann waren der Anzug und die silberne Handtasche also nur Maskerade, um die Bankangestellten von ihrer Zahlungsfähigkeit zu überzeugen.
"Nichts ist so, wie es scheint", hatte ihre Mutter früher einmal zu ihr gesagt. "Weißt du Laura", hatte sie erklärt "vor langer Zeit starb die Kuh eines armen Bauern, der nichts hatte außer diesem Tier. Daraufhin fragte der Bauer seinen Schutzengel, warum er das zugelassen hätte. Der Schutzengel antwortete darauf: "Es ist nicht so, wie es scheint, heute Nachte wollte sich der Engel des Todes deine Frau holen, ich gab ihm stattdessen die Kuh." Laura hatte schon damals verstanden, dass sich diese gut gemeinte Geschichte schnell ins Gegenteil verkehren ließ und so hatte sie ihre Mutter gefragt: "Und was ist, wenn mal irgendwo auf der Welt die Frau eines Bauers stirbt und die Kuh am Leben bleibt? Ist es denn nicht so, dass es oft vorkommt, dass eine Kuh für wichtiger als eine Ehefrau empfunden wird?"
Als Laura an dieses Gespräch zurückdachte, kamen ihr die Gedanken vom heutigen Morgen wieder in den Sinn.
Zehn Jahre war es nun also her, als ihr klar geworden war, dass die Welt nicht immer gerecht war.
Das Mädchen hatte lange gewartet und letztendlich kamen von den eingeladenen Gästen tatsächlich nur zwei. Das Telefon klingelte oft an diesem Tag, der ihr sechster Geburtstag war. Viele der eingeladenen Kinder waren plötzlich krank geworden. Und die Eltern entschuldigten sie. Dem Mädchen entgingen nicht die Tränen ihrer Mutter, die sie weinte, als sie ihm eine Absage nach der anderen mitteilte. Aber es wollte nicht traurig sein und so verbrachte es seinen Geburtstagsachmittag mit den zwei Kindern, die gekommen waren - und den 11 Stück Kuchen, von denen eigentlich jeder kleine Gast eines hätte bekommen sollen.
Die Kinder waren natürlich nicht krank gewesen. Aber das wollte das Mädchen nicht wissen. Dass der Vater schwer alkoholabhängig war, war im Dorf bekannt. Auch dass er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte, wenn er etwas getrunken hatte, wussten die Eltern der anderen Kinder und das erklärte auch, weshalb der sechste Geburtstag der letzte des Mädchens in einer - wenigstens auf dem Schein- intakten Familie sein sollte.
Ein Jahre später war der Vater weg. Durchgebrannt mit einer Kuh. Die Kuh war 15 Jahre jünger als die Mutter des Mädchens und kam aus Österreich.
"Nicht immer zieht man die eigene Ehefrau der Kuh vor", sagte Peter. Und da merkte Laura, dass ihre Gedanken zu Worten geworden waren. Es waren nicht viele Worte gewesen, aber Peter hatte sofort verstanden, worum es ging. Das Mädchen war Laura gewesen.
Es war Laura, die ihren sechsten Geburtstag alleine mit zwei Gästen und elf Kuchenstücken gefeiert hatte. Eine schlimme Erinnerung, die sich tief in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Aber dennoch war sie nicht daran verzweifelt. Selbstmitleid war nie ihre Sache gewesen und letztendlich war sie mit sechs Jahren auch zu jung, um zu verstehen.
Aber als die Welt stehen blieb, war sie alt genug, um zu verstehen. 15.Mai 1993 - sieben Jahre nach ihrem sechsten Geburtstag.
Es ging nicht um die geplatzte Geburtstagsfeier, nicht um die vielen Stunden, die Laura sich um ihre traurige Mutter kümmern musste. Es ging nicht darum, dass ihr Vater vier Jahre später von seiner neuen Frau verlassen wurde. Und es ging auch nicht darum, dass er von nun an noch mehr trank und die gemeinsamen Treffen jedes Mal in einer kleinen Katastrophe endeten. Vielleicht ging es ein bisschen darum, dass dem Vater nun des Öfteren die Hand ausrutschte und er auch mal den einen oder anderen Wutanfall bekam, wenn man sich sah.
Aber vielmehr ging es um ihre Mutter. Seit der Trennung des Vaters, hatte sie kaum mehr von ihm gesprochen. Stattdessen stand da nun dieses große Bild von ihm im Wohnzimmer auf der Kommode. Wie ein heiliger Schrein.
"Ich hätte merken müssen, dass sie nicht über ihn hinweg kommt", sagte Laura. Sie waren an der nächsten Haltestelle ausgestiegen. Viel zu früh. Die Kunsthochschule musste heute ohne sie auskommen. Laura hatte ihre Gefühle nicht mehr im Griff. Langsam kamen ihr die Tränen. Unbemerkt. Erst wurden ihre Augen nur ein wenig feucht und kaum, dass sie es wahrgenommen hatte, flossen sie schon in Strömen ihr Gesicht hinunter. Es war ihr peinlich. Sie blickte sich um, wollte sich vergewissern, dass niemand sie sah. Die Menschen, die vorbeieilten, kümmerten sich nicht darum. Sie hatten ihre eigenen Probleme. So ist das auf der Welt. Jeder kümmert sich um sich, und niemand merkt, wenn sie sich aufhört zu drehen.
Es war eben dieser Tag im Mai 1993. Das Telefon klingelte und das Mädchen nahm den Hörer ab. "Ich bin's", lallte eine vertraute Stimme. Der Vater. Er wollte die Mutter sprechen. Das wollte er noch nie. Niemals, nicht ein einziges Mal in den letzten sechs Jahren. "Für dich, es ist Papa", sagte das Mädchen, sagte die kleine Laura, und drückte ihrer Mutter den Hörer in die Hand.
Als das Telefonat beendet war, stürmte die Mutter in Lauras Zimmer. "Er kommt zurück!", rief sie erfreut aus. Erfreut. Ihre Wangen färbten sich rot vor Glück. "Hörst du Laura, er kommt wieder. Papa kommt nach Hause! Sie hatte gehört. "Aber du wirst ihn doch nicht hereinlassen?", fragte sie zögerlich. "Natürlich kommt er herein und noch mehr, er wird wieder hier wohnen, er hat erkannt, wo sein Platz ist!", bekam sie zur Antwort.
Das Mädchen war wie betäubt, dachte an die schreckliche Zeit zurück. An die Schläge des Vaters. "Wenn er wiederkommt, werde ich gehen!", hörte es sich rufen. Da stand Laura, mit ihren dreizehn Jahren. Ein Kind. Ein trotziges Kind, das seine Mutter vor einem großen Fehler bewahren wollte. Und dann…
"Verstehst du Peter?", Laura schluchzte. "Sie hat ihn wieder in unser Haus gelassen. Diesen schlechten Menschen!" "Sie hat ihn geliebt", versuchte Peter eine Erklärung zu finden. "Natürlich hat sie das! - Mehr als mich!"
An diesem Tag blieb die Welt stehen. An diesem Tag im Mai, als die Mutter aufhörte, für Laura Alles zu sein. Als das Mädchen, mit seinen zarten dreizehn Jahren erkennen musste, dass die Mutter den Vater ihr vorzog. An diesem Tag, als sich die Mutter entschied, ihr altes Leben nicht ruhen lassen zu können. Als sie zurückfiel - um Jahre. Als der Vater am Abend vor der Türe stand, betrunken. Und die Mutter ihn einließ, ihn abküsste und Laura ins Bett schickte.
An diesem Tag, fing Laura an, kein Kind mehr zu sein.
Immer wenn ein Kind zu schnell erwachsen wird, bleibt die Welt, eine kleine Kinderwelt, für einen kurzen Moment stehen, dreht sich nicht mehr. Das Unheilsame wird nicht bemerkt, weil es nur um Bruchteile von Sekunden geht. In dem Moment, in dem ein Kind zu früh aufhört, Kind zu sein, steht alles für eine kurze Zeit still. In dem Moment, in dem ein Kind seine unbeschwerte Leichtigkeit verliert und die Welt plötzlich aus den Augen einen Erwachsenen sieht, bleibt sie stehen und nichts kann zu diesem Zeitpunkt etwas daran ändern.
Die Welt begann sich wieder zu drehen. Auch für Laura. Für die Mutter war es zu spät. Für den Vater auch.
"Die beiden werden wohl zusammen sterben ohne, dass meiner Mutter die Bedeutung von wahrer Liebe klar geworden ist", stellte Laura resigniert fest. Auch sie hatte damals nicht bemerkt, dass die Welt für einen kurzen Moment stillstand. Erst jetzt - zehn Jahre später. Manchmal braucht es viel Zeit, bis man versteht. "Es war ihre eigene Entscheidung, sie hat ihren Weg gewählt", erwiderte Peter. Er hatte sie nach Hause gebracht. Den Kalender hatten sie abgehängt.
-Leise und von der Umwelt unbemerkt.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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