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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Erleuchtung im Nebel
© Max Wyss
Hier möchte ich bleiben, in seinen Armen, mit dem Rücken an seine Brust gelehnt. Der morgige Ausflug in die Berge ist seine Idee. Das Sofa hält uns beide. Seine Wange an meiner Schläfe ist stopplig rau; die Narbe an seinem Kinn bringt meine Fingerspitzen zum kribbeln. Spricht nicht viel.
Abfahrt im Nebel; er kam von der Piste ab, endete in einer Felsenschlucht. Mein geliebtes Narbengesicht.
Kochen für zwei, besser als alleine essen. Suppentopf braucht Löffel. Vorsicht, Bratenplatte ofenheiß. Salat mischen. Er hat eine Flasche Merlot geöffnet. Schön, wie die Gläser beim Anstoßen klingen.
"Auf unsere Zukunft, Liebster."
Vielleicht könnte eine Familie um diesen Tisch aufwachsen.
Sein Lächeln ist kühn. Sein Knie fand meines, unterm Tisch.
Optimismus ist seine Stärke. Die Pläne für unser Wochenende sind ein bisschen einschüchternd.
"Aber bedenke, ich kenne nur Abfahrt und gewöhnlichen Langlauf. Ich war noch nie auf einem Gletscher.- Eine Bagatelle? Na, ich kann's versuchen."
Das Paar Gletscherski reicht nicht mal halbwegs vom Sofa zum Fernseher. Er passt die Bindungen an. Offenbar eine Bagatelle. Gerechte Arbeitsverteilung: Er macht die Ausrüstung fertig, ich wasche ab, räume auf. Im Bett teilen wir die Arbeit auch. Es währe schön das Vorspiel ein bisschen auszudehnen. Er ist so ungestüm, mein Narbenbaby, will gleich zur Hauptsache kommen. Wie wär's, wenn ich keine Verhütung mehr-. Will ihn gelegentlich mal fragen.
"Du Lieber, könntest Du mir helf-?"
Schoen, dass er versteht ich mag seine Zunge am liebsten, seinen Wollkopf zwischen meinen Schenkeln.
**********
Am Morgen sind Kaffee und Croissants schnell erledigt.
Schwer zu sagen, wie das Wetter wird, zu dieser grauen Stunde. Liste abchecken: Ski, Stöcke, Felle, Seil, Steigeisen, Proviant, Skibrille, Sonnenbrille, Kamera. Was noch? Schwierig all dies Zeug in seinem winzigen Fiat zu verstauen. Kaum Verkehr zu dieser frühen Stunde. Ampel wechselt automatisch auf Grün, man muss sich nur langsam nähern. Das kann er nicht. Fährt zu rasant, dann muss er anhalten, nur um nachher wieder zu beschleunigen. Von der Autobahn aus sieht man erste Blumen: Schneeglöckchen, Primeln.
Wenigstens rast er nicht. Ein verlässlicher Pilot, mein Narbenbaby.
Bei der Ausfahrt verschwinden Felswände in die Wolken hinauf. Unter der Brücke rollt der Wildstrudel Steine zu Tal. Eis säumt noch das Ufer. Talsohle hinter uns, klettert das Miniauto die Bergstraße hoch, eine Kehrwende nach der anderen. Wattengroße Schneeflocken erschweren die Sicht.
Zum Glück kann er die weiße Straße von der weißeren Böschung unterscheiden. Hier sind wir: Das zugefrorene Seelein auf dem Pass.
"Wie hoch sind wir? Ist dies der Höhenmesser? Nicht ganz zweitausend Meter."
Er stellt das Barometer nach der Höhe ein und steckt es in den Rucksack. Die Ski sind schon von einem Zentimeter Schnee bedeckt. Schlechte Sicht; wir müssen die gelben Linsen in die Brillen setzen. Mein Rucksack ist nicht zu schwer. Hände mit Handschuhen passen eng durch die Stockriemen.
"Sollten wir das Auto abschließen?"
Narbenkinn in seinen Spuren zu folgen, ist leicht. Die Felle an den Skiern hindern das Gleiten nur mäßig. Der Neuschnee liegt wadentief. Unser Atem bildet in regelmäßigen Intervallen eine Wolke. Stille und Nebel umhüllen uns. Er wählt seinen Pfad mit Erfahrung; passt die Steigung dem Hang an. Ebenmäßige Schritte bringen uns höher und höher.
"Was ist das, Narbenbaby? Höre ich Stimmen?"
Die Männer stehen bis zu den Hüften, bis zur Brust fast, im Schnee und schaufeln. Ein Tunneleingang gähnt hinter ihnen aus der Wand. Warum schreien sie? Sie zerren etwas Dunkles aus den Schneemassen: Einen Mann in Überkleidung! Die Wiederbelebungsversuche führen zu nichts. Sie schleppen den Toten zur Kantine bei der Felswand.
"Du willst weiter!? - Die nächste Lawine wird uns begraben! - Keine nächste? Diese hat den ganzen Schneevorrat verbraucht?
- Und was ist mit dem Vorrat, der aus den Wolken fällt?"
Ein kleiner Imbiss gibt neue Kraft, aber keinen neuen Mut.
Er will weiter. Sicher, wie ein Kinderspielplatz! Also schultern wir die Rucksäcke, schnallen die Skier an. Wir steigen im Zickzack, genau die Runse hoch, in der die Lawine vor einer Stunde herunterkam! Angespannte Nerven erwarten den Donner der nächsten Lawine. Mit den Ohrenklappen der Mütze hochgestellt kann ich besser hören. Mein Gott, was ist das für ein drohendes Rumpeln?! Mit jedem Schritt wird es lauter! Meine Füße senden ein Prickelsignal, meine Knie wollen nicht mehr, mein Magen ist ein Loch!
Ich hole Narbengesicht ein, tappe auf die Enden seiner Ski, will ihn im Tiefschnee überholen!
"Hau ab! Renne! - Das Rumpeln! Hörst du es nicht? - Nur ein Wildbach? Unter der gefrorenen Oberfläche?"
Stimmt. Das Geräusch nimmt mit jedem Schritt ab und die Stille kehrt zurück. Wir müssen sorgfältig die Steigung des Terrains mit den Konturen der Karte vergleichen. Kann nichts sehen, nur Nebel. Wie hoch sind wir jetzt? Ungefähr 800 Meter aufgestiegen. Sollten auf der Höhe der Hütte sein. Wo ist der Felsüberhang, der sie schützt? Es scheint, Narbengesicht weiß auch nicht, was tun. Ich bin es müde, durch den tiefen Schnee zu pflügen, hin und her über den Grat. Wo steckt er jetzt? Die Wolken haben ihn
verschlungen.
"Hallo Narbenbaby! Wo bist du?"
Der Nebel ist wie Watte, verschluckt jedes Geräusch.
Vielleicht ist er in diese Richtung gegangen. Nein, zu steil. Besser von diesen zackigen Felsen wegbleiben. Jener Stein sieht seltsam aus. Der Nebel lichtet und ballt sich.
Es ist kein Felsen, ein Kamin. Die Hütte liegt unter meinen Füßen! Unglaublich. Hier hat jemand zur Tür hinunter gegraben. Der Neuschnee blockiert sie. Er hat die Schaufel. Vielleicht schaff ich's mit den Skiern.
Kerosinlaternen sauber im Eingang aufgereiht. Zündhölzer.
Tisch, Bänke, Wände, aus roh gehauenem Holz. Ein Ofen, Bündel von Brennholz. Eine Preisliste und Hausordnung an der Wand. Der Schlafraum hat Kojen, zweistöckig. Soll ich ein Paar Filzpantoffeln anziehen, oder nach Narbenkinn suchen?
"Juhuuuu! Hierher!"
Keine Antwort. Der Nebel ist wie Watte, hat ihn verschluckt. Kann nichts tun als warten, hoffen. Er wird die Hütte finden. Was, wenn nicht? Er hat die Karte.
Meinen Weg zurückzufinden, ausgeschlossen. Ein Feuer? Der Brennholzpreis ist ziemlich hoch. Na, in Gottes Namen, könnte mein letztes Feuerchen sein. Werde wenigstens warm sein, wenn ich abstürze. Wo steckt er bloß? Kann nicht weit sein. Oder ist er schon über eine Felswand -? Nein. Das nicht. Nicht dort draußen im Schnee zu Tode bluten! Nein, schüttle diesen Alptraum ab. Mach ein paar Hausaufgaben inzwischen. Hier ist das Kapitel, das ich lesen sollte - vergiss es. Konzentration unmöglich. Es dunkelt.
Patience spielen. Wenigstens wird es etwas wärmer. Das Feuer frisst die Scheite schnell. Diese Patience geht nicht auf.
Vielleicht darf man in einer solchen Situation ein bisschen mogeln. Wenn ich nur nicht so müde wäre. Hinlegen für einen Augenblick tut gut.
**********
Dunkel, Rumoren. Wo bin ich?
"Liebling, bist du das?" Gott sei Dank, er hat die Hütte gefunden. "Wo warst du denn die ganze Zeit? - Mich suchen?
Aber ich war doch hier. - Na, das tut mir aber leid. Du warst plötzlich verschwunden. Kaum mein Fehler. Lass uns etwas essen, mir knurrt der Magen."
Der Ofen ist jetzt heiß. Schnee schmelzen, unsere Getränke sparen. Draußen ist's kalt. Nacht bricht ein. Haufen Schnee schmilzt zu ganz wenig Wasser. Narbengesicht ist nicht besonders guter Laune. Im Strohbett hält ein Berg von Wolldecken uns warm. Seine Hand schleicht sich auf meine Brust.
"Nicht jetzt. Bin zu müde. Zu hause wieder. Gute Nacht."
**********
Narbengesicht ist schon auf.
"Wie schaut das Wetter aus?"
Wolkenloser Himmel, Sonne noch nicht aufgegangen. Wichtig, vor Sonnenaufgang zu starten, um den Lawinen zuvorzukommen.
Hör auf damit; kein Lawinengeschwätz. Okay, okay, beeilen.
Aufräumen, Decken falten, Gästebuch unterschreiben.
"Bin bereit."
Rucksack geschultert, Ski und Stöcke in den Händen, aus dem Schneetunnel klettern. Wieder in seinen Spuren folgen.
Horizontal dem Hang entlang, dann ein bisschen bergab.
"Wozu die Eile?"
Ja, das dachte ich mir. Lawinengefahr! Verdammt steil zur Linken. Zu oberst kragt blaues Eis über die Felsen heraus.
Ach, dort kommen also die Eisblöcke her, die uns hier im Wege liegen. Dieser Kitzel krabbelt wieder von den Füßen hoch.
Eisblöcke von Hausgröße über unseren Köpfen auf der Felskante balancierend. Vorwärts und vorbei, so schnell wie möglich.
Sonne noch nicht auf. Kalt, aber ich schwitze. Wir müssen bei Zeiten aus diesem Südhang hinauskommen. Gott sei Dank erreichen wir endlich den Gletscher.
"Was ist mit diesen Gletscherspalten? Sollten wir nicht anseilen?
Nur nicht in den grünen Abgrund schauen? Wie soll das helfen, wenn wir auf eine zu schwache Schneebrücke treten? - Das soll mich beruhigen, dass du zuerst drankommst?"
Haben die gähnenden Spalten endlich hinter uns. Um vom Gletscher in den Nordhang zu kommen, müssen wir die Ski ausziehen. Keinen Fehltritt jetzt, dieser Abriss klafft gehörig. Endlich in Sicherheit, für den Augenblick. Sonne wärmt jetzt den Hang, den wir gerade noch traversierten und da passiert es schon: Schneebrett gleitet über die Spur, die wir gelegt hatten. Zum Glück sind wir hier im Schatten. Und jetzt eine ordentliche Lawine, die unsere Spur zerreißt!
Gott, wie soll das weitergehen?
Der Gletscher im nächsten Tal breitet sich glatt vor uns aus. Keine sichtbaren Spalten. Er will zuerst noch aufs Adlerhorn, dort drüben. Dreitausend siebenhundert und fünfundachtzig Meter hoch. Klassische Spitze. Eine Teleaufnahme von der Spitze allein, und eine mit Breitwinkel:
der Gletscher vor dem Horn und Narbengesicht im Aufstieg.
Dann noch schnell eine Dokumentaraufnahme der sechs Lawinen, die unsere Spur von heute früh verschüttet haben. Um zum Sattel zu gelangen, müssen wir diesen Steilhang durchqueren.
Bin froh, wieder bei ihm zu sein. Traue der Sache nicht so recht. Er wählt den kurzen Weg in der Sonne.
"Liebling, sollten wir nicht besser da drüben im Schatten aufsteigen? - Na ja, diese Seite ist eine Abkürzung, aber -"
Gottfriedstuznochmal, bis jetzt hielt der Schnee, aber hier scheint er bodenlos, körnig, kein Halt -"Aaaaaaaah!" Himmel, wir sind mitten drin, der ganze Hang bewegt sich, gleitet abwärts, bleibe oben, fahre mit, Ski werden zu U-Booten aus Blei, tauchen ab, ziehen hinunter, bis zu Knien drin, Rücklage, kann Spitzen nicht hochkriegen, Gleichgewicht schwierig, Beine verschwinden, wie Zement über den Hüften schon! Wow, es hat gestoppt.
Narbenbaby? Er liegt auf der Seite, nur sein halbe Gesicht zu sehen. Dummkopf muss jodeln, sobald er den Schnee aus dem Mund gespuckt hat.
"Sei still! Bringst noch den Rest des Berges auf uns herunter!"
Ausgraben. Beine, dann Füße. Schnee ist zusammengepresst.
Muss Bindungen öffnen, Füße befreien. Kann jetzt nach Skiern graben. Welch Glück am Leben zu sein, den sonnenüberstrahlten Bergkranz sehen zu dürfen. Narbenkinn gräbt immer noch. Gibt auf, opfert einen Stock, kann ihn nicht finden. Spinnt wohl, will immer noch aufs Adlerhorn.
Wenn es unbedingt sein muss, aber via Schattenhang diesmal.
Es klappt. Aufstieg, ohne Ski, auf allen Vieren über den felsigen Grat. Selbstauslöserfoto von uns beiden, die Granitspitze reitend, dann zurück zum Sattel. Die Felle haben wir abgenommen, die Bindungen eingehakt. Er springt zuerst über die windgeblasene Wechte. Verschwindet aus meiner Sicht, und dann, weit unten, erscheint er wieder. Mit Skiern fest geschlossen zeichnet er S nach S-Figur in die unberührte Schneedecke des Gletschers. Ich habe keine Wahl, ein Sprung ins Ungewisse, Unsichtbare durch die
Wechte, die ins Leere zusammenbricht. Landung ist weich. Wenigstens weiß ich, wie man einen Steilhang voller Pulverschnee fährt.
Wunderbar, so leicht. Die Ski gehorchen, unter der Oberfläche. Sie schwimmen, ich tanze, fliege und schreibe ein Gegen-S für jede seiner S-Figuren. Da steht Narbenkinn mit der Kamera. Ich übersprühe ihn mit einer Schneedusche.
Ein milchsilbriger Bach sprudelt aus dem glasblauen Innern der Gletscherzunge. Der Neuschnee unterhalb des
Gletscherendes hat keine Basis. Steine kratzen die
Laufflächen der Skis auf. Abschnallen und tragen. Einzige Lösung. Ermüdender Abstieg. Egal. Wir haben's geschafft, wir sind am Leben! Eine schmale Schotterstraße führt entlang des Flüsschens zum Haupttal. Ein Laster mit einer Ladung von Baumstämmen nimmt uns mit. Zusammengequetscht, zu dritt auf dem Sitz, hoch über der Straße: Geborgenheit! In der Dorfkneipe schmeckt Glühwein besser als Ambrosia. Okay, versuche, per Anhalter auf den Pass zu kommen, um das Auto zu holen, oder bezahle einen Dörfler, dich
hinzufahren. Ist mir egal. Noch einen Glühwein, während Narbenkinn seinen Fiat holt. Da kommt er, gerade recht für ein Nickerchen. Ein Nickerchen auf der Fahrt nach Hause.
Die Straßenschluchten sind dunkel. Menschengewühl und Lichter im Zentrum. "Narbenkinn, würdest du bitte bei mir vorbeifahren? - Ja, bei meiner Wohnung."
Auf dem trockenen Trottoir vor meiner Wohnung bin ich sicher. "Danke für dieses Abenteuer und für alles Schöne, das wir zusammen erlebt haben. Hier sind die Schlüssel zu deiner Wohnung, ich werde sie nicht mehr brauchen."
Sein Kinn wird lang, und seine Augen blinzeln leer. Hat keine Ahnung, will diskutieren.
"Vergiss es, ich will, dass meine Kinder mindestens für ein bis zwei Jahrzehnte einen Vater haben werden. Gute Nacht."
Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.